Predigtreihe: Jesu Gottesbild (Teil 1)
20. Juli 2025
Jesu Gottesbild I
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Jesus von Nazareth, Sohn Gottes und Kind Marias, ist der Inhalt der christlichen Religion. Ihn müssen wir kennen, ihn müssen wir lieben, ihm müssen wir folgen, wenn unser Leben gelingen und in Gottes Herrlichkeit einmünden soll. Um ihn besser kennen zu lernen, wollen wir uns am heutigen Sonntag und an den folgenden Sonntagen mit seinem Wesen und seinem Leben befassen. Zuerst wollen wir fragen: Wie steht Jesus zu Gott, dem Allmächtigen und Allheiligen? Im Vordergrund der religiösen Wirklichkeit Jesu steht der allwirkende, schöpferische Gott. Es ist nicht der weltenferne, streng jenseitige, schweigende Gott des zeitgenössischen Hellenismus, zu dem er betet. Es ist auch nicht der Gott der Mystik, der entrückte Ort der Seligen, zu dem nur der verzückte Geist aufzusteigen vermag. Es ist der allschaffende, allwirkende Gott des Moses und der Propheten. „Der Vater wirkt, und auch ich wirke“ (Joh 5,17). Sein Gott kleidet die Lilien. Er nährt die Raben. Und wie das Leben der Natur wirkt er das Leben der Geschichte. Alle führenden Geister der Menschheit, die Propheten und der Täufer, sind von ihm gesandt. Wie das Schaf seinem Hirten, so gehört der Mensch seinem Gott (Lk 15,6). Alle Erschütterungen und Kriege, alles Große und Kleine im Weltgeschehen, ist Gottes Tat. Die ganze Menschheitsgeschichte ist für Jesus ein Offenbarwerden des lebendigen Gottes. Und weil Jesus dem schöpferischen Willen seines Vaters in allen Dingen und Menschen begegnet, darum sieht er diese Dinge und Menschen nicht von außen in der Fragwürdigkeit ihrer Erscheinung. Er sieht sie von innen, in ihrer wesenhaften Bezogenheit zum Willen Gottes, als Offenbarung seiner schöpferischen Macht. Darum nimmt er diese Dinge und Menschen in die Liebe auf, mit der er seinen Vater liebt. Seine Weltliebe ist angewandte Gottesliebe. Jesus liebt alle Menschen und Dinge, weil sie ihm nicht bloß ein Zeichen, sondern eine Erscheinung des göttlichen Willens sind. Sein Zugang zu den Dingen erfolgt von Gott aus, nicht von den Menschen und den von ihnen erstellten Kausalitätsreihen. Jesus sieht die Dinge dort, wo sie eben aus der Hand des Schöpfers hervorquellen. Er sieht sie in dem lebendigen Fluss ihres Geschaffenwerdens. Und darum unterstehen diese Dinge grundsätzlich und jeden Augenblick dem göttlichen Anruf.
Jesus weiß um die Freiheit und Unbedingtheit des göttlichen Willens. Er weiß, dass hinter den Dingen nicht eine tote Mechanik, nicht irgendein in Naturgesetzen sich blind auswirkendes Fatum steht, sondern absolutes Leben und Geist, absolute Bewegtheit und Spontanität, die Freiheit Gottes. Jesus lebt von dieser Freiheit. Gott ist ihm der absolute freie Wille, das absolute freie Können. Jesus hatte den Jüngern vorgetragen, wie schwer es für den Menschen ist, in das Reich Gottes einzugehen: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Reich Gottes.“ Da erschraken die Jünger und sprachen: Wer kann dann selig werden? Jesus gibt zur Antwort: „Bei Gott ist alles möglich“ (Mk 10,27). Wer diesem absoluten Können vertraut, der kann, „wenn er keinen Zweifel im Herzen hat, zu diesem Berg sagen: heb dich hinweg und stürze dich ins Meer, und es wird geschehen“ (Mk 11,22f.). Jesus kann seinem Vater so Unglaubliches zutrauen, weil er den wirkenden Gott überall und jederzeit unmittelbar am Werk sieht. Gott ist ihm die allernächste, die handgreifliche Wirklichkeit, das Allererste, was ihm in den Dingen und Menschen entgegenkommt, der eigentliche geheime Sinn alles Seins, die Wirklichkeit aller Wirklichkeiten. Jesus ergreift das schöpferische Wirken Gottes unmittelbar in dem Jetzt und Hier der Dinge. Es ist ihm derart selbstverständlich und natürlich, dass seine Seele von nichts schmerzlicher berührt wird als vom Unglauben und Kleinglauben der Menschen. Seine vertrauten Jünger sind ihm die „Kleingläubigen“ (Mt 6,30). Als der Sturm auf dem See die Jünger in Angst und Schrecken versetzt, fragt er sie in aller Ruhe: „Was seid ihr furchtsam, ihr Kleingläubigen?“ (Mt 8,26). Als Petrus bei dem Versuch, zu dem über den See wandelnden Meister zu gelangen, zu sinken begann und um Rettung rief, herrscht ihn der Herr an: „Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ (Mt 14,31). Als die Jünger vergessen hatten, Brot mitzunehmen in die Wüste, fragt er sie: „Was macht ihr euch Gedanken, ihr Kleingläubigen, dass ihr kein Brot habt?“ (Mt 16,8). In diesem schauenden Erleben des allwirkenden Gottes gründet die Selbstsicherheit und Zuversicht, mit der Jesu menschliches Bewusstsein und menschliches Wollen, die Möglichkeit des Geschöpflichen durchbricht, um die Möglichkeiten Gottes zu verwirklichen, Wunder und Zeichen zu vollbringen, nicht nur Teufelsaustreibungen und Krankenheilungen, sondern auch die Erweckung von Toten. „Ich weiß, Vater, dass du mich allzeit erhörst“ (Joh 11,42). Derart ist sein menschlicher Wille in den göttlichen Schöpferwillen eingegangen und darin aufgenommen, dass es gleichsam ein einziger Wille ist. Psychologisch gesehen sind darum seine Wunder ein überwältigendes Bezeugnis der unbedingten Verbundenheit seines menschlichen Willens mit dem Allmachtswillen des Vaters, Berge versetzender Glaube, himmelstürmendes Vertrauen. Darum auch das ehrfürchtig Zurückhaltende, Fromme, Lautere, Diskrete seines Wunderwirkens. Nichts liegt Jesus ferner als der Anspruch, ein Wunderarzt oder ein Thaumaturg zu sein. Ein Wunderwirken, das nicht unbedingte Hingabe an den göttlichen Willen wäre, das also irgendwie eigener oder fremder Selbstsucht diente, weist er in der Wüste als teuflische Versuchung weit von sich. Wo diese Selbstsucht im Spiel ist, wie bei seinen Landsleuten in Nazareth, da „kann er keine Wunder wirken“ (Mk 6,5). Er kann es nicht, weil hier der Vater sein Nein spricht, und der Wille des Vaters ist Anfang und Ende seines eigenen Wollens und Könnens. Jesu Wunder sind ein einziges, unerhörtes Ja zum wirkenden, schaffenden Gott, sind Gebet, ein Gebet freilich, das wie keines Menschen Wort in das Herz Gottes drang und die Tiefen der geschaffenen Natur aufriss.
Das also ist Jesu Frömmigkeit in ihrem ersten Aspekt: das unmittelbare Schauen und Erleben des allwirkenden Gottes. Damit ist aber zugleich seine andere Gewissheit wesenhaft verknüpft, die vom allheiligen Gott. Der absolute Wille Gottes zum Werden und Sein der Dinge ist zugleich auch absoluter Wille Gottes zum Wert, zum Reinen und Heiligen, zum Guten und Vollkommenen, das er selbst ist. So sehr ist Jesu menschliche Seele vom Schauer des allein heiligen Gottes berührt, dass ihr im Lichte dieser unendlichen Wertfülle Gottes der eigene menschliche Wert, das eigene Gutsein in nichts zerrinnt. Der reiche Jüngling fragt Jesus: „Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?“ Jesus entgegnet: „Was nennst du mich gut? Nur einer ist gut, Gott allein“ (Mk 10,18). Dieser heilige Gott steht in der Seele Jesu, blitzt aus seiner Verkündigung, verklärt sein eigenes Leben. Seine Verkündigung ist zu einem guten Teil die Botschaft vom allerheiligsten Willen Gottes. Für dieses eine Notwendige gilt es, alles andere daran zu geben. Jesus steht hier ganz und gar in der Linie des Alten Testamentes, im Besonderen der Propheten. Er reinigt die alttestamentliche Verkündigung von allem Äußerlichen, Gesetzlichen, rein Kultischen. Nicht der Zehnt von Pfefferminze, Anis und Kümmel ist das Wichtigste im Gesetz, sondern Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue (Mt 23,23). Wenn es sich darum handelt, alte Eltern zu versorgen, dann kann kein Tempelopfer von dieser Pflicht entbinden (Mt 15,5f.). Der Wille Gottes ist wesenhaft Wille zum Sittlich-Guten, zu dem, was Gott in zehn Geboten vom Menschen fordert, vor allem, was er in seinem „größten und vornehmsten Gesetz“ (Mt 22,38) zur Pflicht aller Pflichten erhoben hat: „Du sollst Gott deinen Herrn lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deinem ganzen Gemüt und den Nächsten wie dich selbst“. Hier arbeitet Jesus den heiligen Willen Gottes in seiner ganzen Reinheit heraus, befreit ihn von allem menschlichen Beiwerk und vereinfacht dadurch das sittliche Gesetz: „Auf diesen zwei Geboten ruht das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt 22,40). So vertieft und erfüllt er das Gesetz bis in seine letzten Möglichkeiten und bis zu seinen geheimsten Forderungen. Der Wille des allheiligen Gottes greift bis in die innersten Wurzeln der menschlichen Neigungen und Gedanken. Dort ist der gute Mensch, wo das Herz gut ist. Und dort ist der schlechte Mensch, wo das Herz verdorben ist. Für Jesus gibt es keine Übergänge zwischen Gut und Böse. Auch die Sünder und Zöllner, die er liebt, sind ihm wirklich Sünder, wirklich Ungerechte und Kranke. Der verlorene Sohn ist ihm wirklich ein Verlorener. Gutes und Böses sieht Jesus in schroffer Gegensätzlichkeit als Ja und Nein. Religion ist ihm restloser Gehorsam gegenüber dem fordernden Gott, Gehorsam bis zum Äußersten. Darum gibt es in ihr Verdienst und Lohn, Missverdienst und Strafe, Himmel und Hölle. Gerade in dem Gegensatzpaar Lohn und Strafe, Himmel und Hölle offenbart sich ihm der absolute Gegensatz von Gut und Böse, das ewige Ja und Nein der Heiligkeit Gottes. Mit unerbittlicher Wucht stellt Jesus die Menschen vor dieses Ja und Nein. Es war nicht zuletzt diese herbe Ausschließlichkeit seiner Forderungen, welche die Gewissen der Menschen traf. Er predigt wie einer, der Gewalt hat, wie einer, der das Gericht hat, ja, der das Gericht ist.
Und wie er predigte, so war er der verkörperte Wille des allerheiligsten Gottes. Wie der animalische Mensch vom Brot, so lebt er von diesem Willen. „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat“ (Joh 4,34). Wo immer wir nur Jesus in den Evangelien sehen und hören, in der Wüste, am Krankenbett, beim Hochzeitsgelage und am Kreuz, immer ist er daran, den Willen des Vaters zu tun. Immer streut er in Wort und Werk das Samenkorn des Gotteswortes aus, auch wenn es auf steiniges Erdreich fällt. Selbst wenn er müde am Brunnen sitzt, schöpft er der Samariterin Wasser des Lebens. Auch wenn er zu Gaste ist, gibt er mehr, als er empfängt. Sein Weg ist ein fortgesetzter Weg zur Höhe. Und er geht ihn gerade da, wo am steilsten ist. Unbekannt ist solch ein Höhenweg in der Geschichte der Menschen, ihrer Großen und Größten. Ein Jeremias, ein Paulus, ein Augustin, ein Buddha, ein Mohammed – man kann ihr Leben nicht beschreiben, ohne zugleich von gewaltigen Erschütterungen und Wandlungen und von ihren seelischen Niederlagen zu berichten. Jesu Leben allein verläuft ohne Krisen und ohne ein seelisches Erliegen. Sein erster und sein letzter Tag leuchten in der herben Klarheit des allerheiligsten göttlichen Willens.
Amen.