Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die sieben letzen Worte Jesu am Kreuz (Teil 5)

16. März 2014

Das vierte Kreuzeswort

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, in dieser Bußzeit die sieben Worte Jesu am Kreuze zu betrachten. Heute ist es das vierte Kreuzeswort. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Der Unglaube bestreitet die Echtheit auch dieses Wortes. Der evangelische Theologe Bultmann sagt: „Eine sekundäre Interpretation des wortlosen Schreies Jesu.“ Der evangelische Theologe Wellhausen sagt: „Ungeschichtlich, weil Zitat aus dem Alten Testament.“ Die Leugnung der Geschichtlichkeit dieses Wortes ist Willkür, reine Vermutung, ohne soliden Grund. Es ist tief betrüblich, meine lieben Freunde, wie Theologen, Männer der Gotteswissenschaft, hier mit Gottes Wort umgehen. Wir wollen uns dadurch nicht beirren lassen und fragen, was das vierte Kreuzeswort für uns bedeutet. Es wird von den beiden Synoptikern Matthäus und Markus berichtet, und zwar in doppelter Sprache: hebräisch bzw. aramäisch und griechisch. Warum? Ich werde es Ihnen gleich erklären. Matthäus hat die hebräische Form „Elí“ (mein Gott), und Markus hat die aramäische Form, das war die Umgangssprache Jesu, „Eloí“ (mein Gott). In „sabachtháni“ haben beide die gleiche aramäische Form. Warum wird hier als dem einzigen Kreuzeswort auch das hebräische bzw. aramäische Wort angegeben? Sehr einfach. Das Kreuzeswort wurde nämlich von den Umstehenden als Ruf nach Elias gedeutet: „Er ruft Elias.“ Und das wird ja nur verständlich, wenn man vorher weiß, dass Elias lautähnlich mit „Elí“ (mein Gott) oder „Eloí“ (mein Gott) ist. Und deswegen musste das vierte Kreuzeswort auch in hebräischer bzw. aramäischer Sprache überliefert werden. Das vierte Kreuzeswort ist um die neunte Stunde gesprochen, also in der Todesstunde Jesu, und zwar mit besonderem Stimmaufwand. „Jesus rief mit lauter Stimme“, so bemerken die Evangelisten. Warum denn? Um der Menschen willen spricht Jesus mit lautem Stimmaufwand, damit er auch von allen verstanden werde. Der Gekreuzigte will seine großen Schmerzen in der unendlich leidvollen Lage, in der er sich befindet, allen kundtun. Diese Mitteilung ist dazu angetan, für alle Zeit die falsche Meinung zurückzuweisen, als ob Jesus einen Scheinleib gehabt hätte, wie die Doketen, eine alte Irrlehre, behaupteten. Nein, Jesus hat wahrhaft gelitten und seinen Schmerz hinausgerufen. Der gewichtigere Grund für den Stimmaufwand dürfte allerdings ein anderer sein. Es ist die Offenbarung seiner Messianität. Dieses Wort ist eine messianische Prophetie. Es ist das Klagelied des Gerechten in der momentanen Verlassenheit, die aber zur Hoffnung auf Rettung wird. Die Juden, die unter dem Kreuze standen, wussten: Wer dieses Gebet anstimmt, wer diesen messianischen Psalm betet, der proklamiert sich als den Gerechten und verkündet die Erfüllung der Weissagung in seiner Lage und in seiner Person. Jesus betet am Kreuze den Psalm 21. Der Sohn Davids zitiert die Dichtung Davids.

Die Anrede „Gott“ ist ein Anruf an den machtvollen, barmherzigen und wahren Gott. „Mein Gott“ bezeugt, dass der Gekreuzigte im Besitz Gottes ist, in der Verbindung mit Gott steht. Die Anrede ist verdoppelt, um das Anrufen der Hilfe Gottes und das Aussprechen des Vertrauens besonders dringlich zu machen. Der Psalm 21 ist das alttestamentliche Leidenslied vom leidenden Gottesknecht, das Lied von seiner Todesnot, das Lied vom Leiden und Werk des Erlösers. Und das betet Jesus. Wenn er diesen Psalm spricht, dann erklärt er damit: Jetzt ist die Situation dieses prophetischen Psalmes eingetreten. Jetzt erfüllt sich sein Inhalt in meiner Person, in meiner Lage, in meinem Werk, in meinem Leiden. Mit dem Psalmzitat zeigt Jesus, dass er der alttestamentliche und neutestamentliche Leidensmessias ist. Der Psalm 21 hat drei Teile, und wir müssen annehmen, dass Jesus ihn ganz gebetet hat, nicht nur den ersten Vers. Der erste Teil schildert die Not, der zweite den Hilferuf und der dritte den Dank des Beters. Die Not drückt sich aus in den Worten: „Mein Gott, mein Gott, ich rufe bei Tag, du aber gibst keine Antwort; bei Nacht, doch du achtest meiner nicht. Ich bin ein Wurm, nicht ein Mensch, der Leute Gespött, von den Menschen verachtet. Viele Stiere umringen mich, den Rachen reißen sie wider mich auf.“ „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Warum ist Jesus in seinem Leiden und Sterben verlassen? Weil er die Sünden der Menschen zu sühnen hat. Weil die Menschen in ihren Sünden Gott verlassen haben. Deswegen musste Jesus als Sühner der menschlichen Sündenschuld die Gottverlassenheit im Leiden durchkosten. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist der Endpunkt der Verlassenheit Jesu. Jesus hat damit seine innere Überzeugung und seine wahre Gefühlslage ausgesprochen. Manche denken, Jesus sei am Kreuze verzweifelt. Aber ein Betender kann nicht verzweifeln. Wer betet, hofft und vertraut, aber verzweifelt nicht. Der Psalm, den Jesus anstimmt, weiß nichts von Verzweiflung. Er spricht von Vertrauen und Hoffnung, ja, von Dankesjubel, wie wir gleich sehen werden, und messianischem Heil. Die jüdischen Zuhörer, die den Psalm ja kannten aus ihren Gottesdiensten, konnten aus dem Kreuzeswort unmöglich die Verzweiflung des Gekreuzigten heraushören. Ein Verzweifelter würde auch nicht die Anrede „Mein Gott, mein Gott“ gebrauchen, würde nicht Gott im Gebete „seinen Gott“ nennen, sondern würde ihm fluchen. Nein, das siebente Kreuzeswort „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ ist eine sichere Widerlegung der Behauptung, Jesus sei verzweifelt. Aber wie ist das Wort dann zu verstehen?

Ich möchte zunächst sagen, wie es nicht zu verstehen ist. Die Verlassenheit Christi am Kreuze kann nicht eine Trennung des göttlichen Sohnes von der Person des himmlischen Vaters sein. Denn es besteht eine Wesenseinheit der drei Personen, und diese Wesenseinheit ist eine Naturidentität; sie kann nicht aufgelöst werden. „Ich und der Vater sind eins.“ Wir müssen hinzufügen: und bleiben eins. „Ich bin im Vater, und der Vater ist in mir.“ Eine Trennung dieser Einheit ist unmöglich. Die Verlassenheit Jesu am Kreuze bedeutet aber auch keine Trennung von Gott und Mensch in Christus selber, also Auflösung der hypostatischen Union. Die göttliche und die menschliche Natur in Jesus sind untrennbar. Häretiker haben dieses Kreuzeswort wiederholt für ihre Irrlehren missbraucht. Zum Beispiel die Arianer schlossen aus diesem Worte, dass sie Recht haben, wenn sie die Gottheit Christi leugnen. Die Nestorianer, die ja zwei Personen in Christus annahmen, die Nestorianer folgerten aus dem Worte, dass die göttliche Person die menschliche Person verlassen habe. Auch das ist undenkbar.

Was bedeutet also das Wort? Das vierte Kreuzeswort ist ein liturgisches Gebet. Der Inhalt des Psalms gibt die Stimmung des Betenden und seine Ergebenheit wieder. Er weiß sich dem ganzen, tiefen, messianischen Leid als Erlöser überliefert und wird dadurch zum Heil. Die Verlassenheit, um die es sich hier handelt, besteht in dem Hilflosgelassenwerden in den qualvollen Leiden. Der Gekreuzigte weiß: Ein einziges Wort des Vaters könnte ihn von seinen Schmerzen erlösen, könnte ihn vom Kreuz herunterholen. Aber der Vater lässt seinen Sohn im Leid. Die Verlassenheit Jesu am Kreuze ist ein schonungsloser, ein hilfloser, aber hoffnungsvoller und heilvoller, göttlich gewollter, unfassbar tiefer Leidenszustand, zum Zweck der Erlösung. Die Verlassenheit Jesu ist die unerforschlich tiefe und gleichzeitig heilvolle Leidensüberlassung. Einen Kommentar zu diesem Wort liefert der Brief an die Hebräer. Da heißt es: „Jesus hat in den Tagen seines Erdenlebens Gebete und Flehen unter lautem Rufen und unter Tränen vor den gebracht, der ihn vor dem Tode bewahren konnte, und um seiner Ehrfurcht willen hat er Erhörung gefunden.“ Einigen von den Umstehenden, die das vierte Kreuzeswort hörten, sagten: „Er ruft Elias.“ Wahrscheinlich sind es Soldaten gewesen, denen dieses Missverständnis unterlief. Sie hatten wohl vernommen, dass Elias als Vorläufer des Messias erwartet wurde. Es kann aber auch möglichweise ein Spott gewesen sein. Sie hatten gehört „Elí, Elí“, und so hatten sie diesen Ruf mit Elias kombiniert.

Der Klageruf der Verlassenheit ist der erste Teil des Psalmes 21, den Jesus betet. Der zweite Teil ist ein Ruf um Hilfe: „Herr, bleibe mir nicht fern, komm mir zu Hilfe, errette vom Schwert meine Seele, entreiße mich dem Rachen des Löwen, den Hörnern der Büffel.“ Wer zu Gott um Hilfe ruft, der besitzt Vertrauen zu Gott. Die Evangelisten begnügen sich damit, den ersten Vers des Psalmes anzugeben. Das ist eine übliche Methode gewesen. Man weiß: Wer den ersten Teil betet, der betet auch das, was dahinter kommt. Und so dürfen wir annehmen, dass Jesus den Psalm zu Ende gebetet hat. Der dritte Teil des Psalmes ist der Dank für Erhörung aus der Not: „Du hast mich erhört. Deinen Namen will ich meinen Brüdern kundtun, in der Gemeinde Mitte dich preisen, denn Gott hat nicht verschmäht das Elend des Dulders, hat nicht verborgen sein Antlitz vor ihm, hat ihn vernommen, da er aufschrie vor ihm.“ Das heißt: Jesus weiß, mit Psalm 21: Sein Leiden wird gut ausgehen, sein Rufen wird erhört werden. Er kann dem rechten Schächer das Paradies verheißen, in das er mit ihm einziehen wird.

Es wird mancher unter uns sein, meine lieben Freunde, der dem Herrn diese Klage nachspricht. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Weil er seine Stellung verloren hat, weil ihm ein wertvoller Mensch entrissen wurde, weil ihn die Krankheit niedergeworfen hat. Manchen wird das Wort sogar zur Anklage. Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Habe ich dir nicht gedient? Habe ich nicht deine Gebote gehalten? Habe ich dir nicht die Treue bewahrt? Warum lässt du mich allein? Lässt Unheil und Unglück über mich kommen, siehst zu, wie mein Leben dahinsiecht, wie meine Pläne zerrinnen, wie mein Werk zerfällt? Auf einem Grabstein im Mombacher Friedhof steht ein einziges Wort, und das ist mit einem Fragezeichen versehen. Dieses Wort lautet: Warum? Warum musste die schaffensfrohe Mutter von fünf Kindern sterben, von denen kein einziges mit seiner Ausbildung fertig war? Warum wird in einer kinderwilligen Familie ein Kind geboren, das mongoloid ist? Warum werden in islamischen Ländern Kirchen angezündet, und in Deutschland wächst eine Moschee nach der anderen aus Erde, warum? Das sind bedrängende Fragen. Gibt es darauf eine Antwort? Wir wollen versuchen, eine zu finden, warum die Leiden über uns kommen. Meine lieben Freunde, an erster Stelle deswegen, damit wir bewährt werden. Von dem Dulder Tobias heißt es: „Weil du angenehm warst vor Gott, musste die Versuchung (oder die Prüfung) dich bewähren“ – weil du angenehm warst vor Gott, musste die Versuchung oder die Prüfung – je nachdem, wie man übersetzt – dich bewähren, d.h. Gott erprobt die Treue, die Geduld, den Glauben der Seinen. Er unterwirft sie Prüfungen, um sie erkennen zu lassen, ob sie ihm ehrlich, selbstlos und ohne Eigennutz dienen. Gott will sehen, ob der Fromme auch im Elend und in der Not seinem Herrn treu bleibt. Leiden sind auch eine Glaubensprobe. In Leiden zeigt es sich, ob wir an das ewige Leben glauben, wo es einen Ausgleich geben wird. Diese Lehre erteilt, im Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus, Abraham dem Reichen: „Mein Sohn, denk daran, dass du in deinem Leben Gutes empfangen hast, Lazarus aber Schlechtes. Jetzt wird er getröstet, du aber gepeinigt.“ Warum, meine lieben Freunde, so fragen wir, wenn wir leiden müssen; aber hat uns der Herr je versprochen: Wenn du gläubig bist, wenn du in die Kirche gehst, wird es dir gutgehen, wirst du vor Leid bewahrt werden, werden deine Unternehmungen gelingen? Hat er es uns je versprochen? Er hat es nicht versprochen, und er kann es nicht versprechen! Wenn es allen Verehrern Gottes gut ginge, und allen Verächtern Gottes schlecht, dann würden diese aus Eigensucht ihren Widerstand gegen Gott aufgeben, aber ohne sich in Reue mit Gott zu versöhnen. Das Christentum, der Glaube, die Frömmigkeit darf kein Geschäft werden. Wenn man sich durch Gebet und Gottesdienst gegen Schaden und Unglück versichern könnte, dann geschähe der Dienst Gottes aus Berechnung, aus Gewinnsucht, aus Eigenliebe. Warum die Leiden? – auch die Leiden des Gerechten? Wollen wir es besser haben als unser Herr, meine lieben Freunde? Haben wir uns nicht zu seiner Nachfolge entschlossen? Sind wir nicht auf seinen Tod getauft? Ist uns nicht das Zeichen des Kreuzes eingeprägt worden? Im Buche von der „Nachfolge Christi“ heißt es: „Siehe, er ging dir ja voraus und trug dir das Kreuz voran und starb sogar für dich am Kreuze, damit auch du dein Kreuz tragen lernest und Mut bekommen solltest, am Kreuz zu sterben. Sei also ein guter getreuer Knecht Christi, bereit, das Kreuz deines Herrn mannhaft zu tragen, des Herrn, der sich für dich kreuzigen ließ.“ Warum die Leiden des Gerechten? Auf dass wir ihm verähnlicht werden. Wie könnten wir ihm ähnlich sein ohne die Wundmale an den Händen, ohne die Not des Herzens erfahren zu haben? Es ziemt sich, dass die Glieder zu ihrem Haupte passen. Es wäre eine Schande, ein wehleidiges Glied zu sein unter einem dornengekrönten Haupte. „Christus wollte leiden, Christus wollte verachtet werden, und du wagst es, den Mund aufzutun, und über deine Leiden zu klagen?“ fragt wiederum das Buch von der „Nachfolge Christi“. „Christus hatte seine Feinde und Widersacher, und du willst alle zu Freunden und Wohltätern haben? Wenn du nichts Unangenehmes leiden willst, wie kannst du ein Freund des leidenden Christus werden? Lerne vielmehr mit Christus und für Christus leiden, wenn du mit Christus herrschen willst.“

Amen.

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