Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Jesus, unser Gott und Heiland (Teil 1)

21. April 1991

Die Wege zur Erkenntnis Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

 

Geliebte im Herrn!

Eines Tages stellte Jesus an seine pharisäischen Gegner eine merkwürdige Frage: „Was dünkt euch von Christus? Wessen Sohn ist er?“  Die Pharisäer gaben die Antwort: „Er ist der Sohn Davids“, also aus dem Stamme und Geschlechte des Königs David. Da entgegnete ihnen Jesus: „Wenn er Davids Sohn ist, wie heißt es dann im Psalm: ,Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde als Schemel deiner Füße bestelle'?“ Jesus zwingt seine Zuhörer zum Nachdenken. Wenn Gott den Messias Herr nennt, wie kann er dann der Sohn, der Sohn Davids, sein? Hier hat also Jesus seine Gegner in Verlegenheit gesetzt, und zwar mit einem Bibelwort. Sie sollen nachdenken und über die Wesensart Christi, also seiner selbst, sich ein gerechtes Urteil bilden.

Diese Frage,  meine lieben Freunde, ist bis heute aktuell: Was dünkt euch von Christus, wessen Sohn ist er? Und Sie wissen oder wissen es auch nicht, daß darauf heute im Innenraum der Kirche verwirrende, falsche, total verkehrte Antworten auf diese Frage gegeben werden, zum Beispiel die Antwort: Jesus ist der biologische Sohn Josefs. Also mit anderen Worten: Josef hat mit Maria ein Kind gezeugt. Solche Reden finden sich heute im Innenraum der Kirche. Andere stellen Jesus in eine Reihe mit Propheten. Unzweifelhaft hat Gott im Laufe der Geschichte Israels eine Fülle von prophetischen Männern erweckt, Amos und Isaias, Ezechiel und Jeremias und wie sie alle heißen. Und in diese Reihe soll nun Jesus Christus, unser Gott und Heiland, gestellt werden. Das heißt, man zerrt ihm den Königsmantel seiner Gottheit von der Schulter. Was dünkt euch von Christus? Wessen Sohn ist er? Das ist eine Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen, wenn immer wir unser Christentum, unser Christsein mit Bewußtsein und Überzeugung bejahen wollen.

Mit dieser Frage wollen wir uns heute und an den kommenden Sonntagen beschäftigen. Was dünkt euch von Jesus? Was dünkt euch von Christus? Wessen Sohn ist er? Jesus war, wie wir aus dem Glauben wissen, die Erscheinung Gottes in der Welt. In ihm ist Gott ein Mensch geworden. Aber diese Erscheinung Gottes in der Welt war eine Erscheinung in Verhüllung. Der Brief des Apostels Paulus an die Philipper schildert diese Verhüllung ganz deutlich, wenn er sagt: „Er, der in Gottesgestalt war, hat dennoch nicht geglaubt, das Gottgleichsein wie ein Beutestück festhalten zu sollen. Nein, er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an, wurde den Menschen gleich und ward im Äußeren als ein Mensch erfunden.“ Wenn man also Jesus angesehen hat, wenn man ihm begegnet ist, wenn man ihn gehört hat, dann traf man einen Menschen. Aber dieser Mensch barg in sich das göttliche Geheimnis. Er war in die Wirklichkeit, in die Herrlichkeit Gottes aufgenommen, seine menschliche Natur wurde getragen von einer göttlichen Person. Das war sein Geheimnis. Aber dieses Geheimnis war für die Zeitgenossen Jesu schwer zu durchschauen. Ich glaube, daß es vielleicht für sie schwerer war als für uns, in Christus seine göttliche Würde zu erkennen. Warum? Weil sie ihn noch nicht als den Erhöhten erlebt hatten, weil sie Seite an Seite mit ihm wanderten und auch seine menschliche Schwäche, seine Bedürfnisse nach Speise und Trank, sein Verlangen nach Ruhe und Schlaf kannten.

Dennoch darf man die Verborgenheit der Gottheit in Christus nicht übertreiben. Sie blitzte in seinen Reden und in seinen Handlungen auf. Es war auch damals genügend Licht da für den, der sehen wollte, freilich auch genug Dunkelheit für den, der nicht sehen mochte. Man konnte zum Glauben kommen, wenn man gutwillig war, aber es war auch möglich, verstockt zu bleiben und den Glauben abzulehnen. Der große französische Mathematiker Pascal hat diese Wirklichkeit einmal in die Sätze gefaßt: „Die Heilige Schrift enthält genug Klarheit, um die Auserwählten zu erleuchten, und genug Dunkelheit, um sie demütig zu machen. Sie enthält auch genug Dunkelheit, um die Verstockten zu verblenden, und genug Klarheit, um sie zu verdammen und unentschuldbar zu machen.“ Genau das ist der Tatbestand der Heiligen Schrift. Wir müssen selbstverständlich von ihr ausgehen, wenn wir uns an das Geheimnis Christi herantasten wollen. Wir lesen die Heilige Schrift zunächst einmal als ein geschichtliches Buch wie andere geschichtliche Bücher. Wir wenden dieselben Forschungsmethoden an, welche die Historiker ausgebildet haben für die Erkenntnis von profanen Schriften, und dieses Vorgehen ist legitim. Wir dürfen zunächst rein mit dem natürlichen Verstande, also auf historische und philosophische Überlegungen gestützt, die Heilige Schrift, die Bücher des Neuen Testamentes durchforschen.  Diese Weise, an das Neue Testament heranzugehen, ist eine Vorläuferin des Glaubens. Sie ist aber auch gleichzeitig eine Rechtfertigung für den Glauben, wenn man ihn schon gewonnen hat. Diese Methode der Forschung kann uns belehren, daß Jesus gelebt hat, daß er einen hohen Anspruch erhoben hat und daß er diesen Anspruch bewiesen hat und daß er Vertrauen verdient. Man darf also diese Weise, sich Jesus zu nähern, nicht einfach auslassen; das wäre intellektuell nicht redlich. Der Glaube wird uns von Gott geschenkt, er ist ein Licht, das Gott in unserer Seele anzündet. Aber neben dem Glauben und vor dem Glauben und hinter dem Glauben dürfen, ja sollen wir geschichtlich-philosophisch uns über Jesus Gewißheit zu verschaffen versuchen. Dieser Weg führt nicht ins Geheimnis hinein, aber er führt bis zum Rande des Geheimnisses, und es ist viel, diesen Weg durchschritten zu haben.

Wenn wir freilich die Schriften des Neuen Testamentes geschichtlich-philosophisch durchforschen, so müssen wir doch diese Arbeit in einer bestimmten Haltung vornehmen. Nämlich wenn es auch nur möglich ist, daß uns auf dem Antlitz Christi die Herrlichkeit Gottes aufleuchtet, wenn das nur möglich ist, dann muß man sich nähern in einer Weise, die diesem Gegenstand unserer Forschung angemessen ist. Jede Wissenschaft nimmt ihre Methode von ihrem Gegenstand. Anders ist das Vorgehen des Mathematikers, anders das des Naturwissenschaftlers, anders das des Historikers. Und wenn die Möglichkeit am Horizont erscheint, daß Gott, unser Herr und Schöpfer, der über uns Verfügungsmacht besitzt und dem wir verantwortlich sind, in der Geschichte auftaucht, dann muß man sich diesen Dokumenten nähern in der Gesinnung der Ehrfurcht, also der Scheu vor dem höchsten Sein und der Liebe zu dem höchsten Wert. Wer diese Haltung nicht hat, der besitzt nicht die rechte Methode, der ist von Vorurteilen befangen, der ist auf einem falschen Wege, um das Geheimnis Christi auch nur in Annäherung in den Blick zu bekommen.

Wenn wir also in dieser Weise uns der Heiligen Schrift nähern, dann stoßen wir auf die ältesten Dokumente. Das sind, geschichtlich gesehen, nicht die Evangelien. Die ältesten Dokumente sind die großen Paulusbriefe, also Römer, Galater, 1 und 2 Korinther. Das sind die ältesten neutestamentlichen Schriften. Sie stammen von einem Manne, dem unbedingtes Vertrauen gebührt, denn er war ja nicht ein leichtgläubiger Phantast, sondern ein kritischer Gegner des Christus, der die Anhänger dieses Weges verfolgte. Er hat sich also aus der Gegnerschaft durchgerungen zum Anhänger Jesu; deswegen ist sein Zeugnis für uns so wertvoll. Und er hat dann dieses Zeugnis für Jesus zum Inhalt seines Lebens gemacht, und er ist diesem Zeugnis zum Opfer gefallen im Jahre 67 oder 68 in Rom. Er ging auch den Ereignissen mit historischer Treue nach, er hat sie untersucht. Paulus war ein studierter Mann, nicht ein Fischer. Er hat also mit dem, was er gelernt hatte, den Weg zum Glauben beschritten. Er hat die Überlieferung befragt, vor allem den Petrus, und wir wissen, daß er sorgfältig dieser Überlieferung nachgespürt hat, wenn wir etwa an das 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes denken, wo er genau sechs Erscheinungen hintereinander aufzählt.

Natürlich sind die Hauptquellen des Lebens Jesu die Evangelien. Wir haben vier Evangelien. Die drei ersten faßt man zusammen unter dem Begriff synoptisch. Das ist ein griechisches Wort und bedeutet „zusammensehen“. Diese drei Evangelien sind nämlich miteinander eng verwandt, sie haben gleichsam eine ähnliche Sicht auf Jesus, während das Johannesevangelium etwas Besonders, wie wir gleich sehen werden, darstellt. Diese synoptischen Evangelien sind nun schlichte Dokumente, aus denen nicht die Ungelenkheit der Schriftsteller spricht, sondern die Treue zur Überlieferung. Ihre Erzählungen und ihre Berichte sind Sammelgut. Wir drüfen annehmen, daß das, was in den synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas) uns überliefert ist, vorher selbständig umherlief in einzelnen Erzählungen und Erzählungsgruppen; zum Beispiel ist die Passionsgeschichte schon früh zusammengefaßt worden. Und deswegen gibt es auch zwischen den drei Synoptikern wesentliche Übereinstimmungen. Sie schildern die Ereignisse im wesentlichen übereinstimmend in derselben Abfolge.

Es gibt die sogenannte formgeschichtliche Methode. Sie will erklären, welchen Weg die in den synoptischen Evangelien zusammengefaßten Erzählungseinheiten vor ihrer schriftlichen Fixierung genommen haben. Sie will also bestimmte Gesetze, ich würde eher sagen: Regeln, bestimmte Regeln entdeckt haben, wie sich das Erzählungsgut im Laufe von Jahrzehnten entwickelte. Richtig angewandt kann diese Methode zu bestimmten hypothetisch feststehenden Ergebnissen führen. Hypothetisch feststehenden, denn es war niemand dabei, wie sich diese Erzählungseinheiten entwickelten, das ist nachträgliche Konstruktion, und es ist gefährlich, hierbei von Gesetzen zu sprechen, denn Gesetze gelten ausnahmslos, Regeln dagegen dulden Ausnahmen. Ich würde deswegen lieber sagen, es mögen gewisse Regeln für diese Entwicklung vorhanden sein, aber die menschliche Psyche sprengt alle Regeln. Es kann auch anders gewesen sein. Und deswegen warne ich davor, die Thesen der formgeschichtlichen Methode als gesicherte Ergebnisse anzusehen. Die Sicherheit ist diesen Forschungen immer versagt, denn wir können die Vorgänge nur rekonstruieren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, aber im allgemeinen wird Vermutung auf Vermutung, Hypothese auf Hypothese gestülpt, so daß das Ganze einen unsicheren Charakter behält. Wir haben die Evangelien so, wie sie uns heute vorliegen, und haben sie auch so zu lesen, wie sie von den Schriftstellern gemeint sind. Diese Schriftsteller haben auch ihre schriftstellerischen Eigenarten. Sie haben nicht nur gesammelt, sie haben auch dem Ganzen einen bestimmten Zug aufgeprägt. Zum Beispiel Matthäus. Er stellt die Geschichte Jesu dar als die Erfüllung der alttestamentlichen Weissagung. Markus ist der Evangelist des Messiasgeheimnisses. Die Dämonen und die Besessenen wissen, daß Jesus der Messias ist, und sie rufen es aus. Aber Jesus droht ihnen. Er will nicht, daß die falsche Messiasidee, die politische Messiasidee auf ihn gestülpt wird. Deswegen Messiasgeheimnis. Lukas endlich, Lukas, der Arzt, hat ein besonderes Interesse für Jesus, den Sünderheiland, der gekommen ist, die Wunden der Seele und des Leibes zu heilen. Das ist also in Kürze die Eigenart der drei synoptischen Evangelien.

Das Johannesevangelium bildet eine ganz eigene Gattung von Schriftstellerei. Denn Johannes, der Lieblingsjünger, will nicht eine fortlaufende Geschichte von Jesus bringen, sondern er hat ein großes Ziel: Jesus von Nazareth ist der menschgewordene Gottessohn. Das will er zeigen. Nicht eine von der griechischen Philosophie erdachte Idee ist der Logos, sondern der historische Jesus von Nazareth, der menschgewordene Gottessohn, das ist der Logos, als die zweite Person der Gottheit, das Wort, das ewige Wort des Vaters. Deswegen beginnt sein Evangelium mit den wunderbaren Sätzen: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Dieses Wort, griechisch logos, das ist eben Jesus von Nazareth. Aber auch Johannes berichtet nur Selbsterlebtes. Auch er ist ein treuer Zeuge der Überlieferung. Es ist nicht so, wie ungläubige Theologen sagen, das Johannesevangelium sei der erste Leben-Jesu-Roman. Jawohl, das ist gesagt worden. Aber nein, auch das Johannesevangelium bietet Geschichte, freilich in der Sicht und in der Darstellungsweise des Johannes. Er sucht überall den göttlichen Hintergrund dieses Lebens deutlich zu machen. Er übersetzt die Worte Jesu in seine Sprache. Aber diese Übersetzung ist getreu und bei gutem Willen, und solchen guten Willen gibt es auch bei evangelischen Exegeten, kann man die Parallelen, die Übereinstimmungen zwischen dem Johannesevangelium und etwa dem Markusevangelium an Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Stellen nachweisen.

Das also,  meine lieben Freunde, ist der Bestand, von dem wir ausgehen wollen, wenn wir fragen: Was dünkt euch von Jesus? Wessen Sohn ist er? Wir beginnen, indem wir historisch-philosophisch uns um die Schriften des Neuen Testamentes, vor allem die Evangelien, bemühen und dabei gleichzeitig in der Haltung der Demut und der Ehrfurcht uns diesen Schriften zuneigen, die ja nicht nur menschliche Schriftstellerei, sondern göttlich inspirierte Schriften sind. Der Hauptautor dieser Schriften ist Gott. Die Menschen waren sein Griffel, aber der Haupturheber ist Gott. Deswegen müssen wir in den geschilderten Haltungen der Demut und der Ehrfurcht uns diesen Schriften nahen. So besteht Aussicht, daß sie uns den Blick freigeben auf das Geheimnis, in dessen Innenraum nur der Glaube, die neue Sehkraft, die uns die Verbindung mit Jesus verschafft, hineinführt.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt