Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Das Christentum in Staat und Gesellschaft (Teil 1)

28. Juni 2015

Wesen, Aufgaben und Schranken des Staates

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Es gibt Leute in unserem Volk, die ihre Unzufriedenheit mit gewissen Maßnahmen des Staates bzw. der Regierung nicht verhehlen. Sie weisen auf die Millionen von Muslimen aus der Türkei hin, die bei uns leben, und fragen: Ist Deutschland noch das Land der Deutschen? Sie beklagen die Abgabe vieler staatlicher Befugnisse an überstaatliche Organisationen und fragen: Kann Deutschland sich noch selbst bestimmen? Sie erinnern an die exorbitanten Eingriffe des Staates in das Recht der Familie und fragen: Gilt in Deutschland noch das christliche Sittengesetz? Wir wollen diese und weitere Beschwerden heute zum Anlass nehmen, über Wesen und Aufgaben des Staates im Lichte der christlichen Staatslehre nachzudenken.

Der Staat ist die dauernde, geordnete Gemeinschaft des auf einem bestimmten Gebiet sesshaften Volkes zur allseitigen Förderung des Gemeinwohls. Der Staat ist in der Natur des Menschen begründet. Er ist keine zufällige, er ist keine überflüssige, er ist eine notwendige Organisation. Einmal ist er begründet in der Anlage des Menschen zur Gemeinschaft. Der Mensch ist an den Menschen gewiesen; die Sprache zeigt es ja. Eine Hand fügt sich zur anderen; eine Familie kann nur entstehen aus der Geschlechtsgemeinschaft eines Mannes und einer Frau. Der Staat ist in der Anlage des Menschen zur Gemeinschaft begründet. Er ist aber auch begründet in den leiblichen und geistigen Bedürfnissen des Menschen, die er nicht in der Vereinzelung, sondern nur durch Zusammenschluss in größerer, über die Familie hinaus- reichender Gemeinschaft befriedigen kann. Der Schöpfer der Natur ist Gott, also ist der Staat von Gott gewollt, weil Gott die Natur so geschaffen hat, dass es Staaten geben muss. Der große Staatsdenker Papst Leo XIII. hat einmal geschrieben: „Es ist in der Tat ein Gebot der Natur oder vielmehr Gottes, des Urhebers der Natur, auf dem das Zusammenleben der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft zurückgeht.“ Der Staat besitzt die Macht, zu befehlen. Eine Gesellschaft kann nicht bestehen ohne eine Autorität, eine Autorität, die das Zusammenleben ordnet und die einzelnen Glieder zum Gemeinschaftszweck hinleitet. So hat auch die Staatsgewalt, die Staatsmacht ihren Ursprung in der Natur des Menschen, letztlich in Gott. „Es gibt keine Gewalt außer von Gott, und die da bestehen, sind von Gott angeordnet“, schreibt Paulus im Brief an die Römer. Durch ihren Ursprung aus Gott besitzt die staatliche Gewalt die Macht, im Gewissen zu verpflichten, nicht nur äußerlich, auch innerlich. „Es ist notwendig, untertan zu sein, nicht nur um der Strafe, sondern um des Gewissens willen“, schreibt Paulus wenige Zeilen später im Brief an die Römer. Und er warnt auch die Menschen: „Wer sich gegen die Gewalt des Staates auflehnt, lehnt sich gegen die Anordnung Gottes auf. Wer sich aber gegen diese auflehnt, zieht sich das Gericht zu.“ Eine radikale Verneinung des Staates, etwa zugunsten eines freien Naturzustandes oder auch einer bloß auf Liebe begründeten Gemeinschaft, wäre gegen Gottes Willen und Anordnung. Wer den Staat als solchen bekämpft, der bekämpft die Rechtsgrundlage unseres Zusammenseins und damit die gottgewollte Ordnung.

Das Christentum hat sich von Anfang an als eine staatsbejahende Religion gezeigt. Selbst in dem götzendienerischen und die Christen verfolgenden römischen Staat hat es das Göttliche und Gottgewollte gesehen und anerkannt. Die Kirche hat den Staat schon anerkannt und geschützt, als Nero und Diokletian das Reich regierten. Nach dem Verfall des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das zum Schutze des Papsttums verpflichtet war, hat die Kirche nie aufgehört, auch die modernen, die profanen und der Kirche oft feindselig gesinnten Staaten gelten zu lassen, insofern und insoweit sie den Staatsgedanken und das staatliche Recht überhaupt verkörpern und vertreten. Das gilt auch für das 20. Jahrhundert. Am 30. Januar 1933 wurde ein Mann Regierungschef in Deutschland, der sich bald als ein Verächter von Recht und Gesetz entpuppte; doch er war rechtmäßig zur Regierung gekommen. Er hielt die Leitung des Staatswesens in der Hand. Die katholischen Christen waren überzeugt, dass sie der Regierung Hitler staatsbürgerlichen Gehorsam leisten müssen. Man kann also nicht sagen, dass die Kirche sich grundsätzlich immer dem Mächtigen beuge und den Staat nur anerkenne, um seine Machtmittel für sich dienstbar zu machen. Nein, die katholische Kirche glaubt an die immerwährende Dauer des Staatsgedankens und der staatlichen Einrichtungen. Sie glaubt auch an die Vollmacht des Staates, an seine Souveränität; er hat keinen irdischen Gesetzgeber über sich, er besitzt die höchste und volle, von niemand überragte und von niemand einzuschränkende Autorität, nach Gott.

Der Zweck des Staates ist das Gemeinwohl. Es ist sein Lebensprinzip, dem er seinen Ursprung verdankt, das ihn im Dasein erhält und das der Maßstab für alle seine Herrschaftsakte sein muss. Die Sorge für das Gemeinwohl besteht darin, die Bedingungen zu schaffen, dass der Einzelne durch seine eigene Tätigkeit zu seinem Lebensziel gelangen kann. Das Gemeinwohl ist das notwendige Mittel, um das Wohl des Einzelnen zu erreichen. Es ist aber auch darüber hinaus ein Eigenzweck, der über den Sonderzwecken des Einzelnen steht. Der Staat hat um des Volkes willen ein Recht auf Dasein, auf Selbstbehauptung und auf Entfaltung. Die erste Aufgabe des Staates ist der Schutz nach außen. Der Staat hat das Recht auf Selbstbehauptung und auf Verteidigung gegen feindliche Angriffe; seinen Gliedern gegenüber hat er sogar die Pflicht dazu. Der Staat besitzt die Wehrhoheit, d.h. er hat das Recht, bewaffnete Streitkräfte aufzustellen und einzusetzen. Da gibt es eine bezeichnende Anekdote. Als Konrad Adenauer in den Jahren 1954 und 1956 die Wehrgesetzgebung in der Bundesrepublik einführte, da handelte er nach den Prinzipien der katholischen Staatslehre. Er wurde heftig angefochten. Im Bundestag saß damals noch der kommunistische Abgeordnete Renner. Bei der Debatte über die Wehrhoheit und die Einführung der Wehrpflicht rief er Adenauer zu: „Dann werden Sie General!“ Adenauer, der ja um Antworten nicht verlegen war, antwortete: „Dann müssen Sie vor mir strammstehen.“ Die zweite Aufgabe des Staates ist die Bewahrung der Ordnung und der Sicherheit im Innern. Das Mittel dazu ist der Aufbau und die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Der Staat soll ein Rechtsstaat sein, d.h. vom Recht bestimmt und begrenzt. Er zielt auf eine Friedensordnung durch das von ihm gewährleistete Recht. Die Freiheit der Bürger wird gesichert durch Teilung der Gewalten. Es ist eben entscheidend, dass man, wenn man sich von einer Gewalt belästigt sieht, sich an eine andere wenden kann. Man kann gegen Akte der Verwaltung die Gerichtsbarkeit anrufen, und im Notfall sogar die Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Freiheit der Bürger wird auch gesichert durch Achtung der Menschenrechte und Bürgerrechte und durch den Gesetzesvorbehalt bei Eingriffen in die Freiheitssphäre des Einzelnen. Gesetze müssen gerecht sein, also jedem das Seine geben, die Belastungen angemessen verteilen. Gesetze sind dann recht und gerecht, wenn sie dem gerechten Recht dienen und es verbindlich machen. Ein Gesetz, das in grober Weise gegen die Gerechtigkeit verstößt, ist ungültig, ist gesetzliches Unrecht. Die dritte Aufgabe des Staates ist die Pflege von Wohlfahrt und Kultur. Der Staat ist Wohlfahrtsstaat, d.h. er betreibt soziale Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Er garantiert also nicht nur Recht und Ordnung, nein, er greift gestaltend ein in die gesellschaftlichen Verhältnisse, um soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit herzustellen. Der Staat ist umfassend fürsorgend tätig, aber da natürlich auch bevormundend. Schutz wird immer durch Abhängigkeit bezahlt, insofern ist diese Vorsorge des Staates und seine Fürsorge auch eine Gefahr für die persönliche Freiheit. Es besteht die Gefahr, dass man die Sicherheit der Freiheit voranstellt. Der Staat ist, zweitens, Kulturstaat, d.h. er fördert die Kultur in materieller und geistiger Hinsicht: in Technik und Verkehr, in Kunst, Wissenschaft, Bildung und Erziehung. Kulturelle Entfaltung bedarf in erster Linie der kulturbildenden, schöpferischen Persönlichkeiten; sie ist auch unweigerlich von staatlichem Schutz, staatlicher Förderung, staatlicher Pflege abhängig. Von dem Denker Gotthold Ephraim Lessing stammt das schöne Wort: „Die Ehre des deutschen Namens beruht auf der Ehre des deutschen Geistes.“ Ein treffliches Wort: Die Ehre des deutschen Namens beruht auf der Ehre des deutschen Geistes. Gefährlich wird die kulturelle Betätigung des Staates dann, wenn sie unter ideologischen Vorzeichen steht. Denken Sie an die unselige Sexualerziehung in der Schule. Hier werden die Kinder mit Anschauungen und Praktiken vertraut gemacht, die der katholischen Religion zutiefst entgegen sind. Nicht selten wurde die Macht des Staates über die Kultur benutzt, um die Wirksamkeit katholischer Bildungseinrichtungen zu untergraben. Denken Sie an den Kampf um die Bekenntnisschule; die Kirche hat den Kampf verloren.

Der Staat, die Staatsgewalt hat auch ihre Grenzen. Die erste Schranke der Staatsgewalt ist der Wille Gottes. Er gibt sich kund im moralischen Naturgesetz und in der übernatürlichen Offenbarung. Der Staat ist an den Willen Gottes gebunden wie der einzelne Mensch. Da stehen wir in einem ganz eklatanten Gegensatz zum Protestantismus. Der Protestantismus baut das Leben der Menschen und der Gemeinschaften auf zwei Säulen: auf das Gesetz und auf das Evangelium. In der Kirche soll das Evangelium herrschen, aber im Staat das Gesetz, und das Gesetz kann sich auch gegen das Evangelium wenden. Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum der Staat nach evangelischer Ansicht richtig handelt, wenn er homosexuelle Lebensgemeinschaften zulässt. Hier müssen wir im Namen des Evangeliums widersprechen. Der Staat ist aber nicht befugt, über Begriff und Sache der Ehe zu verfügen. Das heilige Wort der Ehe meint nach Gottes Ordnung die rechtmäßige Verbindung eines Mannes mit einer Frau. Es ist ein Missbrauch, homosexuelle Verbindungen „Ehe“ zu nennen. Ein Staat, der die gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften neben die Ehe geschlechtsverschiedener Personen stellt, verfehlt sich gegen die ihm obliegende Pflicht, sich an das Gesetz Gottes zu halten. Seit geraumer Zeit wird vom Staat verlangt, die Vorgänge um den Suizid, um die Selbsttötung, freizustellen; man soll gewerbsmäßige Beihilfe zum Selbstmord freigeben. Die zweite Schranke des Staates ist gezogen durch die natürliche Rechts- und Freiheitssphäre der menschlichen Persönlichkeit. Der Mensch, jeder Mensch besitzt natürliche Rechte: das Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf Ehre, auf Eigentum. Es gibt unveräußerliche und nicht verwirkbare Grundrechte, die jedem Menschen – auch dem Kind und auch dem Verbrecher – zustehen. Der Staat in seiner Rechtsordnung hat diese Rechte zu respektieren. Es sind keine Konzessionen des Staates, sondern es sind Schranken, die Gott ihm gesetzt hat. Die dritte Schranke ist der Staatsgewalt nach Gottes Willen dadurch gezogen, dass neben dem Staat die Kirche besteht. Sie hat die Aufgabe, die Menschen zu ihrem übernatürlichen Ziele zu führen. Sie ist durch Ursprung, Zweck und Wirkungskreis eine selbständige, vom Staat unabhängige, vollkommene Gesellschaft. Sie steht nicht im Dienste des Staates, aber sie lehrt die Menschen die Regeln des Verhaltens, ohne die der Staat nicht bestehen kann. Der Staat, der die Freiheit der Kirche unzulässig einschränkt, wird nach allen Erfahrungen der Geschichte bald auch andere Freiheiten seiner Bürger beeinträchtigen. Alle Gewaltherrscher der Geschichte haben dem Wirken der Kirche Hindernisse in den Weg gelegt, weil sie der Anwalt der Schwachen war.

Das Volk ist nicht wehrlos gegen den Staat, der seine Macht missbraucht; es gibt ein Widerstandsrecht, also ein Abwehrrecht der Bürger gegenüber einer rechtswidrig ausgeübten Staatsgewalt mit dem Ziel, das Recht wiederherzustellen. Im Rechtsstaat – und wir meinen ja, dass wir in einem Rechtsstaat leben – darf Widerstand, wenn überhaupt, nur passiv in der Form der schlichten Verweigerung des Gehorsams und nur gewaltlos geübt werden – im Rechtsstaat. Anders liegen die Verhältnisse im Unrechtsstaat. Es gibt ein Notstandsrecht des Volkes. Es gründet in seinem Recht, in einem Staat zu leben, der das Gemeinwohl fördert. Wenn die Not des Volkes aufs Höchste gestiegen ist, wenn das öffentliche Wohl heillos zerrüttet ist, wenn alle gesetzlichen Mittel zur Wendung der Lage erschöpft sind, ist die Absetzung des Herrschers, ist die Änderung der Staatsverfassung sittlich gerechtfertigt. Bei der Ausübung des Notstandsrechtes sind freilich gewisse Voraussetzungen zu beachten. Erstens: Es muss sich um einen Akt sozialer Notwehr gegenüber einer verbrecherischen Obrigkeit handeln. Das ist besonders dann anzunehmen, wenn der Staat fundamentale Rechte der Menschen missachtet. Zweitens: Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt ist nur dann gegeben, wenn normale Rechtsbehelfe nicht wirksam sind. Widerstand kommt also nur subsidiär in Betracht, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind. Drittens: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein. Die angewandten Mittel (Ungehorsam, Gewalt, im äußersten Falle Tötung des Tyrannen) müssen in einer angemessenen Beziehung zu dem angestrebten Zweck stehen. Wie weit der Widerstand gehen kann, hängt davon ab, wie stark das Unrecht der Staatsgewalt ist. In der Situation des Deutschen Reiches im Jahre 1944 konnte, wenn überhaupt, nur ein Attentat auf den Verbrecher an der Spitze zur Wiederherstellung der rechtlichen Ordnung führen. Viertens: Es muss begründete Aussicht auf ein Gelingen des Widerstandes bestehen. Wo diese fehlt, besteht die Befürchtung, dass die Verhältnisse nach dem Scheitern des Widerstandes noch schlimmer werden. Allerdings – und das müsste auch im Hinblick auf den 20. Juli 1944 gesagt werden – kann auch ein faktisch gescheiterter Widerstand einen sehr hohen moralischen Wert und insofern auch einen gewissen Erfolg haben. Fünftens: Der Widerstand Leistende muss die nötige Einsicht besitzen, um die Lage richtig beurteilen zu können. Fast zu allen Zeiten wurde die Ausübung des Widerstandsrechts an das Urteil der Klugheit geknüpft. Sechstens: Widerstand darf nur um des Rechtes, um der Wiederherstellung des Rechtes willen geleistet werden, nicht zur Befriedigung persönlicher Interessen, auch nicht – schon gar nicht – zur Erlangung der Macht. Siebtens: Eine Pflicht zum Widerstand kann es von Rechts wegen nicht geben, dadurch würde der Einzelne überfordert. Es kann sich allenfalls um eine Gewissenspflicht handeln, über deren Berechtigung auch allein das Gewissen zu befinden hat. Die Männer und Frauen des 20. Juli haben nach ihrem Gewissen gehandelt. Die katholische Lehre vom Staat, meine lieben Freunde, hat ihre Probe in der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums bestanden. Sie ist im Willen Gottes begründet und der Natur des Menschen angepasst. Wo diese Lehre gilt, ist der Friede sichergestellt und die Freiheit der Menschen gesichert.

Amen.

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