Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Das achte Gebot (Teil 1)

12. Januar 2014

Wahrhaftigkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In Hamburg wird ein neues Opernhaus gebaut. Der ursprüngliche Ansatz lautete auf 77 Millionen Euro. Inzwischen haben sich die Kosten auf 789 Millionen Euro – also über das Zehnfache – vermehrt. Die Schuld gibt man der Verwaltung des Senats, der unaufrichtig, von Anfang an, mit der Bevölkerung und der Bürgerschaft verfahren sei. Dieses Begebnis führt uns zu der Frage: Was ist Wahrheit? Was ist Wahrhaftigkeit? Wir kennen alle das achte Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben. Hier wird nur der schlimmste Fall der Unwahrhaftigkeit angegeben, nämlich das falsche Zeugnis vor Gericht. Aber das Gebot will die gesamte Wahrhaftigkeit schützen. Das achte Gebot will uns zur Wahrhaftigkeit verpflichten. Wahrhaftigkeit ist die Liebe zur Wahrheit. Und die Tugend der Wahrhaftigkeit besteht darin, dass man eben das, was man selbst empfindet auch wirklich nach außen ausdrückt. Dass man die erkannte Wahrheit durch Wort und Handeln offenbart. Pilatus fragte: „Was ist Wahrheit?“ Nun, wir können es ihm sagen. Es gibt eine mehrfache Wahrheit: Erstens, die ontologische Wahrheit. Sie besteht darin, dass ein Ding das ist, was es sein soll. Dass sein Sein also mit dem, was es sein soll, übereinstimmt. Es gibt die logische Wahrheit. Sie besteht darin, dass Behauptung und Sachverhalt übereinstimmen. Und schließlich gibt es die Wahrheit der Rede, dass eben durch die Worte die innere Erkenntnis bezeugt und ausgesagt wird.

Die Tugend der Wahrhaftigkeit ist eine beständige Richtung auf die Wahrheit, eine dauernde Gesinnung des Willens, wahrhaftig zu sein. Wahrhaftigkeit ist als Ausdruck einer lebenspraktisch affektiven Übereinstimmung einer Person mit sich selbst anzusehen. Wer nicht wahrhaftig ist, der trägt einen Zwiespalt in sich selbst hinein. Die Wahrhaftigkeit ist aber auch die Grundvoraussetzung gelingender zwischenmenschlicher Beziehungen. Zwischen Menschen, die nicht wahrhaftig sind, kann eine wahre und dauernde Gemeinschaft nicht bestehen. Das Wahrheitsethos gehört zu den fundamentalsten Anlagen und Übungen des Menschen, zu den fundamentalsten ethischen Grundhaltungen. Wahrhaftigkeit ist die Tugend des Aufrechten. Sie drückt dem ganzen Charakter ihren Stempel auf. Eine Anlage zur Wahrhaftigkeit ist in jedem Menschen, aber sie muss entwickelt werden durch Erziehung. Ausschlaggebend ist das Beispiel der Umgebung, vor allem der Eltern. Ein Feind der Wahrhaftigkeit beim Kinde ist, wenn man zu streng ist bei kleinsten Verfehlungen, auch bei den Lügen des Kindes, die ja aus Angst hervorgehen. Wer da zu streng ist, der erzieht nicht zur Wahrhaftigkeit, sondern der erzieht zur Heuchelei. Erziehung zu vertrauensvoller Offenheit, auch bei Verstößen, ist eine Schule der Wahrhaftigkeit für das ganze Leben.

Wahrhaftigkeit ist eine sittliche Pflicht. Das Naturgesetz, das sittliche Naturgesetz, sagt uns, dass wir wahrhaftig sein sollen. Das Wesen des Menschen ist ja, eine einheitliche Persönlichkeit zu sein. Alles in ihm soll aus einem Zentrum hervorgehen und mit diesem Zentrum übereinstimmen. Und der Mensch bleibt nur sich selbst treu, wenn er wahrhaftig ist. Die Unwahrhaftigkeit trägt einen Zwiespalt in die menschliche Persönlichkeit. Auch die Natur der Sprache weist uns auf die Pflicht zur Wahrhaftigkeit hin. Mit der Sprache sollen ja die Menschen miteinander kommunizieren, in Verbindung treten, sie sollen sich gegenseitig offenbaren. Und wenn diese Funktion zerstört wird durch Unwahrhaftigkeit, dann verfehlt man sich gegen den Willen Gottes, der eben die Sprache zur Verständigung eingesetzt hat.

Auch das Wohl der menschlichen Gesellschaft hängt von der Wahrheit und von der Pflege der Wahrhaftigkeit ab. Im Geistesleben ist darauf zu achten, dass die Wahrheit unter den Menschen ihre Herrschaft antritt, dass sie nicht durch Unwahrhaftigkeit ins Gegenteil verkehrt wird. Denken Sie an den Unterricht in der Schule: Hier muss die Wahrheit gelehrt werden, d.h. die Erkenntnis der Wirklichkeit, nicht eine Ideologie, welche die Wirklichkeit entstellt. Wir denken an die Wissenschaft: Die Wissenschaft muss gültige, unanfechtbare Erkenntnisse vermitteln, wenn sie die Wirklichkeit aufschließen will. Wahr ist, was der Wirklichkeit entspricht. Aber auch das praktisch notwendige gesellschaftliche Vertrauen hängt von der Wahrhaftigkeit ab. Es wird untergraben, wenn die Sprache willkürlich den Inhalt der Rede umdeutet. Denken wir an das Geschäftsleben: Wenn die Ware ausgeschildert wird, muss das, was auf dem Schild steht, der Ware entsprechen. Man kann nicht als Wolle ausgeben, was Polyester ist. Von Politikern muss erwartet werden, dass sie dem Volk die Wahrheit sagen. Wenn der Staatsbankrott vor der Tür steht, kann man keine Versprechungen machen, die hohe Ausgaben beinhalten. „Die Renten sind sicher“, heißt es immerfort, die Renten sind sicher. Sind sie wirklich sicher? Angesichts der Kinderarmut? Im Zivilprozess und überhaupt in allen Verfahrensordnungen, gilt die Wahrheitspflicht, d.h. die Parteien sind gehalten, ihre Erklärungen über Tatsachen wahrheitsgemäß und vollständig abzugeben.

Wir Gläubigen haben noch eine ganz andere Begründung für die Wahrhaftigkeit, nämlich Gottes Gebot. Gott will, dass die Wahrheit herrscht. Die Heilige Schrift betont überall die Wahrheit und Treue Gottes. „Gott ist nicht wie ein Mensch, dass er lüge, nicht wie eines Menschen Sohn, dass er sich ändere“, so heißt es im Buche Numeri. „Gott bleibt wahrhaftig, er kann sich nicht verleugnen“, schreibt Paulus an seinen Schüler Timotheus. „Im Zelte Gottes wird nur der wohnen, der die Wahrheit in seinem Herzen spricht und nicht Falschheit übt mit seiner Zunge.“ Unser Herr und Heiland nennt sich selbst die „Wahrheit“. „Ich bin die Wahrheit, der Weg und das Leben.“ Er ist in die Welt gekommen, um der Wahrheit Zeugnis zu geben. Ja, er ist ein König der Wahrheit! Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf seine Stimme. Indem wir die Wahrheit sprechen, unterstellen wir uns der Königsherrschaft Jesu. Der Herr hat auch für seine Jünger gebetet: „Heilige sie in der Wahrheit.“ Er verheißt ihnen: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Die Apostel haben hervorgehoben: „Nichts vermögen wir wider die Wahrheit, sondern nur für die Wahrheit“, schreibt Paulus im 2. Brief an die Korinther. „Leget ab alle Lüge, redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, denn wir sind Glieder untereinander.“

Die Wahrheit, meine lieben Freunde, trägt ihren Wert in sich selbst. Ob sie nun den praktischen Interessen schadet oder nützt: die Wahrheit hat immer ihren Wert in sich selbst, nicht erst durch das, was aus ihr folgt. Und was aus ihr folgt, das kann manchmal sehr wenig nützlich sein. Die Kommunisten sagten: Wahr ist, was der Klasse, was dem Klassenkampf nützt. Die Nationalsozialisten sagten: Wahr ist, was dem Volk nützt. Nein: Wahr ist, was mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

So ergeben sich auch Pflichten gegenüber der Wahrheit. Wir müssen die religiösen Wahrheiten kennenlernen, wir müssen in den Glauben eindringen, wir müssen uns bemühen, immer besser zu verstehen, wie Gott ist und wie wir uns nach seinem Willen zu verhalten haben. Im religiösen Leben lernt man nie aus, meine lieben Freunde. Man kann immer besser verstehen, was Gott von uns will und wie er in sich ist. Das gilt auch für den Beruf. Im Beruf muss man immer dazulernen. Das ständige Sichfortbilden gehört zu einer beruflichen Pflicht. Und auch das Leben verlangt ständiges Fortschreiten in der Wahrheit. In der Menschenkenntnis: Man muss die Menschen studieren, um zu lernen, wie sie agieren und wie sie reagieren. Auch das allgemeine Wahrheitsstreben in der Wissenschaft muss der Christ achten. Man muss es fördern. Die Wissenschaft steht im Dienst der Wahrheitserkenntnis. Die Wissenschaft ist eine gestrenge Herrin, meine lieben Freunde, sie zwingt uns, wahrhaftig zu sein. Die Naturwissenschaft erkennt ihren Gegenstand durch Experimente und wird durch Experimente in ihren Erkenntnissen bestätigt. Die Mathematik, diese wunderbare Wissenschaft, bewährt sich in der Technik. Wenn ein Statiker eine Brücke berechnet, dann zeigt sich, ob sie tragfähig ist oder nicht, je nachdem, ob seine Rechnung stimmt oder nicht. Die Astronomen haben schon lange gewusst, dass die Planetenbahn des Planeten Neptun eine merkwürdige Abweichung zeigt. Und sie schlossen aus dieser Abweichung, dass da noch ein Planet sein muss, den man bisher nicht gefunden hatte. 1930 hat ein englischer Forscher diesen Planeten entdeckt: den Pluto. Ein wunderbares Ergebnis der Wissenschaft. Auch die Geschichtswissenschaft sucht zu erkennen. In Hamburg lehrte der Historiker Fritz Fischer. Er kam zu der Ansicht, am Ersten Weltkrieg ist allein schuld das Deutsche Reich, der deutsche Kaiser, die deutsche Regierung. Jetzt steht ein australischer Historiker auf, Christopher Clark, und sagt: „Das stimmt nicht. Die Mächte sind wie Nachtwandler in den Krieg hineingetappt.“ „Nichts lässt darauf schließen“, so schreibt er, „dass die deutsche Führung die Krise auf dem Balkan als willkommene Gelegenheit angesehen hat, einen Präventivkrieg auszulösen.“ Wissenschaft ringt um Wahrheit.

Auch innerlich müssen wir wahrhaftig sein, wahrhaftig gegen uns selbst, also ehrlich und bereit zur Auseinandersetzung mit unseren Motiven und Verhaltensweisen. Wir Menschen neigen dazu, uns für besser zu halten, als wir sind. Denken wir an das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner. Das Urteil der Feinde über uns kann richtiger sein als unser eigenes Urteil. Wir neigen auch dazu, uns etwas vorzumachen, die Wirklichkeit zu unseren Gunsten zu verfälschen. Nein, man muss sich der Wirklichkeit stellen, ob sie nun angenehm oder unangenehm ist. Man muss vor allem einen Blick für die Gefahren haben. Im März – im März 1945 – sagte der deutsche Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, der Krieg sei noch nicht verloren – im März 1945. Manche Menschen neigen zur Überschätzung, manche zur Unterschätzung, und das ist beides gleich gefährlich, sich zu überschätzen oder sich zu unterschätzen. Es war das Verhängnis Deutschlands, dass Hitler sich selbst überschätzte und seine Gegner unterschätzte. Das war das Verhängnis Deutschlands.

Die Herrschaft der Wahrheit in der Mitwelt können und sollen wir auch fördern, indem wir für die Wahrheit eintreten, indem wir die Unwissenden belehren. Das ist ja ein Werk der geistlichen Barmherzigkeit: Unwissende belehren. Wir müssen auch die religiöse Wahrheit verteidigen. Im Augenblick ist das Eintreten für die Wahrheit von Ehe und Familie so gefragt wie nie. Die Homoideologie und die Genderideologie sind eine Verkehrung der Wahrheit. Sie missachten die Schöpfungsordnung Gottes. Da heißt es: eintreten für diese Schöpfungsordnung – gelegen oder ungelegen. Und man macht sich ja unbeliebt, wenn man für die wahre Ordnung in Ehe und Familie eintritt. Aber das muss man in Kauf nehmen – gelegen oder ungelegen! Die Wahrheit sprechen heißt: sich zu Christus, dem König der Wahrheit, bekennen. „Die, die Wahrheit sprechen, sind die Söhne Gottes“, sagt der heilige Thomas von Aquin. Die die Wahrheit sprechen, sind Söhne oder Töchter Gottes.

Amen.

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