Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Natur und Übernatur (Teil 12)

1. Juni 2003

Die Entscheidung zwischen Gott und Welt

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben am vergangenen Sonntag erkannt, daß ein Herz, das Gott bei sich eingelassen hat, auch die ganze Welt in sich trägt. Denn Gott kommt zum Menschen nicht ohne seine Geschöpfe. Freilich kann sich da die Frage erheben: Genügt nicht Gott? Muß man denn auch noch zu den Geschöpfen gehen? Ist es notwendig, daß man, nachdem man Gott besitzt, auch die Geschöpfe bei sich aufnimmt? Ja, es ist notwendig. Es ist so notwendig, daß man Gott gar nicht allein haben kann ohne die Geschöpfe. Denn so sagt der heilige Johannes: „Wer behauptet Gott zu lieben, aber seinen Bruder nicht liebt, der ist ein Lügner.“ Es gibt das Doppelgebot der Gottesliebe und der Nächstenliebe, und das eine verpflichtet uns so sehr wie das andere. Und trotzdem ist es ein schweres Problem: Gott oder der Mensch. Sollen wir zu Gott gehen oder zu den Menschen? Sollen wir bei Gott bleiben oder bei den Menschen verharren? Es ist ein schweres Problem, ob wir Gott und die Welt, das Gebet und die Arbeit, Gottesdienst und Weltdienst, Feiertage und Werktage vereinigen können. Ich meine, die Lösung liegt darin, daß es nur ein Ziel gibt, aber viele Wege, und daß wir diese Wege endlos gehen müssen; 1. ein Ziel, 2. viele Wege, 3. ein endloses Gehen.

Daß es nur ein Ziel geben kann, ist deswegen klar, weil Gott konkurrenzlos ist. Er ist über allem, und er ist vor allem. Gott teilt seine Endgültigkeit als Ziel mit keinem Geschöpf. Das Höchste und das Letzte kann nur Gott sein, kein Geschöpf. Und da heißt es, daß wir wählen müssen, entweder Gott oder die Geschöpfe. Als letztes Ziel kommt nur Gott in Frage. Dann heißt die Frage: Gott oder das Geld, Gott oder die Macht, Gott oder die Lust. Da muß eine Entscheidung gefällt werden, denn diese Entscheidung erläßt uns Gott nicht.

Diese Entscheidungen zwischen Gott und dem Geld oder Gott und der Macht oder Gott und der Lust ist uns täglich aufgegeben. Aber es kann eine Entscheidung noch ganz anderer Art auf uns zukommen, denn es heißt nämlich: Gott oder der Mensch. Auch für reife und weise, auch für heilige und gottnahe Menschen kann in diesem verworrenen Leben die Entscheidung eines Tages anstehen: Entweder Gott oder der Mensch. Er spürt die Pflicht, einen Menschen gehen zu lassen, einen Menschen zu verlassen um Gottes willen. Das ist immer dann der Fall, wenn ein Mensch zwischen Gott und das eigene Herz tritt. Immer dann, wenn wir spüren, daß ein Mensch uns von Gott trennt, immer dann, wenn ein Mensch gottgegebene und gottgewollte Pflichten uns übertreten läßt, immer dann ist die Entscheidung klar: Hier muß Gott der Vorzug vor dem Menschen eingeräumt werden. Und wir wissen, daß Gott uns dann zwingt, zu sagen: Du mußt wählen, entweder Gott oder diesen Menschen. Das gilt für jeden Verheirateten. Ich sprach einmal mit einem lieben Freund, und wir redeten über die Ehelosigkeit des Priesters. Wir waren uns einig, der Priester muß von Anfang an und immer in seinem Leben den Verzicht leisten. Aber mein Freund sagte: „Das ist für den Ehemann genau so.“ Auch er kann einen Partner zu finden meinen, der anziehender ist als seine gegenwärtige Frau, und auch er muß dann verzichten. Immer, wenn ein Mensch zwischen Gott und die Seele tritt, ist der Verzicht verlangt, ist der Wille aufgerufen, den Verzicht zu sprechen, und muß der Mensch sagen: Mein Gott und mein alles, was habe ich im Himmel, und was will ich auf Erden außer dir!

Freilich kann auch in einer solchen Situation das Herz mitsprechen. Es muß dann ein Mensch den anderen zwar gehen lassen, aber er braucht ihn nicht wegzustoßen. Es kann die Trennung in Mitleid, in Nächstenliebe, unter Tränen geschehen, aber sie muß geschehen. Sie kann in einer Weise geschehen, die das Erbarmen des Herzens verspüren läßt, und eine solche Trennung ist dann versöhnlich. Als der Herr erkannte, daß seine Stadt und sein Volk sich ihm versagten, da hat er nicht über seine Stadt und sein Volk geflucht, sondern er hat über sie geweint. Als der reiche Jüngling nicht imstande war, die Wahl zu vollziehen zwischen dem Reichtum und dem Meister, da hat Jesus ihn nicht verachtet, sondern er hat ihm traurig nachgeschaut. Und so muß es auch sein für den, der irdische Werte um Gottes willen, der einen Menschen um Gottes willen verläßt. Keine Verachtung, kein Haß, keine Bitterkeit darf in ihm sein; niemand kann in einem solchen Augenblick die Welt reiner lieben als der Mensch, der sie um Gottes willen verläßt. Ein Ziel, ein einziges Ziel, und das kann nur sein Gott.

Aber zu diesem Ziele führen viele Wege, und diese Wege kann und muß der Mensch wählen. Wir können überall anfangen, wenn wir nur treu durchhalten. Man kann anfangen mit dem Menschen, indem man edel, hilfreich und gut ist. Aber dann muß man weiter gehen und aufsteigen zu Gott. Man kann auch anfangen mit Gott, indem man fromm ist, indem man betet, indem man Gottesdienst besucht, aber dann muß man weitergehen zum Menschen. Gott erläßt es uns nicht, zum Menschen zu gehen und dem Menschen zu dienen. Wir können also den Weg verschieden beginnen, aber wir müssen ihn zu Ende gehen. Jede Liebe ist nur eine Knopse. Die Liebe zu Gott ist eine Knospe, die aufblühen muß, indem sie uns zu einem guten, gütigen, reifen und großzügigen Menschen macht. Und die Liebe zu den Menschen ist eine Knospe, indem sie uns emporhebt von jeder Arbeit, von jedem Werk, von jedem Menschen, von jedem Beruf zu Gott. Immer müssen wir von Gott zum Menschen gehen oder vom Menschen zu Gott.

Wir dürfen nur nicht müde werden; wir müssen nur durchhalten. Unsere Liebe darf nicht welk werden. Und das ist so schwer,  meine lieben Freunde. Die mit einem Menschen beginnen, die einen Menschen zu lieben beginnen, hören schon nach kurzer Zeit wieder auf. Uns Priestern klingen die Liebesschwüre in den Ohren, die von Verliebten gemacht werden, und nach wenigen Jahren, manchmal nach Monaten sehen wir, wie sie einander nichts mehr zu sagen haben. Und die mit Frömmigkeit beginnen, die mit Gott anfangen, die werden nach kurzer Zeit wieder lau und kalt, und von der Begeisterung des Anfangs ist wenig zu spüren. Es muß mit der Liebe zu Gott und zu den Menschen wie mit einem Strom sein. Der Strom schwillt im Laufe seines Weges an und wird dann brausend, wenn er sich in das Meer ergießt. So ähnlich-unähnlich muß es mit unserer Liebe zu Gott und zu den Menschen sein. Viele Wege führen zu Gott und zum Menschen. Ob jemand aus einem Dorf kommt oder aus einer Großstadt, ob er einen Handwerkerberuf hat oder ob er geistig tätig ist, ob er in einer Einöde lebt oder unter vielen Menschen, immer und überall führt ein Weg zu Gott. Es ist auch nicht einmal entscheidend, in welche Verhältnisse er geboren wird, oder welche Verhältnisse er sich selbst schafft, jeder Weg führt nach Hause, wenn nur ein starker, ein treuer, ein tapferer Wille im Menschen ist. Jeder Weg führt nach Hause. Die Menschen verderben sich so viel, sie schaffen Trümmerfelder, aber eines können sie nicht, nämlich den Weg zu Gott abschneiden. Aus jeder Wirrsal, aus jeder Mühsal, aus jeder Trübsal führt ein Weg zu Gott.

Der rechte Schächer war in seinem Leben seltsame Wege gegangen. Als sein Leben nun wirklich zu Ende war, da war er plötzlich und unversehens daheim. Es mag ihm selbst unglaublich geklungen haben, was er von dem Gekreuzigten in der Mitte zu hören bekam: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Es mag ihm selbst unglaublich vorgekommen sein. Und doch, er war zu Hause. So wird es auch bei uns sein, wenn wir die Wege, die wir anfangen, zu Ende gehen, sei es, daß wir sie bei Gott beginnen oder bei den Menschen. Sie alle müssen zu Gott führen und in dieses große Meer einmünden.

Ein Ziel, viele Wege, und wir müssen endlos gehen. Ja, wir dürfen kein Wegstück auslassen. Wir müssen einen jeden Weg bis zum Ende durchschreiten, wir dürfen uns nicht hinsetzen und müde werden, wir dürfen nicht aufgeben und träge sein, sondern wir müssen die Wege, die Gott uns führt, gehen. Es muß ein Gehen zu Gott sein in unserem Denken, in unserem Lieben und in unserem Wirken. Ein Gehen muß es sein in unserem Denken. Wir dürfen nicht nur Gott in unserer Seele tragen, wir müssen auch die Welt in unsere Seele aufnehmen, und wir dürfen nicht bei einem Geschöpf verharren, sondern wir müssen auch zu Gott gehen. Und wäre es das zauberhafteste Geschöpf, es darf uns nicht abhalten, zu Gott zu schreiten. Gott ist das große Geheimnis unseres Lebens, und die Welt wird unverständlich ohne Gott. Aber auch Gott ist der große Beweger und Unruhestifter, der unserem Geist und unserer Seele immer neue Anstrengungen zumutet. Die Welt ohne Gott ist finsterer als der Tod, aber auch die Welt mit Gott ist geheimnisvoll wie eine Mitternacht.

Wir müssen Gott und den Menschen, Gott und die Welt in unserer Liebe tragen. Es wäre schön und süß, in Gott sich auszuruhen, in Gott zu verharren, aber wenn wir aus Trägheit und Gleichgültigkeit nicht weiterschreiten zum Geschöpf, dann verlieren wir auch Gott. Es wäre süß und schön, in einer sichtbaren und fühlbaren Kreatur, in einem vielleicht zauberhaften Geschöpf auszuruhen und sich einzurichten, aber des Gehens darf kein Ende sein, sonst kommt der Engel des Herrn und stößt uns in die Seite und sagt: Steh auf und geh, du hast noch einen weiten Weg vor dir.

Wir müssen auf Gott und den Menschen zugehen in unserem Wirken. Wir sind nicht wie die Erzengel, die vor Gott stehen und Gott anbeten, sondern wir müssen hinaus in die Ferne und unser Werk verrichten. Und wenn es noch so weit entfernt scheint von Gott, es ist für Gott getan. Und ebenso dürfen wir nicht in seichten und leichten Gewässern dahinplätschern, in äußerer Betriebsamkeit uns erschöpfen; wir müssen zur Einsamkeit Gottes aufsteigen und Gott suchen. Wir brauchen beides, die Feiertage und die Werktage, wir brauchen die Kirche, und wir brauchen die Arbeitsstätten, wir brauchen die feiertägliche Sammlung, und wir brauchen die Hingabe an unser Werk. Wir sollen vollkommene Menschen werden, aber wir müssen zugleich mehr als Menschen werden, nämlich Gotteskinder. Wir sollen auch nicht nur begnadete Menschen werden, sondern auch schöpferische, auch tätige Menschen. Es gibt eine Frömmigkeit, die den Menschen austrocknet und verkümmern läßt. Es gibt aber freilich auch eine Tätigkeit, die die Blüte, die der Mensch bedeutet, nicht zur Frucht kommen läßt, weil sie nicht von Gott befruchtet ist.

Das also ist es,  meine lieben Freunde, ein endloses Gehen bei Tag und bei Nacht, von der Dunkelheit in die Helle und wieder zurück, von Gott zum Menschen und wieder zurück, von der Arbeit zur Feier und wieder zurück, ein endloses Gehen, bis wir angekommen sind an dem Punkte, wo Gott unser ein und alles ist.

Amen.

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