Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. November 2005

Das Vorbild der Heiligen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, zur Feier Allerheiligen Versammelte!

Wenn Sie mit den durchschnittlichen Menschen unserer Tage sprechen, stellen Sie oft eine große Ratlosigkeit und Unsicherheit fest. Sie wissen eigentlich nicht, wozu sie auf Erden sind. Sie versuchen ihre Öde und ihre Leere zu bedecken, indem sie die Güter, die glitzernden, die vergänglichen Güter dieser Erde sich zuführen. Aber ein tiefes Genügen, ein letztes Befriedigtsein erlangen sie damit nicht. Das mag auch daran liegen, dass sie keine Vorbilder haben. Es sind zu wenig Menschen, nach denen man sich richten kann, an denen man sein Leben ausrichten kann, auf die man blicken kann, um es dann so zu machen, wie sie es gemacht haben oder auch noch heute tun. Die Menschen können nicht ausschauen nach Josef Fischer, der in Rom seine fünfte bürgerliche Ehe schließt. Nach so einem können sie nicht ausschauen! Sie müssen blicken auf diejenigen, die das Ziel erreicht haben. Sie müssen auf die Heiligen des Himmels schauen, denen das Leben gelungen ist. Das sind die Vorbilder, nach denen sie sich richten müssen. Wenn sie es nicht tun, verfehlen sie ihr Ziel. Wenn sie sich nach ihnen richten, wenn sie es so machen, wie sie es gemacht haben, dann kommen sie unweigerlich zum selben Ziel.

Mit den Heiligen des Himmels sind wir mannigfach verbunden. Wir leben in derselben Luft, im selben Klima, und dieses Klima heißt Spiritus Sanctus – Heiliger Geist. Ja, das ist die Verbundenheit, die wir mit ihnen tragen: Im Heiligen Geiste sind wir ihnen verwandt, gehören wir zu ihnen. Und wir stehen im Heiligen Geist in einem ständigen Gespräch mit ihnen, denn sie haben ja Spuren auf Erden hinterlassen. Ihr Leben ist nicht versunken; es ist auch nicht bloß aufbewahrt in den heiligen Biographien. Nein, ihr Leben ist abgesunken in die Wirklichkeit Gottes, und da steht ihr Leben uns zur Verfügung. Sie haben der Welt ein Erbe von Wahrheit und Liebe eingeprägt. Und dieses Erbe ist nicht vergangen. Es ist gewissermaßen ein Energiefeld vorhanden, das sie der Erde vermittelt haben und das von unabsehbaren Kräften des Himmels durchflutet ist.

Heute, am Fest Allerheiligen, gedenken wir ihrer, sind wir in der Erinnerung verbunden mit den Brüdern und Schwestern, die uns vorangegangen sind im Zeichen des Glaubens. Warum haben sie ihr Ziel erreicht? Weil sie den Aufgaben gerecht geworden sind, die ihnen Gott gestellt hatte, nicht mehr und nicht weniger. Sie haben die Aufgaben erfüllt, die sie von Gott überkommen hatten. Und deswegen stehen sie jetzt in dem beglückenden Gespräch mit dem Vater im Himmel. Sie sind angekommen in der Heimat. Sie sind angekommen, weil sie den Kampf nicht gescheut haben, den Kampf, meine lieben Freunde, der notwendig ist, um den Panzer von Egoismus, von Selbstsucht, von Hochmut, von Eitelkeit zu durchbrechen, der uns immer wieder einschließen will. Sie haben diesen Kampf bestanden.

Die Heiligen sind schöpferische Menschen. Sie lassen sich nicht von ihrer Zeit oder von ihren Zeitgenossen treiben. Sie setzen in sich selbst einen neuen Anfang, einen Anfang der Liebe, auch dort, wo ihnen nur Haß und Lüge entgegentritt. Die Heiligen sind realistische Menschen. Sie sehen die Welt so, wie sie ist. Aber sie sehen über der irdischen Wirklichkeit das letzte Du. Sie haben den Einblick in die rechte Ordnung, und deswegen sind sie realistische Menschen. Sie lassen sich nicht durch Vordergründiges und glitzernden Tand täuschen. Sie sind auch fortschrittliche Menschen, denn sie hoffen und ringen nach einer Ausgestaltung ihres Wesens, die alle irdische Erfüllung übersteigt. Sie hoffen auf eine Daseinsform des Menschen, die innerhalb der Geschichte nicht erreichbar ist. Sie sind Menschen der Hoffnung.

Unsere Aufgabe ist es, die Heiligen zu repräsentieren. Was heißt repräsentieren? Das heißt etwas Unsichtbares sichtbar machen. Ein Botschafter repräsentiert das Land, das er vertritt. Ein Bundespräsident repräsentiert den Staat, an dessen Spitze er steht. So sollen wir die Heiligen repräsentieren. Wir sollen durch unser eigenes Leben ihr Gedächtnis wach halten. Wir haben die Verpflichtung, die vollendeten Brüder und Schwestern in dieser Welt sichtbar zu machen durch unser Leben. Wie macht man das? Indem man ein Heiliger wird. Ja, nicht mehr und nicht weniger ist uns aufgegeben, als Heilige zu werden schon auf Erden. Wir brauchen ob dieser großen Aufgabe nicht zu verzagen, denn den Anfang macht Gott, und den Fortgang gewährt Gott, und die Vollendung gewährt Gott. Wenn wir uns auf ihn einlassen, wenn wir uns in seine Hände begeben, dann formt er in uns das Bild des Heiligen. Dadurch werden wir mehr als bloße Menschen, wir werden göttliche Menschen. Dann stellt sich der Himmel in uns dar, und wir sind wahrhaft Repräsentanten unserer vollendeten Brüder und Schwestern.

Worin besteht die Heiligkeit? Aus drei Dingen. Erstens: Man muss sich selbst aus der Hand Gottes annehmen. Das ist nicht so leicht, wie es ausgesprochen wird, denn mancher von uns klagt über seine Unzulänglichkeit, möchte ein anderer oder wenigstens anders sein. Aber nein, wir müssen uns so aus der Hand Gottes annehmen, wie wir geschaffen und wie wir aus unserer Familie hervorgegangen sind. Man darf nicht mit Gott hadern, dass wir so sind, wie wir sind. So ist also das Erste, um heilig zu werden: sich aus der Hand Gottes annehmen, sich mit Gott bejahen. Das Zweite besteht darin, und das ist noch schwerer, nämlich die Menschen aus Gottes Hand annehmen, die Menschen, die Gott uns über den Weg schickt. Nicht klagen und nicht jammern: „Ich möchte andere Menschen haben.“ Nein, die Menschen, die uns umgeben, das sind die, die Gott uns sendet. Das sind die, an denen wir unsere Heiligkeit wirken sollen. Wir brauchen keine anderen. Die, die uns umgeben, sind uns von Gott gesandt, auf dass wir an ihnen Heiligkeit lernen. Drittens: Wir sollen in dem Bereich, der uns zugewiesen ist, die Ordnung herstellen, die Ordnung nach Gottes Willen. Diese Ordnung vollzieht in der kleinen und in der großen Welt, in unserem persönlichen Leben, aber auch im gesellschaftlichen und staatlichen Leben. Es ist ein fundamentaler Irrtum des Protestantismus, dass er die so genannte Zwei-Reiche-Lehre aufgebracht hat. Im Reich zur Rechten, im Reich der Gnade, da soll Gottes Gebot gelten, aber im Reich zur Linken, im Reich des Staates, da können andere Gesetze gelten, da kann man sich fünfmal verheiraten! Nein, meine lieben Freunde, wir müssen die Ordnung in dem Stück Welt schaffen, das uns anvertraut ist, in der kleinen und in der großen Welt, im persönlichen Leben und im gesellschaftlichen Leben, soweit das uns aufgegeben ist und soweit wir dazu fähig sind.

Wir müssen vor Gottes Angesicht leben. Die Heiligen leben ja vor Gottes Angesicht, und zwar vor Gottes unverhülltem Angesicht. Wir leben auch vor Gottes Angesicht, aber vor Gottes verhülltem Angesicht. Vor seinem Angesichte leben, das ist die Eigenart der Heiligen, und die müssen wir uns aneignen. In schwierigen, auch in hoffnungslosen Situationen vor Gottes Angesicht aushalten, das uns Zugewiesene von ihm annehmen, das ist unsere tägliche Verpflichtung. Dadurch werden wir vor zwei Gefahren bewahrt, nämlich einmal vor der Gefahr, dass wir untergehen in der Hetze und in der Hast des alltäglichen Lebens, dass man sich nur noch als Funktion versteht, und auch vor der anderen Gefahr, dass man sich zurückzieht in ein Idyll. Die Gefahr ist vielleicht für uns Gläubige größer als die erste, dass wir uns in eine Nische zurückziehen, in ein stilles Leben, wo wir unseren Liebhabereien nachgehen können. Dieser Gefahr wird dadurch gewehrt, dass wir die Bereitschaft in uns erwecken und fördern, die Welt als Aufgabe von Gott entgegenzunehmen.

Es wäre auch falsch, wenn wir meinen würden, wir seien dazu nicht geeignet, wir seien ja ganz unbedeutende und wenig begabte Menschen. Meine lieben Freunde, jeder Mensch ist wertvoll. Jeder ist geeignet als Botschafter Gottes aufzutreten, jeder. Es gibt keine unbrauchbaren Menschen. Jeder ist brauchbar für das, was Gott ihm aufgetragen hat. Es wäre also eine falsche Selbsteinschätzung, wenn wir meinen würden, an uns ist nichts, an uns ist nichts Besonderes. Nein, wir haben Aufgaben, unersetzliche Aufgaben, die Gott         uns übertragen hat und denen wir nachkommen müssen. Wenn wir das tun, dann stiften wir dieser Welt unsichtbare himmlische Kräfte ein. Wir wissen nicht immer, was wir wirken; wir sehen es oft nicht. Wir denken manchmal: Mein Leben verzischt wie ein Flamme, die man auslöscht. Nein, meine lieben Freunde, es gibt unsichtbare Wirkungen, die von unserem Leben ausgehen, wenn wir den Auftrag Gottes angenommen haben. Im Himmel wird es uns einmal gezeigt werden, was unser Leben wert war und was es bewirkt hat. Im geschichtlichen Leben machen wir nur die ersten Schritte auf das himmlische Leben zu. Aber diese Schritte müssen wir machen. Und wir machen sie an der Hand Gottes. Er gibt den Anfang, und er gibt das Gelingen. Er schenkt uns den Beginn, und er schenkt uns die Vollendung.

Amen.

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