Predigtreihe: Jesu Gottesbild (Teil 2)
27. Juli 2025
Jesu Gottesbild II
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wenn wir danach fragen, wie es um das inwendige Bestreben und Begehren Jesu bestellt war, um seine Neigungen und Wünsche, dann finden wir darin nichts als den Willen seines Vaters allein. Wohl liebt er die Heimat und die Seinen. Er bricht in Tränen aus, da er Jerusalems und seines Untergangs gedenkt (Lk 19,41). Und doch verlässt er die Seinen um des Vaters willen, und doch sieht und bejaht er in Jerusalems Untergang den zürnenden, strafenden Willen seines Vaters. Und wie die Bindungen der Heimat und der Familie, so fallen für ihn auch die übrigen irdischen Fesseln dahin. Er ist der Freieste unter allen Freien, weil er wie keiner der Knecht Gottes ist. Die goldenen Ketten des Besitzes und des Reichtums drücken ihn nicht. „Der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt 8,20 = Lk 9,58). Irdische Ehren, der Beifall der Menge verlocken ihn nicht. Er verwehrt es, von seinen Wundertaten zu erzählen (Mk 1,44; 3,12; 5,43; 7,36 etc.). Nicht ihm, sondern dem Vater sollen die Geheilten danken, (Lk 17,18). Als sie ihn zum König ausrufen wollen, verbirgt er sich (Joh 6,15). Die Freuden des Familienlebens begehrt er nicht. Es gibt „freiwillig Verschnittene“ um des Himmelreiches willen (Mt 19,12). Zählt er sich zu ihnen? Niemals sucht er das Seine. Selbst das Mitleid, das ihm die weinenden Frauen auf seinem Kreuzweg entgegenbringen, wehrt er ab (Lk 23,28). Er lässt sich verraten und hat für den Verräter nur eine Frage, die sein Gewissen schärfen und retten soll (Mt 26,50). Er lässt sich von Petrus verleugnen, und doch drängt er vertrauend in ihn: „Petrus, liebst du mich mehr als diese? Weide meine Lämmer“ (Joh 21,15ff.). Wo wir nur immer in der Seele Jesu suchen, wir finden nichts von rein irdischen Trieben und Sehnsüchten. Selbst der stärkste Trieb, den ein Mensch haben kann, der Trieb zum Leben, ist von seinem Willen zum Vater aufgenommen und überwunden. „Wer sein Leben verliert, der wird es gewinnen“ (Mt 10,39). Das irdische Leben hatte ihm nichts zu geben und nichts zu nehmen. So fehlt in der menschlichen Seele Jesu jeder Ansatzpunkt zu einer Versuchlichkeit. Nur von außen konnte das Böse an ihn herantreten, und nichts war in ihm, was darauf zustimmend antwortete. Es ist das kühle, sachliche Zeugnis der Geschichte, dass Jesus überall dort, wo er in ihr Licht tritt, nichts anderes denn die Erscheinung des Heiligen ist. Kein Eindruck hat sich der ältesten Gemeinde tiefer eingeschrieben als dieser. Sie nennen ihn „das makellose und fleckenlose Lamm“ (1 Petr 1,9), „den Hohenpriester, der da heilig ist, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern und erhabener denn selbst die Himmel“ (Hebr 7,26).
Ernst und streng, heilig und erhaben blickt uns von hier aus das Bild Jesu an. Und doch ist es nicht das ganze Bild und nicht das Ganze seiner Frömmigkeit. So greifbar nahe Jesus den allwirkenden Gott am Werk sieht, und so sehr sein innerstes Begehren vor dem allerheiligsten Gott erschauert, so fröhlich und selig erlebt seine Seele diesen selben Gott als den unendlich gütigen, als die liebende Allmacht und als die liebende Heiligkeit, als den Vater im Himmel. Es ist Jesu schöpferische Tat, dass er das alttestamentliche Wort vom gütigen und barmherzigen Gott und vom Vater im Himmel aus der Randzone der Frömmigkeit wieder in ihren Herzpunkt rückte und die darin verborgenen Wahrheiten und Werte zum durchgreifenden Erkennen und Erleben brachte. Darin gipfelt seine Verkündigung: Gott ist unser Vater. „So sollt ihr beten: Vater unser, der du bist im Himmel.“ Mit diesem kleinen Wort vom Vater schüttet Jesus wärmstes Licht über die Beziehungen des Menschen zu Gott und verscheucht all jene düsteren Schatten, welche die wilde Dämonenfurcht der Heiden und der kalte Vergeltungsglaube der Juden über das Bild Gottes geworfen hatten. Wohl ist Gott der Allwirkende und Allheilige. Wohl bleibt in seinem Licht das Böse böse, das Kranke krank, der Sünder Sünder. Aber der allheilige Gott ist zugleich der Allgütige, weil er der Vater ist. Darum lässt er den Menschen nicht in seiner Schuld. Sobald der Mensch in sich geht und aus der Tiefe seines Herzens ruft: „Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir“ (Lk 15,18), neigt sich der Vater zum verlorenen Sohn, um ihm Feierkleider anzuziehen. Religion ist Liebe und Gnade. Wo nur immer ein Mensch ist, der wie der Zöllner in der Tempelecke an seine Brust schlägt oder wie die Sünderin über ihre Schuld weint, da ist der Vater und sein väterliches Verzeihen nahe. Ja, es ist tiefer gesehen so: Der Vater und seine Liebe steht nicht am Ende des Erlösungsweges, sondern an seinem Beginn. Das allmächtige Können Gottes und sein allerheiligstes Wollen ist ein Können und Wollen der Liebe. Die Liebe, die Gott ist, steht am Anfang und am Ende alles Seins. Der Sperling auf dem Dach und die Lilie auf dem Feld sind darin wohl geborgen, vor allem aber der Mensch, der zu seinem Gott „Vater“ sagen darf. Des Vaters wirkende Güte geht allen menschlichen Leistungen voraus. „Zuvorkommende Gnade“ nennen es die Theologen, was allem religiösen Tun erst seinen Gehalt, seine Weihe, seinen Glanz und seine Freude gibt, was Sankt Johannes in die entzückenden Worte kleidet: „Gott hat uns zuerst geliebt“ (1 Joh 4,19). Hier, in diesem Wissen um die zuvorkommende, allbarmherzige Liebe Gottes wurzelt die Armesünderliebe Jesu. Indem er den allheiligen Gott zugleich als den Gott der Gnade und Barmherzigkeit bekannte, sprach er das tiefste und letzte Wort über das Geheimnis des göttlichen Heilswillens aus, ein Wort, das nun mit hellem Klang über die Erde geht.
Es ist überwältigend, mit welcher Zutraulichkeit und Zuversicht Jesus sich selbst den Vaterarmen Gottes übergibt. Mag ihn des Vaters Liebe über den Ölberg und über Golgotha führen, er spricht: „Vater, nicht wie ich will, sondern wie du.“ In dem abgrundtiefen Vertrauen zu seinem Vater liegt das Glück, die Freude, das Jauchzen seiner Frömmigkeit. Es ist für Jesus undenkbar, dass der Vater ein inständiges Bitten, ein beharrliches Klopfen an seiner Tür unbeachtet lassen könnte. Es ist dies tausendmal unmöglicher, als dass ein irdischer Vater seinem eigenen Kind einen Skorpion reicht, wenn es ihn um ein Ei bittet (Lk 11,12). Aus diesem unbedingten Vertrauen quillt Jesu Lebensmut, seine ganze Lebenszuversicht hervor. Jesus verwundert sich selten. Aber darüber wundert er sich, dass man sich fürchten könne. „Wo ist euer Glaube?“ So fragt er seine Jünger mitten im rasenden Sturm. „Sei ohne Furcht! Glaube nur!“ So spricht er zum Vater, der vor der Leiche seines Kindes steht (Mk 5,36). Das Sorgen ist ihm etwas Fremdes, etwas Unnatürliches, das dem rechten Jünger abgehen muss. „Sorgt euch nicht und sagt nicht: Was sollen wir essen oder was sollen wir trinken und womit sollen wir uns bekleiden? Denn nach alledem trachten die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß doch, dass ihr all das nötig habt“ (Mt 6,31f.).
Wer ist dieser Jesus, der so heilig beten, so vertrauend leben und so unschuldig sterben kann? Eine heilige Torheit ist hier, ein Übermaß von Glauben und Vertrauen, ein Verschwenderisches von sittlicher Kraft, ein Unglaubliches von Reinheit und Güte. Ja, töricht scheint dieses Leben. Und doch liegt es vor uns wie Gottes Feiertag. Wo ist je ein Mensch auf Erden erschienen, der ihm gleiche? Alle menschlichen Maßstäbe versagen hier. Wie Jesu geistig-sittliche, so wächst auch seine religiöse Gestalt in Dimensionen hinein, die jenseits des Menschlichen liegen. Sein Leben ist wie ein seltsames Gedicht aus fremdem Land. Und doch ist es blutvolle Wirklichkeit. All das, was man von ihm erzählt, ist nicht rein äußerlich wie ein duftender Blütenflor von schönen Sentenzen, Maximen und Beispielen, so etwa wie bei Epiktet oder Laotse, über seine geschichtliche Gestalt gebreitet. All dies ist vielmehr unabsichtlich, unnachahmlich, unerfindlich in sein konkretes Leben, in den Alltag, in die Wirklichkeit des Hier und Jetzt, des Augenblicks eingegraben, derart eingegraben, dass wir erst vom lebendigen, tätigen Jesus her zu seiner inwendigen Welt gelangen. So stehen wir auf dem granitenen Boden der Geschichte. Es hat tatsächlich einmal einen Menschen gegeben, der sich in innigster Lebens- und Liebesverbundenheit mit seinem Vater im Himmel wusste, der Gottes Schöpferwirken wie mit bloßen Augen sah, dessen ganz geschichtliche Erscheinung die Erscheinung des Heiligen war. Wer ist dieser Mensch? Niemand kann diese Frage mit Sicherheit beantworten als nur einer – er selbst. Wie es mit seinen innersten Lebenszusammenhängen steht, mit den letzten tiefsten Wurzeln seines Seins, mit seinem Geheimnis, das kann niemand verlässiger wissen denn er allein. So müssen wir zu Jesus selber gehen. Kein Bewusstsein ist klarer, kein Herz ist reiner, kein Mund ist wahrhaftiger als der Seine. Herr Jesus, was sagst du von dir selbst?
Amen.