Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Natur und Übernatur (Teil 10)

18. Mai 2003

Das Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Freiheit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag hatten wir uns vor Augen geführt, wie schwierig es ist, im Verhältnis zu unserem Nächsten immer das rechte Verhalten zu finden. Soll ich mich wehren oder soll ich dulden? Soll ich kämpfen oder soll sich leiden? Wenn nun nur der Mitmensch da wäre, dann könnte diese Spannung durch eine große, weise Liebe gelöst werden. Aber es ist eben nicht nur der Mitmensch da; es sind viele Menschen, es ist die Menschenmasse da, es ist die Gesellschaft, der Staat, es ist die Kirche da. Und das ist eine überpersönlicheMacht, und diese überpersönliche Macht läßt sich in einem Wort zusammenfassen. Sie tritt uns entgegen als Gesetz. Und dieses Gesetz beschränkt uns. Das spüren wir jeden Tag, Gesetze beschränken uns; Gesetz und Freiheit sind ein Gegensatz, und dieser Gegensatz muß bewältigt werden. Das ist unsere sittliche Aufgabe, das ist unsere religiöse Aufgabe. Schon die ersten Christen haben diese Spannung zwischen Gesetz und Freiheit gespürt. Da ist Paulus aufgestanden, der große Herold der Freiheit, der christlichen Freiheit gegenüber dem Mosaischen Gesetz. „Hie Moses, hie Christus!“ So hieß damals die Losung, und Paulus war der Wortführer derer, die sagten: Das Mosaische Gesetz, sofern es nicht mit dem sittlichen Naturgesetz übereinstimmt, ist abgetan. Das Mosaische Gesetz ist durch das Gesetz Christi erlöst worden und abgelöst worden.

Diese Kämpfe liegen weit hinter uns; das ist unser Problem heute nicht. Aber die vielen Gesetze, die uns umgeben – vom Staat, von der Kirche, von der Gesellschaft, von der Etikette, von der Mode, von der Wissenschaft, von der Technik – diese vielen Gesetze bedrängen uns und heischen eine Antwort. Es besteht eine Spannung zwischen den Gesetzen und unserer Eigenart und unserer Entwicklung, unseren Wünschen, unseren Leidenschaften. Diese Spannung muß gelöst werden. Wir wollen deswegen in einem Dreischritt versuchen, hinter diese Spannung zu kommen. Wir wollen sprechen von der Geltung des Gesetzes, von der Wohltat des Gesetzes und von der Erfüllung des Gesetzes.

Das erste, was wir überlegen wollen, ist die Geltung des Gesetzes. Das Gesetz tritt ja an uns heran mit dem Anspruch, zu gelten, d. h. es ist eine Übermacht, es ist eine Macht, der wir uns unterordnen sollen. Der Grund dieser Geltung ist die Wirklichkeit; denn hinter jedem Gesetz steht, sofern es ein gültiges Gesetz ist, eine Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit heischt von uns Anerkennung. Diese Anerkennung vollziehen wir, indem wir dem Gesetz gehorchen. Das Gesetz gilt. Es drückt eine Gegebenheit aus, und diese Gegebenheit müssen wir anerkennen. Wenn wir das nicht tun, dann geht sie über uns hinweg, wie die Sonne über uns aufgeht oder der Regen über uns fällt, je nach der Gesetzlichkeit der Natur. Und so gibt es eben die Gesetze der Technik, die uns lehren, wie die Naturkräfte zu beherrschen sind. Es gibt die Gesetze der Psychologie, die uns kund machen, wie Menschen zu behandeln sind. Es gibt Gesetze des Staates, die das Zusammenleben der Menschen ordnen. Es gibt Gesetze der Völkerordnung, die einen Frieden und eine Harmonie zwischen den Nationen aufrichten wollen. Es gibt Gesetze der Wissenschaft, die zu rechten und echten Ergebnissen führen, wenn sie beachtet werden. Und es gibt Gesetze der Kunst, die das Schöne gestalten und dem Häßlichen wehren. Diese Gesetze sind natürlich nicht alle auf einer Ebene aufgetragen. Die Gesetze haben eine Abstufung. Es ist von vornherein zu erkennen, daß das Gesetz, welches das menschliche Leben betrifft, ein anderes ist als jenes Gesetz, welches unsere Haustiere angeht. Es besteht also eine Abstufung, und deswegen müssen die Gesetze je nach ihrer Wertigkeit, nach ihrer Bedeutung, nach ihrem Rang beobachtet und beachtet werden. Die Gesetze sind vielfältig und zahlreich. Aber die Zahl ist nicht immer eine Gewähr für die Güte. Es können Gesetze auch ihre Geltung verlieren, etwa wenn sie übermäßig sind, wenn sie, wie es beispielsweise in der Zeit des Dritten Reiches war, geringfügige Vergehen mit enormen Strafen belegen. Wenn man für das Anhören ausländischer Sender mit dem Tode bestraft werden kann, dann sieht jeder, daß hier ein Unverhältnis besteht, daß ein solches Gesetz nicht gelten kann, keine Geltung beanspruchen kann. Und so ist es mit manchen anderen Gesetzen, die der Staat erläßt. Anders ist es mit den Gesetzen der Kirche. Was die Kirche an Gesetzen von Gott her verkündet, das ist untrüglich und unveränderlich. Das sittliche Naturgesetz bleibt immer gleich; es gibt keine Änderung. Und was göttliches Recht ist, bleibt göttliches Recht in alle Ewigkeit.

Zur Geltung des Gesetzes tritt die Wohltat des Gesetzes. Die Gesetze wollen uns wohltun, ja, man kann sagen: Nur die Gesetze, die den Menschen wohltun, sind echte, wirkliche, geltende Gesetze. Ein Gesetz, das in keiner Weise mehr eine Wohltat wäre, ein solches Gesetz wäre hinfällig. Die Wohltat, welche die Gesetze bedeuten, kann man mit drei Begriffen umschreiben: Die Gesetze sind eine Bändigung, sie sind eine Befreiung, und sie sind eine Erhebung.

Die Wohltat des Gesetzes besteht erstens in einer Bändigung. Wir wissen doch alle, meine lieben Freunde, daß in uns etwas ist, was gebändigt werden muß. Wir spüren doch alle die Unholde in der eigenen Brust. Wir wissen doch, daß wir zum Verbotenen neigen. Nitimur in vetitum. – Wir neigen zum Verbotenen! Und dann muß das Gesetz diese Neigungen überwinden, dann muß das Gesetz kommen, damit wir nicht der Laune, der Leidenschaft und der Gewalt nachgeben, sondern der Vernunft und dem Geist und der Liebe und der Wahrheit. Das Gesetz dient der Bändigung der Leidenschaften, der Launen. Wenn wir wahrheitsliebend sind, erkennen wir, daß wir dieser Bändigung bedürfen. Ein jeder von uns braucht solche Bändigung, zumindest in bestimmten Stunden. Freilich, wenn ein Gesetz nicht mehr der Bändigung, sondern der Fesselung dienen würde, wenn ein Gesetz nicht mehr die Laune und die Leidenschaft niederhalten, sondern erwecken würde, wenn es an die Stelle der Übereinkunft die Sprache der Gewalt setzen würde, dann wäre es ungültig. Gesetze, die nicht mehr das Menschentier, das Tier im Menschen, bändigen, haben ihre Daseinsberechtigung verloren.

Die zweite Wohltat des Gesetzes lautet: Befreiung, Befreiung von der Enge, von der Ratlosigkeit, von der Weglosigkeit. Wir haben doch alle die Erfahrung gemacht, was für Stimmen in unserem Inneren rufen, Stimmen der Höhe und Stimmen der Tiefe, Stimmen von Engeln und Stimmen von Dämonen. Wir wissen doch alle, daß unsere Einfälle nicht immer Einsprechungen Gottes sind und daß wir der Führung bedürfen und der Befreiung von unserer irrigen Meinung, daß wir zur Klarheit geführt werden müssen, daß wir wissen müssen: Das ist mein Beruf, das ist mein Weg, das ist mein Ziel. Diese Aufgabe soll das Gesetz leisten. Es kommt ja aus der Wirklichkeit, und es führt zur Wirklichkeit, wenn immer es ein rechtes Gesetz ist. Am deutlichsten sehen wir das an den Gesetzen unserer Kirche. Meine lieben Freunde, man hat der katholischen Kirche – und in wachsendem Maße – den Vorwurf gemacht, daß sie in der Zeit des Dritten Reiches nicht genug für die Juden getan habe. Diesen Vorwurf habe ich immer für unberechtigt gehalten; denn die Kirche hat immer das verkündet, was allen Menschen, und damit auch den Juden, nützlich und notwendig war, nämlich die allgemeine Menschenliebe, die allgemeine Nächstenliebe. Wer sich an die Kirche gehalten hat, der hat auch das rechte Verhältnis zu den Juden gehabt. Das kann ich bezeugen. Das kann ich bezeugen aus eigenem Erleben, aus dem Erleben meiner Verwandtschaft. Diejenigen, die aus dem Glauben gelebt haben, haben sich der Juden angenommen unter eigener Lebensgefahr. Jawohl, das kann ich bezeugen. Wer mit der Kirche lebt, der weiß, wohin er gehen muß und wie er gehen muß. Wer mit der Kirche lebt, der weiß, wie das Familienleben gestaltet werden muß, um friedlich zu sein. Wer mit der Kirche lebt, der weiß, wie die Kinder erzogen werden müssen, damit sie zu rechten Menschen herangebildet werden. Wer mit der Kirche lebt, der weiß, wie er in seinem Leben mit den Gütern dieser Erde umgehen muß. Gebrauchen, als gebrauchten wir nicht. Die Wohltat des Gesetzes besteht tatsächlich darin, daß es uns befreit von dem Irrtum, von der Ratlosigkeit, von der Weglosigkeit und daß es uns zu dem führt, was uns zum Heile gereicht.

Das ist nämlich der dritte Sinn, die dritte Wohltat des Gesetzes, daß es uns erhebt, daß es uns von unseren niederen Banden befreit und erhebt zu einer höheren Kultur. Es führt uns nämlich zur Sachlichkeit. Das Gesetz ist ja Ausdruck der Wirklichkeit, und ein gutes Gesetz, ein rechtes Gesetz ist Ausdruck der objektiven Gegebenheit und führt uns zu dieser Gegebenheit. Es führt uns zur Sachlichkeit, es lehrt uns den rechten Gebrauch des Umganges mit den Menschen und mit den Dingen und mit der Natur. Es gibt uns eine seelische Kultur. Dazu gehört freilich die Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor den Dingen und vor den Menschen und vor allem vor Gott. Und zur Ehrfurcht wiederum ist nur fähig, wer demütig ist, wer sich beugen kann, wer sich einordnen kann in das große Ganze. Das ist also die dreifache Wohltat des Gesetzes: Bändigung, Befreiung und Erhebung.

Es bleibt uns noch zu betrachten die Erfüllung des Gesetzes. Die Erfüllung des Gesetzes ist nicht damit abgetan, daß man den Buchstaben des Gesetzes erfüllt; denn die Buchstabentreue kann mit einer inneren Untreue verbunden sein. Das Gesetz wird nur dann wirklich und echt und nach seinem inneren Gehalt erfüllt, wenn wir uns seine Intention zu eigen machen, wenn wir uns nicht zähneknirschend beugen, sondern wenn wir die Vernünftigkeit des Gesetzes anerkennen und es uns zu eigen machen als eine Förderung unseres Menschentums. In dieser Weise wird das Gesetz zu einer Erfüllung unserer Seele; indem wir das Gesetz erfüllen, erfüllen wir unsere Seele. Wir werden auf diese Weise zu höheren Menschen emporgehoben. Wir können freilich Gesetze nur erfüllen, wenn wir nachdenken, wenn wir die Gesetze nach ihrer Wertigkeit und ihrem Rang beachten. Es kann durchaus sein, daß wir zu ehrfürchtiger und verantwortungsvoller Kritik am Gesetz verpflichtet sind. Das kann notwendig sein. Wenn wir nach gewissenhafter Erforschung und nach Beratung mit weisen Männern und Frauen zu der Ansicht kommen, daß ein Gesetz schädlich ist, dann dürfen wir es, dann müssen wir es unbeachtet lassen.

Es ist auch keine Frage,  meine lieben Freunde, daß in unserem Staatswesen manche Gesetze sind, die vor Gott und seiner Ordnung nicht bestehen können. Wenn die rot-grüne Bundestagsmehrheit ein Gesetz beschließt, das die gleichgeschlechtliche Unzucht mit bestimmten Privilegien ausstattet, dann ist dazu zu sagen: Dieses Gesetz ist null und nichtig! Dieses Gesetz besteht vor Gott und vor denen, die Gott gehorchen, nicht. Das Gesetz ist eine Ermutigung für Unzucht und Perversion. Freilich muß eine solche Entscheidung nach gewissenhafter Überlegung und nach Beratung mit weisen Menschen gefällt werden. Aber wenn einmal diese Überzeugung feststeht, dann muß man sich auch zu ihr bekennen. Die Erfüllung des Gesetzes wird also darin bestehen, daß wir werten, daß wir gehorchen, daß wir den Unterschied der Gesetze uns vor Augen führen. Es kann ja sein, daß ein höherwertiges Gesetz mit einem niederwertigen zusammenstößt. Es gibt den Fall der Gesetzeskollision. In einem solchen Falle ist das höherwertige Gesetz vorzuziehen und das niederwertige unbeachtet zu lassen. Die Straßenverkehrsordnung gilt; sie ist notwendig, sie ist ein gerechtes Gesetz. Aber wenn die Not es gebietet, dann muß die Polizei oder der Arzt oder der Priester die Straßenverkehrsordnung einmal übertreten; denn wenn es um Menschenleben geht, um das Heil der Seelen, um die Gesundheit, um die Freiheit, dann muß das niederwertige Gesetz dem höheren weichen. Aber wiederum: Das kann nur von einem Menschen entschieden werden, der von der grundsätzlichen Übermacht des Gesetzes erfüllt ist, der weiß, daß die Gesetze Geltung haben, daß sie eine Wohltat sind und daß sie erfüllt werden wollen.

In der heutigen heiligen Messe beten wir ein wunderschönes Gebet am Anfang im Kirchengebet, in der Oration. Da heißt es, daß wir Gott bitten, er möge uns das lieben lehren, was er uns gebietet, und das begehren, was er verspricht. Dann werden wir innerhalb der Mannigfaltigkeit der Welt das Rechte finden. Das lieben, was Gott gebietet, das begehren, was er verspricht. Das macht uns zu wahren Erfüllern des Gesetzes.

Amen.

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