Predigtreihe: Jesu Gottesbild (Teil 3)
3. August 2025
Jesu Gottesbild III
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Jesu geistig-sittliche und religiöse Gestalt steht als etwas völlig Neues vor uns. Sie hat weder ein Analogon in der Menschheitsgeschichte, noch kann sie von ihrer Vorwelt und Umwelt aus restlos begriffen werden. Das letzte, das entscheidende Verständnis seiner Person kann uns vielmehr nur Jesus selbst aufschließen. Er allein kann wissen, was es denn eigentlich um ihn ist, welchen Ort er im Zusammenhang des Wirklichen einnimmt und welches der Sinn seines Lebens ist. Was sagt uns Jesus von sich selbst? Vergegenwärtigen wir uns das Bild Jesu, wie es uns in den Evangelien entgegenleuchtet, so ist von vornherein zu erwarten, dass seine Selbstaussagen ganz und gar das Gepräge seiner Persönlichkeit tragen, das Gepräge seiner Wahrhaftigkeit, Reinheit und Schlichtheit, dass sie also in grellem Kontrast zu den lärmenden, aufdringlichen Apotheosen der in der hellenistischen Zeit auftretenden Wundermänner, Könige und Fürsten (Apg 12,22) nichts Gewalttätiges, Verkrampftes und Unnatürliches an sich haben.
Sein erstes und aufreißendes Wort an die Menschen ist denn auch keineswegs eine Selbstoffenbarung; es ist die Frohbotschaft von der herangekommenen Gottesherrschaft. Der Täufer hatte in der Wüste dem jüdischen Volk zugerufen: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Mt 3,2). Jesu Verkündigung lautet ähnlich: „Die Zeit ist erfüllt, und die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an die Frohbotschaft“ (Mk 1,25). Aus dieser Verkündigung wachsen seine Selbstbekenntnisse organisch heraus; sie sind ein Stück seiner Botschaft vom Gottesreich.
Was meint Jesus mit dem Gottesreich, dem Himmelreich, der Herrschaft Gottes? Das Reich Gottes ist eine Herrschaftsmacht Gottes, ein fest umgrenztes, in sich abgeschlossenes Reich der Heiligen, das vom Himmel herniederkommt und alle rein irdischen Reiche verdrängen wird. Dieses Reich hat Jesus im Auge, wenn er mit der Botschaft auftritt: „Die Zeit ist erfüllt, und die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen.“ Seine Sendung steht im Dienst dieses Gottesreiches. Auf welchem Weg will er das Gottesreich bereiten? Seine Verkündigung lautet: „Tut Buße und glaubt an die Frohbotschaft.“ Jesu Aufgabe ist also zunächst die des Bußpredigers, der gleich Johannes der Täufer die Gewissen aufrütteln und dem heiligen Willen Gottes, der Herrschaft Gottes unterwerfen soll. Denn nur dort kann Gott wirklich zur Herrschaft kommen, wo sein heiliger Wille über die Gewissen Macht bekommen hat. Jesu Aufruf zur Buße ist darum nach seiner positiven Seite die Botschaft vom allerheiligsten Willen Gottes. Das möchte er in die Gewissen eingraben: „Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden.“ Der ist ihm Bruder und Schwester, der den Willen Gottes tut (Mt 12,50). Jesus greift hier die Linie der Propheten, eines Isaias, Jeremias und Oseas auf und führt sie zu Ende. Er ist ihr Erfüller und Vollender. Jesus weiß das. Und darum weiß er sich auch als den geborenen Lehrer Israels, den einzigen Lehrer, den niemand ersetzen kann. „Ihr nennt mich den Lehrer und Herrn, und ihr habt recht, denn ich bin es“ (Joh 13,13). „Ihr sollt nicht Lehrer genannt werden, denn einer ist euer Lehrer, Christus“ (Mt 23,10).
Doch Jesu Selbstbewusstsein erschöpft sich nicht darin, der Bringer einer neuen Sittlichkeit zu werden. Buße und Gerechtigkeit sind nicht das Reich selbst, sondern der Weg zu dem herankommenden Reich. Sie sind ein Vorbereitendes, eine Bedingung und Voraussetzung für den Eintritt in dieses Reich. Das Reich selbst wird von Gott allein gegeben, es ist eine Gottestat. Es ist ein Reich, das „seit Grundlegung der Welt den Gesegneten seines Vaters bereitet ist“ (Mt 25,34). Das Reich Gottes versteht Jesus als ungebrochene, ewige Lebensgemeinschaft mit dem Vater und sich selbst. Es ist ein Reich, dessen Kommen noch in der Zukunft liegt, um das man beten muss: „Zu uns komme dein Reich.“ Ja, es ist bereits im Anzug: „Die Zeit ist erfüllt, die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen“ (Mk 1,15). Jesus, der Lehrer, wird hier zum Propheten, vor dem die Zukunft aufgeschlossen liegt und der davon Zeugnis gibt. Jesus sieht das Kommen des Reiches in naher Zukunft, ja, es ist schon im Anzug. Es ist Jesus ein Anliegen, das Menschenleben, jedes Menschenleben in das ungewisse Dämmerlicht des Endtages und des Endgerichts zu stellen. Jeder Augenblick eines jeden Menschenlebens steht unter der Krise, unter der ungeheuren Möglichkeit eines sofortigen Gerichtes. Aber es steht nur unter der Möglichkeit. Wann diese Möglichkeit Wirklichkeit wird, darüber vermeidet es Jesus grundsätzlich, sich auszusprechen. Er wusste von einem dem Entscheid des Vaters allein vorbehaltenen Kommen des Menschensohns zum Endgericht. Und doch verhieß er ein Kommen des Menschensohnes noch in dieser Generation. Diese Antinomie löst sich im Lichte seines Sendungsbewusstseins. Indem er sich selbst als den dereinstigen Weltenrichter und als den König des neuen Reiches bezeugt, tritt für sein Bewusstsein dieses kommende Reich bereits in seine Gegenwart herein. In seiner prophetischen Schau fasst er den gegenwärtigen Richter und das kommende Gericht, den gegenwärtigen König und sein kommendes Reich, das gegenwärtige Geschlecht und den heranbrechenden neuen Äon zu einem einzigen Wirklichkeitserlebnis zusammen. Das große Kommende ist für ihn schon da, nämlich in seiner Person, und es wird sich noch in dieser Generation machtvoll offenbaren. Aber weil er sich als den weiß, in dem dieses große Kommende schon in nächster Zukunft in immer neuen Offenbarungen und Machttaten aufquillt, als den, von dem jenes Letzte Gericht und jene Gottesherrschaft schon in dieser Generation ihren Ausgang und Fortgang nimmt, darum kann er in einem wahren Sinn das Kommen des Reiches für die allernächste Zeit verkünden. Sein Wort vom Reich und vom Kommen in Kraft gilt gleichmäßig von der Endzeit wie von der Gegenwart, oder vielmehr: Es gilt von der auf die Endzeit innerlich hinbezogenen, in sie aufgenommenen Gegenwart. Jesu ganze Verkündigung wurzelt in seinem Bewusstsein, dass er, der Galiläer, der Mensch von heute, zugleich der künftige Richter der Welt und zugleich der König des herankommenden Gottesreiches ist. In einem völlig neuen Licht tritt uns von da aus seine Gestalt entgegen. Wir sehen Jesus nicht mehr zwischen Blumen, Kindern, Kranken und Sündern, sondern auf dem Richter- und Königsstuhl Gottes. Die fallenden Sterne sind sein Gewand. Er ist nicht bloß der erhabene Lehrer und der glühende Prophet, sondern der Herr der herannahenden Endzeit. Er ist unsere Entscheidung, das Schicksal der Welt.
Jesus gebrauchte von sich eine merkwürdige Selbstbezeichnung. Er nannte sich den Menschensohn. Dieses Wort stammt von dem Propheten Daniel (Dan 7,13). Er sprach von einem „Menschensohnähnlichen“, der mit den Wolken des Himmels zur Rechten des Hochbetagten erscheinen werde. So oft Jesus auf die Endzeit zu reden kommt, spricht er von dem Menschensohn, der zur Rechten der Kraft Gottes sitzt und auf den Wolken des Himmels erscheint (Mk 13,26; 14,62; Mt 24,30; Mk 8,38). Mit einer Selbstsicherheit ohnegleichen weiß er von Anfang an diese Prophetie in seiner Person erfüllt. Im Bild Daniels vom Menschensohn offenbart er sich der Welt als den König des neuen, vom Himmel herabsteigenden Reiches. Sein Berufungs- und Sendungsbewusstsein kulminiert also im Überzeitlichen und Ewigen. Sein irdisches Leben ist von aus nur das Vorspiel dieser ewigen letzten Wirklichkeit. Sein eigentliches, tiefstes Wirkungsfeld ist das Reich des Unsichtbaren, des Überirdischen, des Göttlichen, dort, wo der Thron des Altbetagten ist. In seiner Person bricht die Ewigkeit in die Zeit herein, das Übergeschichtliche in die Geschichte, das Göttliche ins Menschliche. Es handelt sich um eine Epiphanie von der Rechten der Kraft Gottes her, um eine Erscheinung des Himmlischen im Gewande des Menschlichen. In ihm, dem Menschensohn, ist das ewige Gottesgericht und das ewige Königtum bereits erschienen. Darum ist er die Krise der Menschen, „bestimmt zum Fall und zur Auferstehung vieler in Israel“ (Lk 2,34). Er ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben, und der nun zum Eckstein geworden ist (Mt 21,42). Das Verhalten zu seiner Person in der Zeit entscheidet für alle Ewigkeit. „Wer mich vor den Menschen bekennt, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel bekennen. Wer mich vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich verleugnen vor meinem Vater, der im Himmel ist“ (Mt 10,32). „Selig, wenn die Leute euch hassen um des Menschensohnes willen“ (Lk 6,22). Es liegt hier klar zutage: Indem Jesus die Prophetie Daniels vom Menschensohn auf sich bezieht, überschreitet sein Bewusstsein die Grenzen aller menschlichen Möglichkeiten. Sein Anspruch dringt bis in die Wolken des Himmels, bis an die Seite Gottes.
Das Menschensohnbewusstsein Jesu erschöpft sich nicht mit der Prophetie Daniels. Er gibt dem alten Wort vom Menschensohn einen neuen Inhalt. Ein Großteil seiner Selbstaussagen vom Menschensohn bezieht sich nicht auf das Endgericht, sondern auf sein Erlöserwirken in der Gegenwart, ganz entsprechend dem Ineinander von Dereinst und Jetzt, von Ewigkeit und Zeit, das seine Reichspredigt kennzeichnet. Indem er die Gegenwart in ihrer Not und in ihrer Sünde in das grelle, helle Licht seines Endgerichtes stellt, weiß er sich als den, der diese Not und diese Sünde hinwegnehmen, der die Menschen für das neue Reich erlösen wird. Als Menschensohn ist er Richter und Seligmacher in einem. Darum ist seine Botschaft auch im Hinblick auf die Gegenwart Frohbotschaft. „Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht. Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, und sahen es nicht“ (Lk 10,23f.). Weil er, der Menschensohn, Herr und König des dereinstigen Gottesreiches sein wird, ist er auch schon in der Gegenwart der rechte Ort des Heils. „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken“ (Mt 11,28). Seine eschatologische Aufgabe setzt also die messianische voraus, oder vielmehr: sie bedingen sich beide. Mit Vorliebe gebraucht deshalb Jesus die Selbstbezeichnung Menschensohn gerade dann, wenn er auf sein Erlöserwirken in der Gegenwart zu sprechen kommt. „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren war“ (Lk 19,10). „Der Menschensohn“ ist es, der den guten Samen sät, die Kinder des neuen Reiches (Mt 13,37f.). Es steht dem „Menschensohn“ zu, das sittlich-religiöse Wollen von allen fremden Bindungen zu befreien, selbst wenn es sich um ein so Heiliges wie den Sabbat handelt. „Der Menschensohn ist auch Herr über den Sabbat“ (Mk 2,28). Ja, „der Menschensohn“ tut selbst das, was Gott allein tut, er vergibt Sünden. „Auf dass ihr wisst, dass der Menschensohn Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben, sprach er zum Gichtbrüchigen: nimm dein Bett und geh“ (Mk 2,11). Hier, in der Vergebung der Sünden, erreicht das gegenwärtige Erlösertum des Menschensohns seine höchste Spitze und sein messianischer Anspruch den stärksten Ausdruck. Hier dringt Jesus nicht bloß an die Seite Gottes. Er dringt in das Herz Gottes ein. Und weil er davon erfüllt ist, dass sich das Erlösertum des Menschensohnes nach dem Willen des Vaters in Leiden und Kreuz vollenden wird, darum nennt er sich den Menschensohn auch immer dann, wenn er von seinem Leiden spricht.
Immer wieder hebt er in seinen Leidensweissagungen hervor: Der Menschensohn muss leiden (Mk 8,31; 9,12; Mt 16,21; Lk 9,22). „Der Menschensohn ist nicht gekommen, bedient zu werden, sondern zu dienen und sein Leben als Lösegeld hinzugeben für die vielen“ (Mk 10,45; Mt 20,28). Indem Jesus dies sagt, verschmilzt ihm das Bild des Isaias vom leidenden Gottesknecht mit der Prophetie Daniels vom Menschensohn zu einer einzigen großen Vision. In dem einen kleinen Wort vom Menschensohn verbergen sich ihm die ungeheuersten Spannungen seines Selbstbewusstseins. Bis zum Himmel weiß sich Jesus erhöht, und in den Staub der Erde sieht er sich hinabgestoßen. Er ist gekommen, zu richten und zu herrschen. Und doch ist er hinwiederum gekommen, zu dienen und für die Menschen zu sterben. König des Himmelreichs ist er und ein Knecht der Menschen zugleich. War der Ausdruck „Christus“, der Gesalbte, der Messias vordem mit den jüdischen Vorstellungen belastet, dass der kommende Messias irdischen Geblüts sein werde, so lenkte er nunmehr die Herzen zum Menschensohn, zur Rechten des Altbetagten, zum Seligmacher der Gegenwart, zum Richter und König der Zukunft. Das ist das Neue, Aufrüttelnde des Anspruchs Jesu. Es stand in schroffstem Gegensatz zu dem, was die Juden seiner Zeit von dem kommenden Messias glaubten und hofften. Darin ist denn auch das erregende Moment des Dramas von Gologotha zu suchen. Hätte sich Jesus als einen Christus im jüdisch nationalen Sinne bekannt, so wäre er nicht gekreuzigt worden, selbst dann nicht, wenn man seinen Anspruch bekämpft und verworfen hätte. Denn nach dem geltenden jüdischen Recht war ein solcher Anspruch, auch wenn er unberechtigt schien, keine Gotteslästerung und darum kein todeswürdiges Verbrechen. Erst dadurch, dass Jesus in ernstester Stunde die feierliche Frage des Hohenpriesters: „Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?“ nicht bloß bejahte, sondern dass er in schroffstem Bekenntnis mit jener Wahrheit und Klarheit, die sein Wesen war, hinzufügte: „Aber ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn sehen sitzend zur Rechten der Kraft und kommend auf den Wolken des Himmels“ gab er der immerhin mehrdeutigen Frage des Hohenpriesters einen eindeutigen Sinn und eine eindeutige Antwort. In Fesseln geschlagen, sieht er sich zur Rechten der Kraft. Vor dem irdischen Richter stehend, weiß er sich auf dem Richterstuhl Gottes. Gibt es eine größere Paradoxie und ein entsetzlicheres Ärgernis? „Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und schrie: Er hat Gott gelästert. Was brauchen wir noch Zeugen? Seht, jetzt habt ihr die Lästerung gehört. Was dünkt euch? Sie antworteten und sprachen: Er ist des Todes schuldig. Da spien sie ihm ins Angesicht und schlugen ihn aufs Haupt“ (Mt 26,65ff.). Jesus starb. Jesus musste sterben, weil die Menschen zu klein und zu eng waren, zu stumpf und zu niedrig, um an sein himmlisches Geheimnis zu glauben. Er starb, weil er der Menschensohn war.
Wo solch Gewaltiges, heilig Erhabenes, wo solch Göttliches in Frage kommt, da kann uns die letzte, entscheidende Antwort nur Gott selber geben. Kniend zu den Füßen Jesu, seine heiligen Hände umschlungen haltend und nicht von ihm lassend, schreien wir zum Herrn: Gott, Gott, wo ist dein Zeugnis? Gott hat dieses Zeugnis im Wunder der Auferstehung unter das Leben Jesu gesetzt. „Diesen Jesus hat Gott auferweckt.“ Ihn hat Gott „zum Herrscher und Heiland erhöht zu seiner Rechten“. „Gott hat ihn durch seine Auferweckung von den Toten bei allen beglaubigt.“ Des sind wir Zeugen – nicht bloß so wahr wir leben, sondern so wahr wir sterben.
Amen.