Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Natur und Übernatur (Teil 6)

6. April 2003

Das Verhältnis von Leistung und Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Unser Heiland Jesus Christus fordert uns auf zum Bittgebet: „Bittet, und es wird euch gegeben werden. Alles, was ihr den Vater in meinem Namen bitten werdet, wird er euch geben.“ Die Kirche hat diese Mahnungen ernst genommen. Es ist fast so weit gekommen, daß die Christen hauptsächlich und nur noch Bittgebete sprechen, daß sie weitgehend das Loben und Danken vergessen. Wie immer es aber um das Bittgebet bestellt sein mag, es erhebt sich immer wieder die schwere, dunkle Frage nach dem Erfolg des Bittgebetes. Werden wir denn erhört? Ja, es stellt sich noch eine weitere Frage ein, nämlich nach dem Sinn und Zweck des Bittgebetes. Wäre es nicht besser, wir würden selbst Hand anlegen, statt Hilfe von oben zu erwarten? Gibt es nicht das mißverständliche Wort: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“?

Vor einiger Zeit führte der Sudtiroler Bergsteiger Reinhold Meßner ein Gespräch mit einem anderen Bergkameraden, und der andere, der hohe Berge bezwungen hatte, sagte: „Ich hätte es nicht geschafft ohne die Hilfe Gottes.“ Da hat ihn Meßner ausgelacht: „Du hättest es genauso geschafft, auch wenn du nicht an Gott geglaubt hättest.“ Denn Meßner ist ein Ungläubiger.

Wie steht es also mit dem Verhältnis von Leistung und Gnade? Wie verhalten sich unsere Anstrengungen und die Hilfe von oben zueinander? Wir haben ein hehres Vorbild dieses Verhältnisses. Es gab einmal eine Frau, eine selige Frau, die Schönste von allen unter den Frauen, genannt Maria, und sie hat in ihrem Leben etwas geleistet. Sie war eine Magd des Herrn, und sie hat unter dem Kreuze gestanden, und sie hat ihrem Gott gedient. Aber bevor das alles war, bevor sie die Magd des Herrn war, bevor sie unter dem Kreuze stand, hat Gott sie begnadet. Gott ist ihr gleichsam vorausgelaufen mit seiner Gnade, auf daß sie in der Gnade sprechen konnte: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Worte.“ So wollen wir also heute überlegen: Wie verhalten sich denn Leistung und Gnade zueinander? Wir wollen dieses Verhältnis in einer dreifachen Hinsicht betrachten, nämlich erstens den Wert der Leistung, zweitens den Wert der Begnadung und drittens den Wert des Zusammenseins von Leistung und Begnadung.

Daß die Leistung einen Wert hat, wissen wir. Sie macht ja im wesentlichen unsere Persönlichkeit aus. Das gehört zu den unverlierbaren Errungenschaften unseres Geisteslebens, daß es nicht davon abhängt, wo einer herkommt, welche soziale Stellung er hat, ob er Besitz oder Reichtum angesammelt hat, was die Menschen von ihm halten. Das alles ist unerheblich gegenüber dem Wert seiner Persönlichkeit, gegenüber dem, was er kann und will und leistet. Die Leistung macht den Wert einer Persönlichkeit aus. Was einer aus sich herausholt, was er aus sich macht, das ist entscheidend, danach beurteilen wir die Menschen, und das ist auch das einzige, was wir eigentlich besitzen: den freien Willen und die Kraft dieses Willens, mit dem wir etwas schaffen und leisten. Das muß selbst Gott anerkennen. Gott muß sagen: Das ist dein Wille; das ist deine Leistung; das ist deine Tat. Und das wird in Ewigkeit uns nicht genommen werden.

 In diesem Sinne, meine lieben Freunde, gilt das Wort aus der Nachfolge Christi: „Du wirst im Guten nur soviel vorankommen, als du dir selbst Gewalt antust.“ Ja, wahrhaftig, es muß in uns ein Wille aufstehen, und dieser Wille muß zu einer Leistung führen, und durch diese Leistung müssen wir etwas schaffen und erreichen und erzwingen. Wir müssen etwas herausholen aus uns. Wer das nicht tut, der mindert den Wert seiner Persönlichkeit. Von den Kräften, Anlagen, Auswirkungen unseres Willens und unseres Schaffens hängt tatsächlich der Wert unserer Persönlichkeit ab.

Aber das ist nicht das einzige. Es gibt neben der Welt der Leistung auch die Welt der Begnadung. Wir sind ja nicht allein auf dieser Welt, sondern wir sind von Wesen umgeben, die wir sehen, hören, unsere Mitmenschen, und wir sind von Wesen umgeben, die wir nicht sehen und nicht hören, aber von deren Existenz wir wissen. Wir nennen sie Engel. Vor allem aber sind wir in der Hand Gottes, des Gottes der Erbarmungen und des Vaters der Gnade. Es gibt also etwas, was wir nicht erwerben durch eigene Leistung, sondern was uns geschenkt wird, was uns gegeben wird, wo wir empfänglich sein müssen, wo alles darauf ankommt, daß wir bereit sind, etwas entgegenzunehmen. Das geschieht schon bei Menschen. Wir müssen uns von Menschen beschenken lassen. Jeder ist auf Menschen angewiesen, die ihm entgegenkommen, die du zu ihm sagen, die ihm etwas gewähren, die ihm helfen. Man kann in einem weiteren Sinne diese Dienste, die die Menschen einander leisten, Gnade nennen, weil sie eben geschenkt sind, weil sie von dem einen dem anderen erwiesen werden. Erst recht aber ist natürlich Begnadung, was uns von Gott zukommt. Im Katechismus haben wir gelernt: Gnade ist jede geistliche Gabe, die uns Gott zu unserem Heile verleiht. Gar nicht schlecht, diese Definition. Gnade ist jede geistliche Gabe, die uns Gott zu unserem Heile verleiht. In dieser Welt der Gnade hängt alles davon ab, daß wir die Hände ausstrecken und sie uns füllen lassen. In der Welt der Gnade sind die gefalteten Hände mächtiger als die geballten Fäuste. In der Welt der Gnade ist die Selbsthingabe gewichtiger als die Selbstbehauptung. Ja, in der Welt der Gnade ist das Schweigen eindringlicher als das laute Reden. Die Heilige Schrift wird nicht müde, an vielen Stellen uns die Macht der Gnade vor Augen zu führen. Der heilige Johannes schreibt in seinem Evangelium: „Gleich wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.“ Nur durch das Bleiben in Christus bringen wir Frucht in unserem Leben. An einer anderen Stelle schreibt er: „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht.“ Wir werden von der Gnade gezogen. Und schließlich noch einmal an einer dritten Stelle schreibt Johannes: „Allen, die ihn aufnahmen, gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden, jenen, die an seinen Namen glauben.“ Auf das Aufnehmen kommt es an, auf die Bereitschaft, auf das Entgegengehen. Was der heilige Johannes geschrieben hat, das haben seine Apostel aufgenommen, etwa der heilige Paulus, wenn er im Epheserbrief schreibt: „Aus Gnade seid ihr erlöst, kraft des Glaubens. Nicht euer Verdienst ist es, es ist Gottes Geschenk.“ Und da wiederum die Äußerungen des Apostels nicht leicht zu verstehen sind, haben die großen Kirchenlehrer, vor allem der Lehrer der Gnade, Augustinus, die Wahrheit von der Notwendigkeit der Gnade deutlich herausgearbeitet. „Uns rettet nur eines“, schreibt Augustinus, „die Gnade unseres Erlösers Christus, unseres Herrn und Gottes.“ Uns rettet nur eines, die Gnade unseres Erlösers Christus, unseres Herrn und Gottes. Verkaufen kann sich der Mensch, aber sich zurückzukaufen ist er nicht imstande. Verlorengehen kann er, aber den Weg zurück muß ihn der Vater im Himmel geleiten. An einer anderen Stelle schreibt derselbe Augustinus: „Niemand ist imstande, das Gute, das er will, zu tun und das Böse, das er nicht will, zu lassen, außer durch Christi Gnade.“ Wir haben, rein psychologisch gesehen, manchmal die Meinung, daß es von uns abhängt, ob wir das Gute tun oder das Böse, aber nein, in unsichtbarer Weise wirken in unserer Seele göttliche Kräfte, eben die Kräfte der Gnade. Und deswegen ist es richtig: Niemand ist imstande, das Gute, das er will, zu tun und das Böse, das er nicht will, zu lassen, außer durch Christi Gnade.

Der Volksmund hat diese Wahrheiten der Evangelien und der Theologen in die Worte gefaßt: „Wen Gott nicht hält, der fällt.“ Ein sehr schönes Wort, ein richtiges Wort: Wen Gott nicht hält, der fällt. Ohne die Gnade sind wir verloren, nur mit der Gnade können wir unser Heil wirken. Deswegen ist neben dem Wert der Leistung und dem Wert der Begnadung auch der Wert des Zusammenseins von Leistung und Gnade zu bedenken. Dieses Zusammensein faßt die katholische Theologie in die Worte: Verdienst. Das Verdienst ist das Mitwirken des Menschen mit der Gnade. Das Verdienst ist das Eingehen auf die Gnade, ist das liebende Folgen der Gnade, ist das Annehmen des Gnadenzuges in unserer Seele. Und solche Verdienste gibt es. Der Mensch kann, von der Gnade bewegt, sich zum Guten hinwenden, er kann, von der Gnade gehalten, sich dem Bösen widersetzen. Wahrhaftig, diese beiden Welten der Leistung und der Gnade kommen im Verdienst zusammen. Die Theologie hat diese Wahrheit in die Worte gefaßt, wie sie beispielsweise der heilige Leo, der Papst Leo, uns übermittelt hat. „Das Reich Gottes“, schreibt er, „wird nicht den Schlafenden zuteil, sondern denen, die arbeiten und wachen im Dienste des Herrn.“ Da haben wir es, das Zusammensein von Leistung und Gnade: Das Reich Gottes wird nicht den Schlafenden zuteil, sondern denen, die arbeiten und wachen im Dienste des Herrn. Und ein anderer Theologe, kein gelehrter, aber ein frommer Theologe, nämlich der schlesische Theologe Angelus Silesius, hat dieselbe Wahrheit in die Worte gefaßt: „Es ist zwar wahr, daß Gott dich selig machen will; glaubst du, er will's ohne dich, so glaubest du zuviel.“ Wie schön und wie richtig! Es ist zwar wahr, daß Gott dich selig machen will; glaubst du, er will's ohne dich, so glaubest du zuviel. Es müssen also in unserem Leben Leistung und Begnadung zusammenkommen. Wir müssen wirken, solange es Tag ist, und wir müssen hoffen, solange ein Atemzug in uns lebt. Wir müssen auf die Gnade hoffen und in der Gnade uns bewegen, in der Gnade arbeiten, denn die Gnade macht uns nicht träge, die Gnade treibt uns an. Mehr, immer mehr, sagt die Gnade. Wer von der Gnade bewegt ist, der lebt in der Liebe, und die Liebe tut sich niemals genug. Die Liebe will ein Kreuz tragen, und es kann ihr gar nicht schwer genug sein. Die Liebe will eine Leistung vollbringen, und sie kann ihr gar nicht groß genug sein.

Das eben,  meine lieben Freunde, sehen wir wieder verwirklicht an der Jungfrau und Mutter Maria. Sie war die Magd des Herrn; sie hat ihr ganzes Leben im Dienste Gottes zugebracht. Sie war aber auch die geliebte Mutter, weil die Gnade sie dazu berufen hat. In ihr sind Gnade und Leistung eine Verbindung eingegangen wie kaum in einem anderen Menschen. Sie ist die geliebte Mutter, weil die Gnade sie getragen hat, und sie ist die Magd des Herrn, weil sie in der Gnade das Schwerste geleistet hat, das einer Mutter zugemutet werden kann, nämlich ihr Kind zu opfern für das Heil der Welt.

Amen.

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