Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Begleiter der Passion (Teil 3)

15. Februar 2015

Kaiphas

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Hohepriester zur Zeit des Leidens Jesu hieß Joseph Kaiphas. Er wurde unter dem Prokurator Valerius Gratus im Jahre 18 n. Chr. Hoherpriester und behielt das Amt bis zum Jahre 36, als ihn der Prokurator Vitellius absetzte. Kaiphas war ein Sadduzäer. Die Sadduzäer waren die Adelspartei in Jerusalem. Sie dürsteten nach Reichtum, waren stolz und anmaßend. Sie waren römerfreundlich, aus Berechnung. Sie fanden sich mit der römischen Herrschaft ab, weil sie ihre eigene Machtstellung dadurch zu erhalten suchten. Obwohl sie eine eigene religiöse Richtung mit eigener Schultheologie bildeten, stand doch die Machterhaltung bei ihnen im Vordergrund. Sie waren nämlich Freigeister, d.h. sie leugneten die Auferstehung, sie bestritten die Existenz der Engel und der Geister, sie leugneten jeden übernatürlichen Einfluss Gottes auf das Tun und Lassen der Menschen, bestritten also die Vorsehung. Freigeister verhalten sich in religiöser Umgebung systemkonform, sie passen sich an. Sie beteiligen sich an den religiösen Übungen und sind bei religiösen Festen anwesend, aber ihr Herz ist weit von Gott. Im 18. Jahrhundert lebte und lehrte in Hamburg ein evangelischer Professor Hermann Samuel Reimarus. Er hatte den Glauben an die Offenbarung aufgegeben. Er erklärte Christus und seine Jünger für Betrüger, aber er trat mit seiner Meinung nicht an die Öffentlichkeit. Nach außen hin verhielt er sich als frommer evangelischer Christ: Er besuchte die Gottesdienste, nahm am Abendmahl teil. Seine zersetzenden Schriften wurden erst nach seinem Tode von Gotthold Ephraim Lessing teilweise herausgegeben – vollständig erst jetzt zu unserer Zeit. Ich meine, ein ähnlicher Mann dürfte Joseph Kaiphas gewesen sein.

Als infolge der Erweckung des Lazarus vom Tode viele Juden an Jesus glaubten, berief er eine Sitzung des Synedriums – also des Hohen Rates – ein: „Was sollen wir tun? Dieser Mensch wirkt so viele Zeichen. Lassen wir ihn gewähren, dann werden noch alle an ihn glauben und die Römer werden kommen und uns das Land und das Volk wegnehmen.“ Die Ratsherren waren ratlos: Was sollen wir tun? Sollte man Jesus einsperren? Sollte man ihn verprügeln? Sollte man ihn ausweisen? Da erhob sich Kaiphas. Er warf den Mitgliedern des Hohen Rates Unwissenheit und Unfähigkeit vor, die für das Wohl des Volkes einzig richtige, zielführende Maßnahme zu ergreifen, nämlich Jesus zu beseitigen. „Ihr wisset nicht, noch bedenket ihr, dass es euch frommt, dass ein Mensch sterbe für das Volk und nicht das ganze Volk untergehe.“ Die Versammlung stimmte ihm bei. Der Tod Jesu war damals beschlossene Sache. Kaiphas war kein Freund halber Maßnahmen. Das einzige Mittel, welches das Problem Jesus endgültig lösen könnte, war: er musste liquidiert werden. In der Französischen Revolution sagte der Revolutionär Barère: „Nur die Toten kehren nicht wieder.“ Das war auch die Ansicht von Kaiphas. Er forderte die Anerkennung des politischen Grundsatzes, dass der Einzelne dem Wohl der Gesamtheit geopfert werden müsse. Dieses Prinzip war schon damals bekannt. In der rabbinischen Literatur findet sich die Formulierung: „Es ist besser, dass man diesen Mann töte, als dass die Gemeinde um seinetwillen bestraft werde.“ Die Staatsraison forderte die Liquidierung des Jesus von Nazareth. Staatsraison ist der Grundsatz, dass die Verwirklichung des Gemeinwohls, des Wohls des Staates die Aufgabe der politischen Führung ist – und da darf man nicht zimperlich sein. 1500 Jahre später hat ein italienischer Staatsdenker, Niccolo Machiavelli, diese Theorie in seinem Buche „Il Principe“ ausgesprochen. Da schreibt er, ein Staatsmann müsse sich über sittliche, moralische Normen hinwegsetzen, er müsse auch geltendes Recht unbeachtet lassen, wenn es dem Nutzen des Staates diene. Natürlich hatte Kaiphas Machiavellis Buch noch nicht lesen können, aber er handelte so, wie Machiavelli es empfahl. Die Praxis geht häufig der Theorie voraus.

Der Evangelist Johannes sieht in dem Wort des Kaiphas eine unbewusste und ungewollte Weissagung über die Heilsbedeutung des Todes Jesu. „Das sagte er aber nicht“, schreibt Johannes, „von sich aus, sondern als Hoherpriester jenes Jahres sprach er prophetisch, dass Jesus sterben werde für das Volk und nicht nur für das Volk allein, sondern auch für die zerstreuten Kinder Gottes, um sie in Einheit zusammenzuführen.“ Kaiphas wird also von Gott als Prophet gebraucht, ohne es zu ahnen. Als Prophet ist er das Organ Gottes. Er spricht nicht aus sich, sondern er verkündet, was Gott ihm eingibt. So hat Gott durch den Mund des Kaiphas das Geheimnis der Erlösung vorausverkündigen lassen, dass Jesus für die Rettung der Menschen vom ewigen Verderben sterben werde. Dem Kaiphas selbst blieb freilich der tiefere Sinn seiner Worte verborgen. Er meinte, durch seinen Rat die Existenz des Volkes zu retten, aber in Wirklichkeit hatte er wider Wissen und Willen den Sinn und Zweck des Todes Jesu prophetisch ausgesprochen, nämlich die Rettung der glaubenswilligen Menschen, von Juden und Heiden.

Der Antrag des Kaiphas fand Zustimmung. Der lang geplante Beschluss, Jesus zu töten, wurde nun gefasst, aber er konnte damals – nach der Erweckung des Lazarus – nicht ausgeführt werden, weil Jesus sich verbarg in Ephraim, einer weit entlegenen Stadt. Deswegen musste Kaiphas eine neue Beratung einberufen – am Mittwochmorgen in der Leidenswoche, zwei Tage vor Ostern. Teilnehmer waren alle drei Gruppen des Synedriums, also Hoherpriester, Schriftgelehrte und Älteste. Und sie haben jetzt nicht beraten, ob Jesus zu töten ist, sondern wie er zu töten ist. Sie sagten: „Nur nicht am Festtag, damit nicht ein Aufruhr unter dem Volk entstehe.“ Die Synedristen wussten, dass Jesus viele Anhänger im Volke hatte, und es konnte geschehen, wenn sie erfuhren, dass ihr Wundertäter beseitigt wurde, dass sie sich zusammenrotteten, dass sie einen Aufstand, einen Putsch machten – davor hatten sie Angst. Deswegen sollte Jesus mit List ergriffen werden. Mit List das bedeutet: heimlich, so, dass die anderen es nicht gewahr werden, deswegen auch die Verhaftung in der Nacht. „Nur nicht am Festtage“, sagten sie, das kann kaum heißen: vor dem Festtage, denn die Festpilger pflegten schon einige Tage vor dem Feste in großer Zahl in Jerusalem einzutreffen. So wird man den Ausdruck „nicht am Feste“ nicht als Zeitangabe verstehen dürfen, sondern wird das griechische Wort, und das ist auch durchaus möglich, verstehen im Sinne von: nicht vor der Festmenge, nicht vor den versammelten Festpilgern, nicht inmitten der Festmenge. Und das wird bestätigt durch Lukas. Lukas schreibt nämlich: „Judas suchte nach einer Gelegenheit, ihn auszuliefern, wenn er nicht vom Volke umgeben war.“

Kaiphas weiß: Jesus ist in Jerusalem, jetzt muss er zuschlagen, jetzt ist die Gelegenheit günstig. Er schickt das Verhaftungskommando aus, sie nehmen Jesus fest, sie führen ihn in den hohepriesterlichen Palast. Dort beschäftigt sich zunächst sein Schwiegervater mit ihm, Annas, ein früherer Hoherpriester. Annas fragte ihn nach seiner Lehre und nach seinen Jüngern. Jesus aber gab ihm keine Antwort. Jetzt lässt Annas Jesus zu Kaiphas bringen. Und dieser ruft die Ratsherren zur Nachtsitzung zusammen. Die Beratung soll möglichst schnell mit Beschleunigung vor sich gehen. Er ist der Verhandlungsführer. Aber was ist das für ein Verfahren, meine lieben Freunde? Eine Sitzung in der Nacht war nach jüdischem Recht verboten. Ein Verteidiger musste herangezogen werden, aber Jesus hatte keinen. Es mussten nicht nur Belastungszeugen, es mussten auch Entlastungszeugen gehört werden, aber Kaiphas zog nur Belastungszeugen heran. Er hat also gegen die eigene Gerichtsordnung verstoßen im Interesse der Staatsraison. Gewaltmenschen, meine lieben Freunde, stolpern nicht über Zwirnsfäden des Strafrechts oder des Völkerrechts. Denken Sie an Otto von Bismarck. Er wurde uns in der Schule als großer Held vorgestellt. Otto von Bismarck war ein Mann, der Recht und Gerechtigkeit verachtete. Er hat die Kriege gegen Österreich und Frankreich ausgelöst mit Bedacht, mit Bewusstsein, mit Absicht. Und auf diesen Kriegen aufbauend, hat er dann das preußische Kleindeutsche Reich geschaffen, das schon 1918 elend zugrunde gegangen ist. Im jüdischen Prozess traten Zeugen auf, Belastungszeugen, aber ihre Aussagen widersprachen einander. Sie waren deswegen wertlos. Nach dem Zeugenverhör richtete Kaiphas an Jesus die Mahnung, sich zu den Anklagen zu äußeren. Jesus aber schwieg. Das ergebnislose Verhör der Belastungszeugen brachte Kaiphas in Verlegenheit, das majestätische Schweigen Jesu versetzte ihn in Aufregung. Jetzt blieb nur ein einziger Weg offen, nämlich den Angeklagten selbst zu vernehmen und zu einer Aussage zu veranlassen. In der feierlichen Form des Beschwörungseides – „Ich beschwöre dich“ – richtet Kaiphas an Jesus die Frage, ob er der Messias, der Sohn des Hochgelobten sei. Jetzt spricht Jesus: „Ja, ich bin es.“ Er gibt damit vor dem Hohen Rat die feierliche mit einem Eidschwur bekräftigte Aussage ab, dass er der von Gott verheißene und von den Juden erwartete Messias sei. Aber da er weiß, dass die Synedristen seinen Aussagen, seinem Zeugnis, seinem Selbstzeugnis keine Erhörung geben, deswegen spricht er von seiner bevorstehenden Erhöhung zur Rechten des Vaters: „Von nun an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht (damit ist Gott gemeint) sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ Kaiphas hätte die Pflicht gehabt, den messianischen Anspruch Jesu zu prüfen, also seine Worte und seine Werke zu untersuchen, ob sie diesen Anspruch rechtfertigen. Aber Kaiphas entschlägt sich dieser Pflicht. Er ist vielmehr durch Jesu Worte aufs Höchste erregt, er zerriss seine Kleider – das war eine Geste der Empörung und der Trauer. Man hat vom Hals an das Gewand geöffnet, sodass die Brust zu sehen war. Er zerriss seine Kleider und sprach: „Er hat Gott gelästert.“ Er fand die Gotteslästerung darin, dass Jesus sich als zur Rechten Gottes sitzend ausgesagt hatte, dass er also einen Platz zur Rechten der Allmacht einzunehmen berechtigt sei. Das genügte ihm; jetzt konnte er zum Schlage ausholen. „Was bedürfen wir noch der Zeugen? Ihr habt nun selbst die Gotteslästerung gehört.“ Er will damit sagen, dass die Mitglieder des Hohen Rates als Hörer der Gotteslästerung jetzt selber Zeugen sind. Man braucht keine Zeugen mehr. Und er fordert die Ratsherren auf, ihr Urteil abzugeben: „Was dünkt euch?“ Sie antworteten alle: „Er ist des Todes schuldig.“ Damit war über Jesus in aller Form das Todesurteil gefällt, und zwar wegen Gotteslästerung. Die Verhängung der Todesstrafe über Jesus durch das Synedrium war eine glatte Rechtsbeugung, aber das focht Kaiphas nicht an.

Manche Erklärer nehmen zwei Sitzungen des Hohen Rates an: eine in der Nacht und eine am Morgen. Aber der Text muss nicht so verstanden werden. Man kann ihn auch so begreifen, dass die Nachtsitzung solange dauerte, bis der Morgen anbrach, und am Morgen wurde dann der Beschluss gefasst, Jesus an den Statthalter anzuliefern und ihn anzuklagen. Man hat die Formulierung der Anklage beraten. Der Hass begnügt sich nicht mit der Bestrafung, er drängt auf Erniedrigung. Jesus wurde von Mitgliedern des Hohen Rates verhöhnt und misshandelt. Später haben auch noch die Gerichtsdiener sich daran beteiligt. Sie spien Jesus ins Angesicht, sie peinigten ihn mit Backenstreichen und Faustschlägen. Sie verhüllten sein Haupt mit einem Sack und forderten ihn auf, zu weissagen, wer ihn geschlagen habe. Manche Erklärer der Heiligen Schrift bezweifeln die Echtheit dieser Szene – völlig zu Unrecht. Wessen der Hass fähig ist, das haben die grausamen Herrscher der Geschichte zur Genüge gezeigt. Hitler hat die Männer des 20. Jahrhundert nicht persönlich geschmäht; das besorgte an seiner Stelle der Präsident des Volksgerichtshofes Roland Freisler. Einem der Angeklagten rief er zu: „Sie sind ja ein schäbiger Lump!“ So ging Freisler mit den Angeklagten um. Aber Hitler hat sich die Filme angesehen, die von den Verhandlungen vor dem Volksgerichtshof gedreht wurden und sich vermutlich darüber diebisch gefreut. Kaiphas ließ jedenfalls diese schmähliche Behandlung Jesu geschehen, ohne dagegen einzuschreiten.

Der jüdische Prozess war zu Ende; es begann der römische Prozess. Jesus sollte nicht gezüchtigt, nicht eingesperrt werden – was bei den Juden zulässig war – nein, er sollte getötet werden. Zum Töten aber brauchte man den Prokurator, denn die Juden hatten kein Blutrecht. Sie durften zwar zum Tode verurteilen, aber sie durften nicht den Verurteilten hinrichten; das Blutrecht hatte der Prokurator. Jetzt musste man überlegen: Welche Anklage bringen wir vor, damit der Prokurator sie annimmt? Kaiphas wusste genau: Wegen Gotteslästerung kann ich dem Prokurator nicht kommen, denn Gotteslästerung ist kein Tatbestand nach römischem Recht, und Pilatus waren die jüdischen Glaubensanschauungen völlig gleichgültig. Es musste also eine andere Anklage formuliert werden. Welche? Eine politische. Eine politische, auf die der Statthalter eingehen musste. Man musste den religiösen Anspruch Jesu umbiegen ins Politische. Kaiphas stellt Jesus als Unruhestifter und Volksaufwiegler hin. „Wir haben gefunden, dass dieser unser Volk aufwiegelt und verbietet, dem Kaiser Steuer zu zahlen. Er beunruhigt das Volk, indem er im ganzen Lande der Juden als Lehrer auftritt, von Galiläa angefangen bis hierher.“ Kaiphas wusste: Diese Anklage muss Pilatus annehmen, denn er ist für Ruhe und Ordnung im Lande verantwortlich. Auch den Aufruf zum Steuerstreik, den er Jesus unterstellt, kann Pilatus nicht mit einer Handbewegung abtun. Meine lieben Freunde, die Feinde unseres Glaubens suchen immer Vorwände, weswegen sie die Kirche bekämpfen. Sie sagen, es sei nicht die Religion, die sie angreifen, sondern die Politisierung der Religion. In der ganzen Zeit des Nationalsozialismus war die Rede vom politischen Katholizismus, der ausgerottet werden müsse. Den politischen Katholizismus gab es aber damals gar nicht mehr, denn die katholische Partei „das Zentrum“ hatte sich im Juli 1933 aufgelöst. Aber die Feinde der Kirche hörten nicht auf, vom politischen Katholizismus zu sprechen, um auf diese Weise die Verkündigung der Gebote Gottes über Staat und Volk hintanzuhalten. Wenn die Kirche in Hirtenbriefen der Bischöfe die Beachtung der Menschenwürde einforderte, war das politischer Katholizismus. Wenn die Kirche Protest gegen die Verfolgung Unschuldiger erhob, war das politischer Katholizismus. Wenn die Kirche die Ermordung der Geisteskranken anprangerte, wie der Bischof von Münster, Galen, war das politischer Katholizismus. Der Heilige Stuhl hat sich am 26. Juli 1935 gegen den Vorwurf, die Kirche betreibe politischen Katholizismus, verwahrt. Der Staat, so schrieb damals der Staatssekretär, der Staat missbrauche das Wort politisch. Es müsse dazu herhalten, jede Stellungnahme der Kirche zu Fragen des öffentlichen Lebens als Verletzung der staatlichen Kompetenz zu bezeichnen und zu ahnden. Aber die Intervention des Heiligen Stuhles bewirkte nichts. Ernst von Weizäcker, der Staatssekretär im Außenministerium, der Vater des Herrn, der jetzt gestorben ist, heftete diesen Schrieb des Vatikans in einem Aktenordner ab – und damit hatte es sich.

Pilatus musste Jesus vorführen lassen, denn einen politisch gefährlichen Mann konnte er nicht laufen lassen, und so hat er ihn verhört. Aber das Verhör war negativ; der Mann war harmlos. Er war kein Aufrührer und kein Unruhestifter, vielleicht ein Spinner, aber kein zum Aufstand auffordernder Revolutionär. Jesus war keine politische Gefahr. Das hat Pilatus erkannt. Er hat auch begriffen, dass die Hohenpriester Jesus aus Missgunst – aus Missgunst! – überliefert hatten. Seine Erfolge als Prediger und Wundertäter erregten ihren Neid. Sie fürchteten, die Massen könnten ihrer Führung entgleiten. Das alles erkannte Pilatus, aber er hatte nicht die Kraft, sich der jüdischen Obrigkeit und den aufgeputschten Massen entgegenzustellen. Er verurteilte Jesus zum Tode und ließ ihn am Kreuze hinrichten. Kaiphas hatte gesiegt, er hatte sein Ziel erreicht: Der verhasste Nazarener war am Kreuze verblutet. Aber noch war er nicht aller Besorgnis ledig. Am Samstag begaben sich die Hohenpriester zu Pilatus, um ihre Sorgen und Forderungen vorzubringen – es wird eine Abordnung gewesen sein. Wir wissen nicht, ob Kaiphas dabei war, aber sicher wissen wir, dass er sie abgesandt hat. „Herr“, so sagten sie dem Pilatus, „wir erinnern uns, dass jener Betrüger, als er noch lebte, gesagt hatte: Nach drei Tagen will ich auferstehen.“ Das ist die Sprache des Hasses und der Furcht. Sie erwarteten zwar nicht die Auferstehung Jesu – die Sadduzäer glaubten ja gar nicht daran –, aber sie hielten die Instrumentalisierung des Auferstehungsglaubens durch die Jünger Jesu für denkbar, und dagegen wollten sie auf der Hut sein. Sie forderten von Pilatus eine Wache, damit nicht die Jünger kommen, den Leichnam stehlen und sagen: Er ist auferstanden. Und dadurch würde die Ruhe und die Ordnung wiederum gestört. Pilatus war müde; er war des Falles überdrüssig. Er wollte sich nicht mehr mit der jüdischen Obrigkeit anlegen: „Ihr sollt eine Wache haben.“ Die Wächter bezogen ihren Posten. Kaiphas konnte wieder ruhig schlafen. Aber er vergaß einige Dinge. Er vergaß, dass auch das vergossene Blut eine Stimme hat. Das Blut des erschlagenen Abel rief um Rache. Die Mutter der Makkabäischen Brüder sah an einem Tag sieben ihrer Söhne sterben. Alle gingen mutig und untadelig in den Tod. Und einer sprach für alle: „Tröstlich ist es, durch Menschen das Leben zu verlieren, wenn man die gottgeschenkte Hoffnung auf Auferstehung haben darf.“ Die Menschen, die Sterben für Gewinn halten, sind schwer zu erschrecken. Kaiphas vergaß auch, dass das Blut der Martyrer der Same für neue Christen ist. Wo das Blut der Gläubigen fließt, da schießt empor die Saat der Kirche. Kaiphas rechnete nur mit Menschen, nicht mit Gott, und darum hat er sich verrechnet. Wenn es Gott gefällt, macht er die Pläne und Vorkehrungen seiner Feinde zuschanden. Der am Kreuze Verblichene blieb nicht im Felsengrab des Joseph von Arimathäa. Am Sonntagmorgen wurde das Grab leer gefunden. Der darin Gelegene zeigt sich Maria Magdalena, den Emmausjüngern, den Aposteln und allen Jüngern in verklärter Gestalt. Der Auferstandene ist Joseph Kaiphas nicht erschienen. Warum nicht? Weil Jesus alle Schauwunder abgelehnt hat. Er hat im Prozess vor Kaiphas geschwiegen, weil er wusste: Jedes Wort ist überflüssig. Und er hat sich ihm nach der Auferstehung nicht gezeigt, weil er wusste: Meine Erscheinung stieße auf ein verhärtetes Herz.

Wir haben, meine lieben Freunde, am vergangenen Sonntag erkannt: Judas, der Verräter, hatte seine Stelle im Heilsplan Gottes. Es bedurfte eines Menschen aus der Umgebung Jesu, von dem er wusste: „Einer von euch wird mich verraten.“ Ähnlich steht es mit Kaiphas. Auch er ist auf seine Weise in das Heilswerk Gottes eingebunden. Er hat die furchtbare Rolle übernommen, der Wortführer des Judenvolkes bei der Verwerfung des gottgesandten Messias zu sein. Ich enthalte mich, die Frage nach seiner Schuld zu beantworten. Gott allein weiß um seine seelische Verfassung. Aber sein Verhalten liegt offen vor der Geschichte. Ohne ihn kein Todesbeschluss, ohne ihn keine Anklage vor dem Prokurator, ohne ihn keine Bezichtigung politischer Vergehen. Kaiphas war ein Werkzeug Gottes im Heilswerk seines Sohnes. Gott hat ihn nicht gezwungen, seine Rolle zu spielen, aber er hat sie vorausgesehen. Gott sieht immer voraus, was Menschen tun werden, wer aus seinem eigenen menschlichen Willen sündigen wird, aber er zwingt niemanden zum Sündigen. Wir können die Fäden der göttlichen Führung nicht entwirren. Wir wissen nicht, wo Gottes Lenkung aufhört und menschliche Überlegung beginnt. Aber eines wissen wir: Die Rätsel der göttlichen Führung und Zulassung werden sich beim Weltgericht lösen.

Amen.

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