Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
12. Februar 1995

Die Zeit der Bekanntschaft vor der Ehe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Vergleich der Jahreszeiten mit dem menschlichen Leben liegt nahe. Man kann den März mit der Kindheit vergleichen. Die Keimlinge liegen in der Erde und harren des Aufbruches. Sie sind vorhanden, aber sie sind noch nicht geweckt. Der April ist die Zeit des Sturms und Dranges in der Natur wie im Menschenleben. Da soll der Mensch reifen in den Stürmen seiner Entwicklung. Und dann kommt der Mai. Der Mai ist der Wonnemonat, in dem alle Blüten aufbrechen, wo sich die Verheißung des Sommers ankündigt. Was entspricht im Menschenleben dem Mai? Es ist die Zeit der jungen Liebe. Es ist die Zeit, in der sich junge Menschen finden und Herzen füreinander zu schlagen beginnen. – Wir wollen am heutigen Sonntag über die Zeit der Bekanntschaft sprechen und sagen:

1. Es ist das eine schöne Zeit,

2. eine ernste Zeit und

3. eine wichtige Zeit.

Die Zeit der Bekanntschaft ist schön. Denn wenn es so ist, wie es sein soll, dann hat ein katholischer junger Mann ein katholisches junges Mädchen kennengelernt. Die bisher abgeschlossenen Herzen öffnen sich, sie öffnen sich füreinander, um den anderen hineinzunehmen. Der Mensch hat in sich das tiefe Sehnen, für andere etwas zu bedeuten, tauglich zu sein, angenommen zu werden. Diese tiefe Sehnsucht, die auf mancherlei Weise erfüllt werden kann, wird in der Bekanntschaft zu einer gewissen, vorläufigen Erfüllung gebracht. Jetzt weiß jeder der beiden Bekannten: Ich habe einen, für den ich etwas bedeute; ich habe eine, für die ich etwas bedeute. Und das ist ja die Erfüllung der tiefen Sehnsucht des Menschen, angenommen, anerkannt, geliebt zu werden.

Gott hat natürlich mit der Bekanntschaft etwas vor. Er hat die Wunderkraft der Liebe in die Herzen gegeben, damit sich der junge Mann und das junge Mädchen von den Banden, die sie an die Familie binden, in etwa lösen. Es ist normal, daß ein Vater und eine Mutter in dem Herzen eines jungen Mannes und eines jungen Mädchens eine ganz bedeutende Stelle haben. Sie sollen sie auch behalten, aber es ist unausweichlich, daß sie sich, wenn sie sich miteinander verbinden wollen, von der elterlichen Obhut lösen. Und dazu bedarf es eben der Wunderkraft der Liebe. Diese Liebe, meine lieben Freunde, hat mehrere Stufen und Grade. Auf der niedersten Stufe spricht sie: Ich will dich besitzen. Diese begehrende Liebe ist eigentlich egoistisch, und deswegen bedarf sie der Erhebung und Erhöhung. Ich will dich besitzen, spricht das Begehren. Es muß deswegen dazukommen: Ich will mich dir schenken. Die Ehe ist ja nichts anderes als die Übereignung zweier Personen aneinander. Sie übereignen sich mit Geist und Leib. Diese Liebe nennen wir die schenkende Liebe. Die schenkende Liebe geht von sich weg, sie übergibt sich dem anderen, und nur so wird die begehrende Liebe erträglich, weil nämlich jeder dem anderen gleichzeitig sagt nicht nur: Ich will dich besitzen, sondern: Ich will mich dir schenken. Aber damit ist die Liebe noch nicht geheilt und geheiligt, wenn nicht die dritte Äußerung dazukommen, die lautet: Ich will dir dienen. Ich will nichts für mich haben, ich will alles für dich tun, ich will dich mit der Liebe des Wohlwollens und der Selbstlosigkeit lieben. Das ist die höchste Stufe der Liebe, die Liebe, die als dienende Liebe bezeichnet wird. Die soll nun in den jungen Menschen, die sich kennengelernt haben, vorhanden sein und wachsen, damit sie ihrer Aufgabe gerecht werden können in der geplanten Ehe.

Die junge Liebe scheint manchmal wie ein Paradies. Aber wir wissen, es gibt auch ein verlorenes Paradies, und deswegen ist die Zeit der Bekanntschaft auch eine ernste Zeit. Das Feuer ist wohltätig, wenn es recht gehütet wird. Aber wehe, wenn es eine verheerende Macht wird in einer Feuerkatastrophe! Ähnlich ist es mit der Liebe. Wenn das Begehren der Leiber die Oberhand gewinnt, wenn die Sinnlichkeit die Vernunft besiegt, wenn die schenkende und dienende Liebe vergessen wird, dann wird die Zeit der Bekanntschaft zu einer großen Gefahr. Dieser Gefährdung muß man begegnen. Die Zeit der Bekanntschaft muß eine Zeit der Bewährung sein. Wie hat diese Bewährung auszusehen? Zunächst einmal muß das Ziel unverrückbar vor Augen stehen: Wir wollen rein in die Ehe gehen. Wir wollen uns nicht vorher beflecken und besudeln, sondern wir wollen mit blankem Auge vor den Traualtar treten. „Soviel Sünden vor der Ehe, soviel Tränen in der Ehe“, sagt der Volksmund. Dieses Ziel muß vor Augen stehen und alle Kräfte aufrufen, um ihm zu genügen.

Man muß aber auch die Gelegenheit zum Bösen meiden und die Mittel anwenden, um die Versuchung zu überwinden. Man muß die Gelegenheit zum Bösen meiden. Wenn man weiß, daß man schwach ist, dann darf man sich nicht in Situationen bringen, in denen diese Schwäche einem zum Verderben wird. Es ist in der Regel nicht angebracht, wenn Bekannte gemeinsam verreisen, unter einem Dach nächtigen und auf diese Weise die Gefahr heraufbeschwören, daß sie sich nicht beherrschen. Das muß gesagt werden, auch wenn noch so viele Menschen heute das Gegenteil tun. Die Wahrheit hängt nicht an der Masse! In den Vereinigten Staaten hat sich eine Bewegung von Jugendlichen gebildet, die offen und nach außen bekennen: Wir wollen rein in die Ehe gehen.

Man muß die Gelegenheit meiden; man muß auch die rechten Mittel anwenden. Fast immer, meine lieben Freunde, ist der sittliche Fall mit dem Genuß von Alkohol verbunden. Deswegen heißt es, diese Gefahr vermeiden. Man muß auch die Seele frei halten. Man darf nicht in Filme gehen oder im Fernsehen ansehen, die die Geilheit im Menschen aufputschen. Man darf sich nicht an Büchern und Bildern ergötzen, die eine Gefahr für die sittliche Reinheit bedeuten. Man muß die Gelegenheit meiden und man muß die Mittel anwenden, um rein zu bleiben. Man muß auch entschlossen sein. Wenn ein Mann die Fortsetzung der Bekanntschaft daran knüpft, daß die Frau sich ihm vor der Ehe hingibt, dann ist er dieser Frau nicht wert. Und das gilt auch umgekehrt. Ich habe einmal erlebt, meine lieben Freunde, wie einer meiner Schüler eine Frau suchte und sie meinte gefunden zu haben. Er hatte mich schon für die Trauung bestellt. Plötzlich kam die Absage. Was war geschehen? Die Frau hatte darauf bestanden, vor der Eheschließung mit dem Manne geschlechtlich zu verkehren. Damit war die Verbindung am Ende.

In einem Dorf in der Rhön diente ein Mädchen an einem großen Bauernhof. Der Sohn war im Felde. Als er nach Hause kam, sagte ihm seine Mutter: „Wenn du einmal ans Heiraten denkst, nimm unsere Katharina! Du kannst keine bessere Frau finden.“ Tatsächlich, der junge Mann verlobte sich mit dem Mädchen. Eines Tages bei einem Spaziergang stellte er ihr einen unsittlichen Antrag. Das Mädchen sagte: „Ich tue es nicht, auf keinen Fall!“ und verließ den Hof für immer. Der Mann kam zur Besinnung; er reiste ihr nach und bat sie um Verzeihung. Er fragte, ob sie trotz dieses Vorkommnisses noch seine Frau werden könne und wolle. Sie sagte: „Ja, wenn deine Eltern und meine Eltern es wollen.“ Und so wurden sie Mann und Frau. Der Mann hat sein Leben lang nicht vergessen, daß seine Frau ihn bewahrt hat vor dem Fall. Sie sagte, wenn man sie fragte: Wie geht es bei euch?: „Er trägt mich auf den Händen. Er erfüllt mir jeden Wunsch und sagt immer: Katharina, dir habe ich es zu verdanken, daß ich rein an den Traualtar getreten bin.“

Umgekehrt, wenn eben die Unschuld verloren ist, ist es, wie es in einem Gedicht „Verlorene Kronen“ eine Dichterin unserer Tage ausgedrückt hat. Sie hat auch den Unterschied zwischen ihm und ihr beim Verlust der Krone feinsinnig zum Ausdruck gebracht:

 

„Er trug ein Krönlein, rot wie Gold,

da rollte es in den Sand.

Er hob es leise lachend auf

mit seiner weißen Hand

und lachte frech mit rotem Mund:

Was liegt denn auch daran?

Lag auch mein Krönlein schon im Staub,

es sieht's ihm keiner an.

Sie trug ein Krönlein weiß wie Schnee.

Es fiel in lauer Nacht.

Sie griff sich tastend leis ins Haar

und hat nur schrill gelacht.

Dann schrie ihr Herze gellend auf:

Mein Kränzel ging dahin.

Wer geht mit mir den dunklen Weg?

Ich arme Königin!“

Die Zeit der Bekanntschaft ist eine schöne, eine ernste, aber drittens auch eine wichtige Zeit, denn sie dient der Bereitung. Man soll sich auf die Ehe vorbereiten. Auf alle großen Dinge bereitet man sich vor; die Berufsausbildung dauert jahrelang. Nur auf die Ehe meinen viele Menschen sich nicht vorbereiten zu müssen. Wenn man in ein Kloster geht, muß man verschiedene Stufen durchschreiten, ehe man zu den Gelübden zugelassen wird, Postulat, Noviziat, zeitliche Gelübde und erst dann ewige, dauernde, Gelübde. Sollte es in der Ehe anders sein? Sollte man sich auf das, was das ganze Leben ausfüllen soll, nicht ebenso gut vorbereiten? Wie denn? Nun, erstens durch religiöse Einübung. Wer mit einem anderen Menschen bekannt ist, der sollte täglich für sich und den anderen beten. Die Bekannten sollen den Segen Gottes durch ihr Gebet auf sich herabrufen, den Segen auch auf ihre Bekanntschaft und ihre Brautschaft. Sie sollen miteinander den Gottesdienst besuchen, regelmäßig, jeden Sonntag. Sie sollen miteinander zum Empfang des Bußsakramentes hinzutreten. Sie sollen, wenn möglich, gute Exerzitien machen. Sie sollen sich religiös einüben für ihre künftige Ehe.

Das Zweite: Sie sollen sich auch charakterlich vervollkommnen. Die Zeit der Bekanntschaft ist wahrscheinlich die letzte Zeit, in der noch einmal der Charakter weich und biegsam ist. Jetzt kann noch etwas geformt und gefeilt werden am Charakter. Jetzt kann man noch die Schärfen und Kanten, die der Ehe, die der glücklichen Ehe, hinderlich sind, abschleifen. Das muß geschehen. Man soll sich auch Proben der Beherrschung abverlangen, Proben der Selbstbeherrschung auf sich nehmen, nicht nur im Bereich des Geschlechtlichen, sondern auch auf anderen Gebieten, im Genuß von Alkohol, Nikotin, Vergnügungen; Proben der Selbstbeherrschung, die den Charakter stählen, die den Willen festigen. So soll man sich auf die künftige Ehe vorbereiten.

Und schließlich drittens noch: Man soll sich auch praktisch üben, vor allem tüchtig werden im Beruf. Das Leben ist kein Vergnügen. Auch die Brautschaft ist kein Vergnügen, sondern das Leben ist Dienst und Pflicht. Und diese beiden Begriffe Dienst und Pflicht müssen über der Brautzeit, über der Bekanntschaft stehen. Man soll sich in seinem Berufe auszeichnen, man soll voranstreben. Man soll sich mühen, rastlos und unermüdlich, sich nicht mit Halbem und mit Wenigem zufriedengeben, sondern weiterstreben, um sich vor Gott und den Menschen auszuzeichnen. Man soll in dieser Zeit auch an das künftige Heim denken. Sparen, eventuell bauen, die Aussteuer herbeischaffen, das sind alles berechtigte Anliegen für die Zeit der Bekanntschaft. Auch vielleicht bestimmte Fertigkeiten sich aneignen, die man bisher nicht besessen hat. Es ist schlimm, wenn eine Frau nicht kochen und nicht nähen kann. Auch in die Familie sollte man in dieser Zeit gehen. Man sollte sich nicht distanzieren von der Familie, nicht von ihr fliehen, es sollte vielmehr eine Aufnahme in die Familie sein, des einen und des anderen. Und gleichzeitig, um dem Familienegoismus zu wehren, sollten sich die Bekannten in der Nächstenliebe üben. Sie sollten irgendeine Tätigkeit suchen, die sie durch altruistisches Wirken vom Egoismus befreit. Es gibt so viele Gelegenheiten, etwa durch Beteiligung an den Aufgaben des Malteser-Hilfsdienstes, in der Krankenpflege. Die Sorge für Kranke ist immer die beste Schule für einen selbst, weil man dadurch lernt, ernst zu werden, besonnen zu sein, an die eigene Gefährdung zu denken, die Hilfbedürftigkeit des anderen zum Anlaß zu nehmen, daran zu denken, daß es einem einmal auch so gehen kann.

Die Zeit der Bekanntschaft, meine lieben Freunde, ist eine schöne, aber auch eine ernste und eine wichtige Zeit. Man soll sie nicht vertändeln und verspielen. Sie darf nicht verlorengehen. Das Bequeme ist gewöhnlich das Falsche, und das Schwere ist gewöhnlich das Richtige. Wer immer nur sucht nach Vergnügen, nach Erleichterung, nach Müßiggang und Bequemlichkeit, dessen Leben kann nicht gelingen. Im Leben muß man dienen, arbeiten, Leistungen vorweisen und auf diese Weise Gott und den Menschen den von uns geforderten Dienst erbringen. So ruft man den Segen Gottes auf die kommende Ehe herab, und an Gottes Segen ist alles gelegen!

„Schützt das Edelweiß auf den Bergen! Pflegt die Lilie in den Tälern!“ hat einmal der unvergeßliche Kardinal Faulhaber ausgerufen. Wahrhaftig, das gilt für die Zeit der Bekanntschaft. „Schützt das Edelweiß auf den Bergen! Pflegt die Lilie in den Tälern!“

Amen.

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