Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Natur und Übernatur (Teil 1)

2. März 2003

Die Spannungen zwischen Gnaden- und Alltagsleben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

An einer Reihe von Sonntagen haben wir die Wunder und Geheimnisse Gottes betrachtet. Wir haben von den Dogmen gesprochen, die uns diese Geheimnisse künden. Wir haben von Gott und seiner Vorsehung, von Christus und seiner Menschwerdung, von der Kirche, von den Sakramenten, von der Gnade und von den Heiligen gesprochen, und wir haben erkannt, daß die Wirklichkeiten, die in den Dogmen ausgesprochen werden, von eminenter Bedeutung für unser Leben sind. Es sind wirklich lebendige, Leben gestaltende Dogmen. Von heute an wollen wir versuchen, den Lebenswert dieser Dogmen uns vor Augen zu führen, was sie für uns bedeuten, was wir mit diesen Dogmen anfangen sollen, wie diese Dogmen unser Leben prägen sollen.

Die Dogmen sind etwas Objektives. Sie wollen von uns angenommen und aufgenommen werden, und diese Annahme und Aufnahme nennt man Glaube. Die Dogmen sind Worte, Worte Gottes, die Gott durch den Mund der Kirche zu uns spricht. Diese Worte sollen wir hören, und das nennt man Glaube. Die Dogmen sind Forderungen, Forderungen, die Gott in ihnen an uns stellt. Die Antwort auf diese Forderung heißt man Glaube.

Die Wirklichkeit, die in den Dogmen ausgesprochen wird, ist anders als die sinnenfällige Wirklichkeit. Was wir mit den Fingerspitzen betasten, das ist wirklich. Für manche Menschen ist noch viel gültiger, was sie mit dem Gaumen aufnehmen, und das ist für sie das Allerwirklichste. Was wir mit den Ohren hören, das ist wirklich, und was wir mit den Augen sehen, das ist ebenfalls wirklich. Die Welt, in der wir leben, der Ort, an dem wir unser Leben vollziehen, das ist wirklich. Aber daneben gibt es noch eine andere Wirklichkeit. Neben der Erfahrungswirklichkeit steht die Wirklichkeit des Glaubens. Die können wir nicht sehen, nicht schmecken, nicht fühlen, und doch ist sie wirklich. Man darf die Wirklichkeit nicht danach bemessen, ob sie mit den Sinnen erkannt werden kann. Es gibt Wirklichkeiten, die unsinnlich sind und die mit den Sinnen nicht ergriffen werden können. Eine solche Wirklichkeit ist die Wirklichkeit des Glaubens.

Diese Wirklichkeit sollen wir uns vor Augen führen und uns an sie anpassen, so wie wir uns an die Wirklichkeit der Sinne anpassen. Wir nehmen die Gesetze der Physik, der Chemie und der Biologie ernst, und wehe dem, der sie übertritt, wehe dem, der sie mißachtet. Ernst nehmen sollen wir aber auch die Gesetze der Gnade und der Liebe und der Heiligkeit. Auch diese Gesetze sind ernst. Sie sind noch viel ernster als die Gesetze der Chemie und der Biologie und der Physik, denn sie sind näher bei Gott. Deswegen sind sie viel bedeutungsvoller als die Welt der Sinne. Auch in der Welt der Sinne ist Gott zu greifen, denn er ist der Schöpfer. Aber da ist er in einer großen Ferne, da ist er weit von uns weg. In der Welt des Glaubens ist er uns nahe, da ist er der süße Gast der Seele, da ist er unser Freund und unser Meister und unser Herr. Und deswegen ist diese Welt des Glaubens uns näher als die Welt der Sinne. Beide Welten sind es, in denen wir leben und leben müssen. Wir sind Wanderer in beiden Welten. Wir dürfen den Glauben nicht als Vorwand benutzen, um das Wissen zu mißachten. Wir dürfen die Übernatur nicht hernehmen, um die Natur zu mißachten. Wir dürfen nicht im Hinblick auf die Ewigkeit Zeit verlieren, und wir dürfen nicht um der Seele willen den Leib zerstören.

Wir sind wahrlich Bürger zweier Welten, und diese beiden Welten müssen wir zu vereinigen versuchen. Wir wollen deswegen drei Sätze über diese Welten aufstellen, nämlich: Die eine dieser Welten ist höher, die andere ist niederer; die eine dieser Welten ist nahe, die andere ist fern; die eine dieser Welten ist unendlich erfüllt, die andere dieser Welten ist unendlich bedürftig. Also zuerst: Die eine Welt ist höher, die andere Welt ist nieder.

Die Welt des Glaubens ist die Welt des Geistes, der Persönlichkeit, die Welt der Heiligkeit, der Gemeinschaft und der Freiheit. Diese Welt ist höher als die Welt der Sinne, in der wir uns bewegen, in der es zwar auch Geist, aber auch Leib und auch Schuld und auch Minderwertigkeit und auch Trieb und auch Instinkt und auch Haß gibt. Die Welt des Geistes, die Welt der Übernatur, die Welt des Glaubens ist eine höhere Welt. Und da erkennen wir ein Gesetz, das immer und überall gilt: Nach oben kommt man nur mit Mühe, mit Anstrengung, mit Aufgebot von Kraft. Nach unten geht es von alleine. Wenn wir also zu der Welt Gottes, zur Welt des Glaubens aufsteigen wollen, dann müssen wir uns anstrengen, dann müssen wir eine Willenskraft aufbringen, dann müssen wir uns bemühen. Dazu kommt ein weiteres. Wir alle spüren in uns einen Zug nach unten. In uns allen ist eine Kraft, die uns nieder zieht. Wir alle bemerken, daß es uns leichter ist, der Laune zu folgen als dem Entschluß, daß es bequemer ist, der Selbstsucht nachzugeben als der Selbstlosigkeit. Wir alle machen die Erfahrung, daß wir leichter dem Sinnlichen folgen als dem Geistigen. Deswegen ist es notwendig, zu kämpfen. Es ist uns ein Kampf aufgegeben, ein Krieg gegen uns selbst, gegen die Kräfte in uns, gegen die Unholde in der eigenen Brust, die nach unten ziehen. Ein solcher Kampf ist uns aufgegeben, und das macht das Christentum so unangenehm, so beschwerlich, so unbequem. Ja, das ist es! Genau das ist es: Es ist unbequem. Das Christentum ist unbequem! Wir spüren, wenn wir Christen sein wollen, daß wir nicht alles mitmachen können, daß wir nicht alles tun dürfen, was uns gerade einfällt. Wir spüren, wenn wir uns als Christen verstehen, daß wir anders leben müssen als diejenigen, die das Christentum hintangelassen haben. Wer sich zur heiligen Kommunion begibt, der kann nicht zu Hause ein Tyrann sein oder ein Kreuz, der kann nicht seinen Launen und Leidenschaften folgen, seinen Erregungen und Verstimmungen. Wer die Muttergottes verehrt, der kann nicht jede Frau als ein Spielzeug betrachten, das er haben möchte. Wer an Gott glaubt, an Gottes Güte und Gerechtigkeit, der kann nicht seiner Selbstsucht und seinem Eigennutz folgen. Wahrhaftig, wenn wir der höheren Welt des Glaubens nachleben wollen, dann müssen wir uns bemühen, dann müssen wir uns überwinden, dann müssen wir uns beherrschen., Denn die Welt des Glaubens ist eine höhere Welt als die Welt der Sinne.

Sie ist auch näher als die Welt der Sinne. Da wird man sagen: Ja, wieso? Die Welt der Sinne umgibt uns täglich. Was wir essen, was wir schmecken, was wir sehen, was wir hören, was wir greifen und was wir tasten, das ist uns doch unmittelbar gegeben. Wie kann da die Welt des Glaubens näher sein als die Welt der Sinne? O, man darf die Nähe nicht bemessen nach der räumlichen Entfernung, man muß die Nähe bemessen nach der Wichtigkeit, nach der Größe, nach der Bedeutung einer Welt. Und da ist die Welt des Glaubens uns viel näher als die Welt der Sinne; denn die Welt des Glaubens ist viel wichtiger, viel bedeutsamer als die Welt der Sinne, als die Welt, die uns täglich umgibt.

Das können wir uns leicht vor Augen führen, wenn wir uns an einige Tatsachen erinnern. Gewiß, meine lieben Freunde, der Tod ist eine Wirklichkeit, die uns im Augenblick noch nicht erfaßt, aber wir alle wissen, daß sie uns im nächsten Augenblick ergreifen kann. Wir können uns nicht beruhigen, wenn der Tod noch nicht vor der Tür steht, denn wir wissen nicht, wann er anklopft. Die Opferfeier auf den Altären mag winzig und unhörbar sein gegenüber dem Lärm der Welt, gegenüber dem Toben der Fastnachter. Das mag gegenüber diesem lärmenden und schreienden Radau der Welt versinken. Und doch ist sie wichtiger und bedeutsamer und größer als alles, was in der Welt sich tut. Gott ist uns nahe, seitdem er ein Mensch geworden ist, viel näher, als er vorher war. Er ist ein Mensch geworden, und seitdem gilt das Wort des Apostels Paulus: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Wir müssen also der Gefahr widerstehen, daß wir die Welt der Sinne, die Arbeit, das Gehalt, den Urlaub wichtiger nehmen als die Welt Gottes. Wir müssen darum ringen, daß wir die Welt des Glaubens über die Welt der Erfahrung setzen und ihr den Vorrang geben. Wir dürfen uns nicht von dem Toben der Maschinen und dem Kreischen der Autos den Glauben übertönen lassen. Eine Amsel singt, und man hört sie nicht, wenn die Maschinen rasseln; aber wenn man dieses Singen der Amsel überhört, das wäre nicht so schlimm, als wenn man die Wirklichkeit Gottes, die Einsprechungen Gottes, den Donner Gottes überhört, der an unser Ohr dringt, an unser inneres Ohr dringt. Diese Taubheit wäre viel schlimmer.

Die Welt des Glaubens ist eine höhere, sie ist eine nähere, sie ist auch drittens eine erfülltere Welt als die Welt der Sinne. Die Welt der Sinne ist bedürftig, und sie ist der Ergänzung, der Erfüllung mit der Welt Gottes bedürftig. Die Welt Gottes soll nämlich diese irdische Welt umfassen, erfüllen, durchdringen. Das ist gemeint, wenn der Apostel Paulus sagt: „Alles, was ihr tut, ob ihr eßt oder trinkt oder irgendetwas anderes tut, tut alles im Namen Gottes!“ Wir sollen also unser ganzes irdisches Tun erfüllen mit der Wirklichkeit Gottes. Wir sollen das irdische Tun hinaufheben auf eine größere Höhe, wir sollen ihm einen anderen Sinn geben. Wir sollen es in einen neuen Zusammenhang bringen; und das ist eben die Wirklichkeit Gottes. Es soll nichts mehr auf Erden sein, was nicht in Verbindung gebracht wird mit Gott, mit der Verherrlichung Gottes, mit der Ehre Gottes. Wir sollen es dann auch in einer neuen Weise und mit einer neuen Methode behandeln. Das heißt dann im einzelnen: Seitdem Christus, der Gottessohn, einen Leib angenommen hat, müssen wir den Leib anders behandeln als vorher. Seitdem Christus aus der Jungfrau Maria Fleisch annahm, müssen wir die Frau anders ansehen als früher. Seitdem Christus neben den Staat eine Kirche gesetzt hat, müssen wir das Staatsleben anders betrachten als früher. Und seitdem Christus am Kreuze gelitten hat und gestorben ist, hat das Leiden einen anderen Sinn bekommen.

Wahrhaftig, meine lieben Freunde, es ist unsere Aufgabe, in zwei Welten zu leben, in der Welt der Erfahrung und in der Welt des Glaubens, aber so, daß wir die Welt der Erfahrung durchdringen mit der Welt des Glaubens, daß unser ganzes Sein und Leben erfaßt wird von der Gnade, von der Ehre Gottes, vom Segen des Himmels. Das ist unsere Aufgabe: in zwei Welten zu leben, beide Welten zu vereinigen und auf diese Weise den Himmel zu gewinnen. Wir sind Söhne der Erde und Töchter der Erde, aber wir sind auch Kinder Gottes. Wir sind Erdenbewohner und sollen doch wandeln, als ob wir im Himmel wären. Wir sind Erdenbürger und leben als Erdenbürger und suchen doch zugleich die zukünftige Stätte. Wir sind Menschen, die so leben sollen, wie es Paulus sagt: Sich freuen, als ob die Freude schon vergangen wäre, besitzen, als wären wir besitzlos, weinen, als wären wir schon jenseits aller Tränen. Wir sind Bürger zweier Welten, und das bedeutet, wir sind von einer immerwährenden, unaufhebbaren Unruhe erfüllt, bis wir alles, was uns irdisch begegnet, mit der Welt Gottes erfüllt haben. Wir sind mit einer Spannung erfüllt, und die dauert so lange an, bis im Himmel die ewige Freude uns ergriffen hat.

Amen.

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