Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Das Gewissen (Teil 1)

10. April 2016

Das Gesetz und das Gewissen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Im Evangelium nach Johannes spricht Jesus: „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich lieb hat“ – wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich lieb hat. Er knüpft also die Liebe an den Gehorsam. Die Geschöpfe sind verpflichtet, die Gebote, die Gesetze, die Normen des Schöpfers zu kennen und zu beobachten, ob sie uns entgegentreten in der Offenbarung oder in der Natur, denn die Natur ist auch von Gott geschaffen, und ihr Sein enthält ein Sollen. Wir lernen die Gebote kennen im Unterricht, in der Predigt, aus Büchern wie dem katholischen Katechismus. Die Gebote Gottes werden als das Sittengesetz bezeichnet. Das Sittengesetz ist die objektive Regel des sittlichen Handelns. Das Sittengesetz ist außerhalb von uns; es muss also zu uns kommen. Das Organ, welches das Sittengesetz uns nahe bringt, ist das Gewissen. Durch das Gewissen tritt in unser Bewusstsein das Gesetz Gottes. Das Gewissen ist gewissermaßen die Empfangsstelle für die von Gott ausgehenden Wellen seiner Gebote. Das Gewissen ist eine Tatsache, in der Menschheit von Anfang an bezeugt und verbreitet wie das menschliche Seelenleben überhaupt. Die göttliche Offenbarung lehrt uns die Tatsache des Gewissens schon in der Urzeit der Menschheit. Das böse Gewissen zeigte sich bei Adam und Eva nach dem Sündenfall. Als die ersten Menschen das Gebot übertreten hatten, da überkam sie die Furcht vor Gott, vor seiner Strafe, und sie versteckten sich in den Sträuchern des Gartens. Das ist selbstverständlich eine bildliche Erzählung, aber der Kern dieser Erzählung bedeutet: Es gibt ein Gewissen, das sich meldet, wenn der Mensch Böses getan hat. Es meldete sich auch bei Kain. Als er seinen Bruder erschlagen hatte, da wurde er voll Angst unstet und flüchtig. Im Neuen Testament ist wiederholt vom Gewissen die Rede. Die klassische Stelle findet sich im Brief des Apostels Paulus an die Römer. In diesem Schreiben heißt es: „Die Heiden zeigen, dass das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, indem ihr Gewissen ihnen Zeugnis gibt. In diesem Sinne sind sie sich selbst Gesetz.“ Es ist dem Paulus damals zu tun gewesen um den Unterschied zwischen Juden und Heiden. Die Juden hatten ja das Gesetz, das alttestamentliche, die Heiden hatten es nicht, aber, sagt er, sie sind nicht ohne Gesetz, denn das, was das Gesetz fordert, ist in ihre Herzen geschrieben kraft des Gewissens. Das Gewissen, meine lieben Freunde, macht zu seinem Teil die Würde des Menschen aus. Auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution sprach Maximilian Robespierre das bemerkenswerte Wort: „Nehmt mir mein Gewissen, und ich bin der erbärmlichste aller Menschen.“ Die Macht des strafenden Gewissens offenbart sich in der überall auftretenden Pein des Schuldgefühls, in der Furcht vor der verwirkten Strafe, in den Sühne- und Heiligungsriten, die wir bei allen Völkern beobachten können. Die Tatsache des Gewissens ist unbestreitbar.

Welches ist sein Wesen? Das Wesen des Gewissen ist folgendes: Das Gewissen ist ein Urteil der praktischen Vernunft über die Sittlichkeit des eigenen Handelns – ein Urteil der praktischen Vernunft über die Sittlichkeit des eigenen Handelns. Praktische Vernunft bedeutet die Vernunft, die auf das Handeln gerichtet ist. Das Gewissen spricht: Das kannst, das darfst du tun, weil Gott es gebietet oder zulässt. Oder es spricht: Das kannst, das darfst du nicht tun, weil Gott es verbietet. Es ist entscheidend, schon an dieser Stelle zu bemerken: Das Urteil des Gewissens erschafft nicht das Gesetz, begründet nicht die Norm, das Urteil des Gewissens findet das Gesetz, erkennt das Gesetz, stellt die Norm vor. Die Norm ist immer vorgängig zum Gewissen. „Im Inneren seines Gewissens“, sagt das Zweite Vatikanische Konzil, „entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss.“ Das Gesetz ist also vorhanden, es muss nur gefunden werden. Warum betone ich das so? Weil es heute Irrlehrer in unserer Kirche gibt, die sagen: Das Gewissen erschafft das Gesetz. Das ist ein Irrtum!

Das Gewissen gehört der Vernunft an; es ist ein vernünftiges Urteil, also es setzt ein geistiges Erkennen voraus. Es richtet sich auf das Handeln oder Unterlassen und gibt uns ein Wissen über das, was recht vor Gott ist. Es ist also ein Erkennen, d.h. wir dürfen das Gewissen nicht – was wiederum ein Irrtum unserer Zeit ist – verlagern in das Gefühl, nein, es ist ein Erkennen. Aus dem Gewissen erkennen wir, was Gott zu tun uns gebietet oder was er zu unterlassen uns vorstellt. Das Gewissen ist die unbedingte auch vor Gott geltende Richtschnur des sittlichen Lebens. Das gute Gewissen ist ein Zeichen der Gottgefälligkeit. Und die Reinheit des Gewissens bedeutet den Zustand der Sündenvergebung und Begnadigung. Das Gewissen ist auch nicht erst die Folge des Sündenfalls, sondern das Gewissen gibt es von Anfang an. Nach dem Sündenfall zeigt sich das Phänomen des schuldbeladenen Gewissens.

Mit dem großen Theologen Thomas von Aquin erblicken wir die Wurzel des aktuellen Gewissens in dem habituellen Gewissen. Wir unterscheiden also Gewissensspruch und Gewissensanlage. Es gibt eine von Gott dem Menschen geschenkte Anlage zur Gewissenhaftigkeit. Es gibt eine angeborene und unverlierbare Fähigkeit, die ersten Grundsätze der Sittlichkeit zu erkennen. Der Mensch weiß von Anfang an: Das Gute ist zu tun, das Böse ist zu unterlassen. Das ist das Urgesetz, das das Gewissen erkennt. Freilich baut sich auf diesem Urgewissen, der Gewissensanlage, das Wissen um die einzelnen Gegenstände des sittlichen Handelns auf, und aus diesem Wissen entspringt dann das praktische Werturteil im einzelnen Falle. In jedem Falle ist das aktuelle Gewissen das letzte praktische Urteil, was hier und jetzt zu tun ist. Normalerweise arbeitet das Gewissen im Syllogismus, d.h. in der Schlussfolgerung: Obersatz, Untersatz und Schlusssatz. Das Böse muss man meiden, lügen ist böse, also ist es verboten. Oder um noch aktueller zu werden: Die heilige Kommunion ist die Speise derer, die ohne schwere Sünde sind. Wer schwere Sünde hat, darf sie nicht empfangen. Wer in einer ungültigen Ehe lebt und eheliche Rechte zu Unrecht beansprucht, lebt in der schweren Sünde, also darf er die Kommunion nicht empfangen. Gegen dieses Gesetz kann niemand auf Erden angehen, denn es stammt von Gott selbst.

Das Gewissen soll der Bote und Herold Gottes sein. Wenn das Gewissen recht gebildet ist und richtig spricht, dann ist es tatsächlich der Bote und Herold Gottes; es trägt den Willen Gottes zu uns. Es ist lebendiges Zeugnis des Gottesebenbildes im Menschen und darf deswegen nicht übergangen werden. Was das Gewissen nach reiflicher Prüfung gebietet, das muss der Mensch tun, wenn er nicht schuldig werden will. Das Gefühl kann nicht die Norm des sittlichen Handelns sein. Warum nicht? Weil es persönlich ist, undurchsichtig, ohne inneres Maß, die Triebe sind subjektiv, selbstsüchtig. Es kann keine feste bleibende Anordnung geben, weil es dauernd im Wandel begriffen ist. Die individuelle, persönliche Art des Gefühls macht es ausgeschlossen, dass es die Wurzel der Sittlichkeit im Menschen sein kann. Das Kind ist gewissensfähig, es muss aber sein Gewissen entfalten. Es ist eine Grundlage im Kind, die zur Gewissenhaftigkeit führt, aber es trägt nicht fertige, angeborene Ideen in sich. Ganz allmählich aufgrund der Erfahrung, Erziehung und Belehrung werden im Kinde die Kräfte des Gewissens aufgebaut. Die eigene Erfahrung gibt dem Kinde mannigfache Empfindungen körperlicher Lust und Unlust, aus denen eine Gesamtvorstellung des Guten als des Angenehmen erwächst. Dazu kommt natürlich die elterliche Autorität mit ihrer Belehrung. Gebot und Verbot, Lehre und Strafe erschließen das verpflichtende „Du sollst“. Der Blick in die äußere gesetzlich geordnete Gesellschaft hilft weiter, aber vor allen Dingen ist es die Einsicht in die innere Wahrheit und Notwendigkeit der Pflicht, die den Augenblick herbeibringt, wo das Kategorische, wo das Absolute des Gewissens aufleuchtet. Das ist es, meine lieben Freunde, was ich Ihnen, wenn Sie in der Erziehung tätig sind, ans Herz legen möchte: Versuchen Sie Verständnis für das Heilsame, für das Notwendige im Gesetz zu erwecken. Dass die Kinder, dass die Jugendlichen mit Überzeugung die Gebote annehmen, nicht weil sie äußerlich von einer Autorität auferlegt sind, nein, sondern weil sie sie als richtig, weil sie sie als heilsam, weil sie sie als notwendig begreifen. Die Gebote Gottes müssen uns zur inneren Überzeugung werden. Die Gewissensbildung hört nie auf. Sie ist auch für die Erwachsenen wichtig, besonders für Seelsorger, Eltern, Erzieher, Politiker, Journalisten. Alle Menschen, denen die Führung anderer anvertraut ist, müssen um Gewissensbildung besorgt sein, müssen sich vor Gewissensverbildung schützen. Gewissensbildung ist angewiesen auf die Kirche als die Lehrerin der Wahrheit. Es ist die Aufgabe der Kirche, die Wahrheit Christi zu verkündigen und autoritativ zu lehren und gleichzeitig die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, vorzulegen. Zwei Quellen also: Die Wahrheit Christi, wie sie uns in der Offenbarung entgegentritt, und die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem sittlichen Naturgesetz hervorgehen. Das sittliche Naturgesetz ist die Sollensforderung, die aus dem Sein der Natur und des Menschen hervorgeht. Also um ein Beispiel zu erwähnen: Der Mensch hat einen Verstand, eine Vernunft und einen Willen. Er darf sich dieser Kraft nicht berauben, indem er sich sinnlos betrinkt; also die Trunksucht ist schon durch das sittliche Naturgesetz verboten. Die Kirche stellt sich in den Dienst des Gewissens. Es hilft ihm die Wahrheit zu erkennen und zu begreifen. Indem die Kirche die autoritative Vorlage der Gebote Gottes vornimmt, indem sie die Gebote Gottes autoritativ und womöglich unfehlbar vorlegt, muss man sagen, dass die Kirche die Gewissen bindet, sie bindet sie an Gottes Gebot. Das Binden kann ein Gebieten oder Verbieten sein.

Es gibt Eigenschaften des Gewissens, es gibt Arten des Gewissens; ich will einige von ihnen Ihnen nennen. Wir nennen das Gewissen, das der Handlung vorhergeht, das vorangehende Gewissen. Bevor wir handeln, müssen wir unser Gewissen befragen, ob das beabsichtigte Tun vor Gott bestehen kann. Jedes Handeln muss sich vor dem Gewissen verantworten können. Menschliche Handlungen sind immer sittliche Handlungen, nicht wie da einer im Bundestag gesagt hat bei einer bestimmten Abstimmung, das sei jetzt eine Gewissensentscheidung. Jede Abstimmung ist eine Gewissensentscheidung. Das Gewissen setzt sich dann fort in das die Handlung begleitende Gewissen. Es kann durchaus sein, dass wir guten Gewissens etwas begonnen haben, aber im Laufe des Geschehens und bei näherem Nachdenken kommen uns Bedenken, ob wir fortfahren dürfen. Und schließlich gibt es das nachfolgende Gewissen, das die Handlung beurteilt: War es recht, war es unrecht? Es kommt also entweder über uns die Gewissensruhe oder die Gewissensunruhe, das Schuldbewusstsein. Seinem Inhalt nach kann das Gewissen folgende Eigenschaften haben: Es ist wahr, wenn es der sittlichen Ordnung, der Wahrheit Gottes entspricht. Es ist richtig, wenn es in einem logisch einwandfreien Syllogismus gebildet worden ist. Nur das Gewissen urteilt richtig, dessen Spruch mit dem göttlichen Gesetz und der Vernunft übereinstimmt. Es gibt Menschen, die ein ständig irriges Gewissen haben. Sie haben sich durch jahrelanges Handeln gegen das Gewissen ein irriges Gewissen gebildet. Das ständig irrige Gewissen schränkt die sittlichen Pflichten ein und erweitert die Freiheit. Das ständig irrige Gewissen ist häufig ein laxes Gewissen. Lax ist ein Gewissen, das auch bei erheblichen Angelegenheiten nicht mehr ausschlägt, sondern das eben „Kröten schluckt“ und bei groben Verstößen gegen die Sittlichkeit sich nicht mehr meldet. Es gibt auch das pharisäische Gewissen. Das besteht darin, dass man Unbedeutendes für wichtig nimmt und Bedeutendes für gering. Den Pharisäern hat der Herr vorgehalten: „Ihr geht den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel. Aber das Große im Gesetz, die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit und die Treue, die lasst ihr da hinten.“ Es gibt auch das skrupulöse Gewissen. Skrupulös ist ein Gewissen, das überall Sünden und Fehler wittert, das zu streng mit sich verfährt. Ich bin seit 65 Jahren Beichtvater, und ich habe schon Pönitenten erlebt, denen ich sagen musste: „Ich habe den Eindruck, Sie schreiben sich Sünden zu, die keine Sünden sind.“ Das waren Menschen, die übergewissenhaft waren, die skrupulös waren. Im Buche Jesus Sirach heißt es: „Achte auf den Rat deines Gewissens. Wer ist dir treuer als dieses? Das Gewissen gibt dem Menschen besser Auskunft als sieben Wächter auf der Warte.“ Unsere Kirche kennt Helden des Gewissens; wir nennen sie die Heiligen. Sie haben die Folgsamkeit gegen das Gewissen in allen Lebenslagen beobachtet. Einer von ihnen, der heilige Thomas Morus, Lordkanzler in England, konnte von sich sagen: Nie habe ich daran gedacht, einer Sache zuzustimmen, die gegen mein Gewissen wäre. Er hat seine Gewissenhaftigkeit mit seinem Tode bezahlt.

Amen.

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