Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Juni 2016

Ehrfurcht

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Ehrfurcht ist die Verbindung von zurücktretender Scheu und hindrängender Liebe, also scheue Liebe und liebende Scheu. Sie ist gleichfern von der Fluchtbewegung der Furcht und von der taktlosen Verletzung der Distanz. Furcht im Zusammenhang mit Ehrfurcht ist immer im Sinne von Scheu und Zurückhaltung zu verstehen. Die Nähe entsteht aus dem Wert des Gegenstandes, von dem eine Anziehung ausgeht. Die Distanz besagt den Abstand von dem verehrten Gegenstand aus Scheu, ihn zu verletzen. Ehrfurcht ist eine Tugend, also eine innere Haltung, aber diese Tugend muss sich auch nach außen beweisen. Ohne äußere Ehrfurcht stirbt die innere Ehrfurcht. Wer Ehrfurcht besitzt, geht mit der Wirklichkeit ehrfürchtig um. Der Gegenstand der Ehrfurcht ist alles Sein, über uns, neben uns und unter uns und sogar wir selbst.

Die Haltung der Ehrfurcht geziemt dem Menschen an erster Stelle Gott gegenüber. Gott ist das absolute Sein, der erhabene Schöpfer, der Herr des Himmels und der Erde. Wenn der Mensch sich ihm naht, muss dies in ehrfürchtiger, in ehrerbietiger Haltung geschehen. Als Gott im brennenden Dornstrauch zu Moses sprach, da gebot er ihm: „Ziehe die Schuhe von deinen Füßen; denn das Land, auf dem du stehst, ist heiliges Land.“ „Ein Sohn muss seinen Vater ehren“, heißt es beim Propheten Malachias, „ein Knecht seinen Herrn. Wenn ich nun Vater bin, wo ist eure Ehrung? Wenn ich Herr bin, wo ist eure Furcht vor mir?“ Ehrfurcht ist angebracht vor der sittlichen Pflicht, vor den Geboten, denn sie stammen von Gott. Mit den Geboten Gottes kann man nicht spielen. Ehrfurcht fordert die Heiligung des Namens Gottes. „Herr, lass uns deinen heiligen Namen zugleich lieben und fürchten“, betet die Kirche in einer Oration. Ehrfurcht geziemt dem gottgeweihten Hause. Die Muslime ziehen die Schuhe aus, wenn sie die Moschee betreten, und die Moschee ist kein Gotteshaus, sondern ein Versammlungsort und eine Gebetsstätte. „Ihr sollt Ehrfurcht haben vor meinem Heiligtum“, heißt es im 3. Buch Moses. Wer zu Gott hintritt im Gebet, im Gottesdienst muss ehrfürchtig gesinnt sein. Das Geschehen der heiligen Liturgie muss von Ehrfurcht geprägt sein. Allein die Ehrfurcht ist die angemessene Haltung im Gottesdienst. Ehrfurcht richtet sich auf das Geheimnis des Glaubens in seiner vielfältigen Gegenwart: in der Heiligen Schrift, im Gesang und Gebet, in Brot und Wein. Ja, heilig ist das Wort Gottes. Wenn der Priester im Hochamt feierlich das Wort Gottes verkündet, dann wird das Evangelienbuch beräuchert zum Zeichen der Ehrfurcht, und der Priester küsst es als Ausdruck der Ehrfurcht. Im Besonderen geziemt selbstverständlich die Ehrfurcht dem Leibe des Herrn. Ihm kann man nur in Anbetung und Liebe, in tiefer Unterwürfigkeit begegnen. Unser Glaube lehrt uns die Ehrfurcht vor Gott.

Er lehrt uns an zweiter Stelle die Ehrfurcht vor dem Menschen. Der Mensch ist nämlich ein Geschöpf Gottes; der Mensch ist ein Tempel des Heiligen Geistes. Ein Mensch mag noch so sehr heruntergekommen sein; Ehrfurcht muss auch ihm bewiesen werden. Auch der behinderte, der geistesgestörte Mensch ist mit Ehrfurcht zu behandeln. Wer beruflich mit Menschen zu tun hat, muss ihnen mit Ehrfurcht begegnen. Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst, Lehrer und Erzieher, Ärzte und Priester; sie alle sind gehalten, die ihnen anvertrauten Menschen ehrfürchtig zu behandeln. Die Ehrfurcht wehrt der Aufdringlichkeit, der Neugier, der plumpen Vertraulichkeit. Ehrfurcht, meine lieben Freunde, ist auch in der Liebe unbedingt notwendig. Liebe ohne Ehrfurcht hat keinen Bestand. Liebe, die nicht von Ehrfurcht durchwoben ist, ist entweder nicht echt oder nicht dauerhaft. Keiner liebt wirklich einen anderen, wenn er nicht eine gewisse Ehrfurcht gegen ihn fühlt. Auch Freunde können nur auf Dauer verbunden bleiben, wenn sie durch das Band der Ehrfurcht miteinander verknüpft sind. Freundschaft kann nicht bestehen ohne Ehrfurcht voreinander.

Unter allen Menschen stehen uns die Eltern am nächsten; ihnen verdanken wir unser Dasein. Wir sind ihnen zu Dankbarkeit, Gehorsam und Ehrfurcht verpflichtet. Die Eltern sind in gewisser Hinsicht die Stellvertreter Gottes. Ein eigenes Gebot schärft die Ehrfurcht vor den Eltern ein: „Ehre Vater und Mutter, auf dass du lange lebest in dem Lande, dass der Herr dir geben wird!“ Die Ehrfurcht vor den Eltern kann nicht von deren guten Eigenschaften abhängig gemacht werden, sie ist immer gefordert. Auch Eltern, die ihre eigene Würde vergessen, haben Anspruch auf Ehrfurcht: ein Vater, der ein Trinker ist, eine Mutter, die ihre eheliche Treue verletzt. „Verflucht ist, wer Vater und Mutter nicht ehrt, und alles Volk spreche: So sei es!“, so steht im 5. Buch Moses. Die Kinder müssen deswegen zur Ehrfurcht vor den Eltern erzogen werden; das ist eine der wichtigsten Aufgaben der Pädagogik. Und es ist eine alte Erfahrung: Wer seine Eltern ehrt, der wird auch von seinen Kindern geehrt.

Ehrfurcht braucht es gegenüber dem Kind. Jedes Kind, das geboren wird, bringt von Gott die Botschaft mit, dass er noch nicht an der Menschheit verzweifelt. Die Augen des Glaubens erblicken in jedem Kind ein Geschenk Gottes, ein Unterpfand der göttlichen Liebe, eine Kapelle des Heiligen Geistes. Ja, die Augen des Glaubens sehen einen leuchtenden Stern auf dem Haupt eines getauften Kindes. Der heidnische Dichter Juvenal fordert höchste Ehrfurcht vor dem Kinde. Die Seele eines Kindes ist heilig, und was vor sie gebracht wird, das muss wenigstens den Wert der Reinheit besitzen. Die Ehrfurcht vor dem Kind muss uns Erwachsene veranlassen, jedes Wort zu überlegen, das wir im Beisein eines Kindes aussprechen. Wenn das Kind auch manches noch nicht versteht, es behält es in sich, und später wird ihm aufgehen, was ihm einer gesagt hat. Erziehen ohne Ehrfurcht ist ausgeschlossen. Zuerst muss ein Erzieher um den Wert und die Würde seiner Zöglinge wissen, bevor er daran geht, ihr Wesen zu formen. Ein großer Pädagoge hat einmal gesagt: „Es gibt nur zwei Erziehungsgrundsätze: Ehrfurcht vor seinen Kindern haben und konsequent sein.“ Ehe man ein Kind anfasst, sollte man sich waschen, auch innerlich.

Ehrfurcht ist unerlässlich gegenüber der Frau. Im Denken, Reden und Handeln muss im Mann eine heilige Scheu vor der Frau sein. Wohlwollen und Verehrung müssen ihn bestimmen. Wenn die Männer die Frauen so ehren würden, würde das Antlitz der Erde wahrlich erneuert. Die Frau ist Person und will zur Persönlichkeit werden, sie besitzt Geist und Gaben, sie ist dem Manne ebenbürtig, ja, in mancher Hinsicht überlegen. Der indische Weise Mahatma Gandhi hat einmal gesagt: „Das weibliche Geschlecht ist nicht das schwache Geschlecht, sondern das edlere der beiden. Denn noch heute verkörpert es das Opfer, das stumme Leiden, den Glauben und das Wissen. Die Intuition der Frau ist oft viel richtiger als der anmaßende Eigendünkel des Mannes. Der Mann muss daher die Frau hochachten“, so Mahatma Gandhi. Es gibt Menschen, die sich Beziehungen zwischen Mann und Frau nur auf der geschlechtlichen Ebene denken können. Diese Sicht ist falsch, verderblich, entwürdigend! Die Ehrfurcht verbietet, in der Frau zuerst oder gar allein das Geschlechtswesen zu sehen. Die Frau verdient Achtung und Ehrerbietung, Verehrung und keusche Liebe. Es ist möglich, die Frau zu lieben, ohne sie zu begehren. Es ist möglich, die Frau zu lieben, ohne sie zu erniedrigen. Mit Ehrfurcht müssen die Menschen also vor allem der Ehe begegnen, der Vorbereitung auf die Ehe und dem Leben in der Ehe. Kein Geringerer als Friedrich Nietzsche lehrt es uns. „Ehe“, so schreibt er einmal, „heiße ich den Willen zu zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen. Ehrfurcht voreinander nenne ich Ehe als vor den Wollenden eines solchen Willens. Dies sei der Sinn und die Wahrheit deiner Ehe.“ Ehrfurcht oder Geringschätzung des ehelichen Bundes entscheiden über die Sittlichkeit eines Volkes. Lassen wir uns von einer bewährten Ehefrau sagen, was von der Ehe erwartet wird, von der Kaiserin Maria Theresia: „Alles Glück der Ehe besteht im gegenseitigen Vertrauen und Entgegenkommen. Die törichte Liebe vergeht bald, aber man muss einander achten und dienen.“ Leider mangelt es in nicht wenigen Ehen an Ehrfurcht der Gatten voreinander. Eine Dame sagte mir einmal: „Ich habe den Eindruck, dass mein Mann bei der ehelichen Einigung nur sich selbst sucht.“ Die Frau ist keine Spielpuppe der Leidenschaft; die Frau ist eine Schwester der Mutter Gottes. Der Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer hat einmal einen Traum geschildert, den er hatte. Er sah im Traum seine verstorbene Frau vor dem Tor des Himmels unaufhörlich ihre Füße waschen:

„Du wuschest, wuschest ohne Rast

den blendend weißen Schimmer,

begannst mit wunderlicher Hast

dein Werk von neuem immer.

Ich frug: Was badest du dich hier

mit tränennassen Wangen?

Du sprachst: Weil ich im Staub mit dir,

so tief im Staub gegangen.“ 

Ehrfurcht, meine lieben Freunde, braucht es auch vor sich selbst, vor der eigenen Seele, vor dem eigenen Leib, vor dem Auftrag, den Gott uns gegeben hat, und vor der Bestimmung, die er uns geschenkt hat. Der Glaube an den Heiligen Geist lehrt uns die Ehrfurcht vor uns selbst. „Wisst ihr nicht“, schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth, „dass eure Glieder ein Tempel des Heiligen Geistes sind, der in euch ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört? Um hohen Preis seid ihr erkauft, verherrlicht Gott in eurem Leibe!“ Im Epheserbrief kommt er noch einmal auf dieses Thema zu sprechen und mahnt die Gemeinde: „Betrübet nicht den Heiligen Geist Gottes, in dem ihr besiegelt seid für den Tag der Erlösung!“ Und deswegen, meine lieben Freunde, muss Ehrfurcht unser ganzes sittliches Leben als Grundhaltung tragen. Wer Ehrfurcht vor sich selbst hat, der meidet in seiner Seele, in seinen Gedanken, Wünschen und Entschlüssen alles Schäbige, das ihn verunstalten könnte: Geiz, Neid, Stolz, Schadenfreude, Unehrlichkeit, Eigennutz. In uns muss ein starker Widerwille gegen alles Niedrige, Minderwertige, Schändliche sein. Wenn den heiligen Stanislaus Kostka die Versuchung anfiel, dann sprach er zu sich selbst: „Ich bin für Höheres geboren.“ Die Ehrfurcht, meine lieben Freunde, ist in Deutschland infolge der ungezügelten Meinungsfreiheit in einer schwachen Lage. Das gilt besonders für die Achtung vor der Religion. Mit dem religiösen Glauben haben die Menschen die Ehrfurcht verloren. Als der Papst in Köln weilte, da warfen Feministinnen von einem hohen Haus Hostien herunter, um gegen den Papst zu protestieren. Eine Firma warb für Jesus-Jeans mit dem Slogan: Du sollst keine anderen Jeans neben mir haben. Noch immer, meine lieben Freunde, gilt Gottes Gebot: „Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren!“ Wer ehrfurchtslos mit Gott umgeht, der entwertet sich selbst. Und die Ehrfurcht, die wir vor anderen haben, die wir anderen erweisen, macht uns selbst edel und rein. Ehrfurcht ist der Angelpunkt der Welt. 

Amen.

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