Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Zehn Gebote (Teil 13)

13. Oktober 2002

Die schenkende Liebe (6.)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir waren bei der Besprechung der Zehn Gebote beim 6. Gebot angekommen. Dieses Gebot schützt die Ehe. Ihr positiver Inhalt ist darin gelegen: Du sollst die Ehe hegen und pflegen, du sollst sie bewahren, du sollst sie umsorgen und nicht gefährden. Nun ist die Ehe eine Liebesangelegenheit. Sie ist ja ein Abbild der Liebe Christi zu seiner Kirche. Aber diese Liebe in der Ehe ist nichts Einfaches; sie ist gegliedert, sie ist mannigfaltig, sie ist strukturiert. Wir sagten, daß diese Liebe eine dreifache Liebe ist, eine begehrende, eine schenkende und eine dienende. Am vergangenen Sonntag hatten wir die begehrende Liebe betrachtet. Die begehrende Liebe in der Ehe ist eine Anziehungskraft, die Mann und Frau zueinander zieht, eine der gewaltigsten Kräfte im Menschenwesen, ja, von einer unbändigen Wildheit, wenn sie nicht eingefügt und beherrscht wird. Weil diese begehrende Liebe, also die sexuelle Kraft, von solcher Stärke und Intensität ist, hat Gott selbst als Schöpfer der Natur dafür gesorgt, daß sie auf höhere Ziele hingelenkt wird. Er hat nämlich den sexuellen Trieb, die begehrende Liebe auf die Nachkommenschaft hingeordnet, auf die Erzeugung und Erziehung von Kindern. Die sexuelle Liebe hat keinen bloßen Genußwert, sie hat einen Lebenswert, ja einen lebensnotwendigen Wert.

Manche haben es verstanden, wie dieser Wert zu gebrauchen und zu benutzen ist. Vor vierzehn Tagen lernte ich eine Familie kennen, die ein Familientreffen veranstaltete. Die Eltern fanden 11 Kinder bei dem Treffen vor und 66 Enkel, wobei zu bemerken ist, daß nicht alle elf Kinder verheiratet sind. Diese Familie hat offenbar begriffen, wozu die sexuelle Liebe geschaffen ist: sie dient einem Lebenszweck, einem lebensnotwendigen Zweck, der Erzeugung und Erziehung von Nachkommenschaft. Die begehrende Liebe muß also eingeordnet werden in den Schöpferwillen Gottes, in den Heiligungswillen Christi und in den Erziehungswillen der Kirche. Der Schöpferwille Gottes weist sie hin auf die Nachkommenschaft, der Heiligungswille Christi ordnet sie ein in die schenkende Liebe, von der wir heute sprechen werden, und der Erziehungswille der Kirche verkündet als Gebot Gottes, was in der Sprache der Natur uns ausgesagt wird.

Nun kommen diese Imperative von außen an uns heran. Es gibt aus der Natur, aus dem Willen Gottes einen Imperativ: „Du sollst!“ und „Es ist dir nicht erlaubt!“ Aber wie jede lebendige Wirklichkeit hat die Ehe auch einer innere Regulierung, eine innere Gesetzmäßigkeit, eine innere Kraft zur Harmonie. Diese innere Kraft zur Harmonie, die nicht von außen an den Menschen herantritt, ist zusammengefaßt in dem Begriff „Schenkende Liebe“; denn diese Liebe hat nichts von der Wildheit und von der Ungebärdigkeit der begehrenden Liebe. Es ist keine Liebe, die den anderen in sich hineinzieht, um eine Befriedigung, eine Lust zu gewinnen, sondern es ist eine Liebe, die das Ich dem Du entgegenbringt, die eben, wie der Name sagt, das Ich dem Du schenkt.

In der schenkenden Liebe ist das Wichtigste die Seele, nicht der Leib. Der Leib wird nicht ausgelöscht, aber das Wichtigste in der schenkenden Liebe ist die Seele. Diese schenkende Liebe ist von Nähe und Weite zugleich erfüllt, wie wir sehen werden. Die schenkende Liebe ist vorwiegend eine Angelegenheit der Seele. Sie gebraucht keinen Menschen als Mittel zu eigener Erfüllung oder eigener Befriedigung. Sie verwendet keinen Menschen, um eigene Herrschsucht oder eigene Geltung zu befriedigen, sondern diese Liebe will den anderen gelten lassen, will den anderen erheben, will den anderen erfreuen und bejahen. Es ist eine Liebe, die wohlwollend ist für den anderen, eine Liebe, die den anderen umfängt, damit es ihm gut geht, damit er wachse, damit er vorankomme, damit er Erfüllung und Glück finde, eine Liebe, die verlangend für den anderen ist und nicht für sich selbst.

Dennoch wird das Ich, die eigene Persönlichkeit, in der schenkenden Liebe nicht ausgelöscht; denn die schenkende Liebe will ja eben etwas übergeben, das eigene Ich. Also muß das eigene Ich auch schön und wertvoll und kostbar gestaltet werden, damit das Geschenk würdig des anderen ist. Die schenkende Liebe ist ein gegenseitiger Wille zum Einswerden. Wer mit schenkender Liebe erfüllt ist, der sehnt sich nach dem anderen in einer Sehnsucht, wie sie nur bei Liebenden sein kann. Aber jeder bringt sich selbst mit. Wenn er sich dem anderen schenkt, dann übergibt er sich dem anderen, und eine solche Liebe ist eben nur zwischen Seelen möglich. Der Leib kommt niemals über sich hinaus, die Körper sind in sich selbst gefangen. Die schenkende Liebe dagegen, weil sie eine seelische Liebe ist, bringt einen Austausch zwischen den Gatten zustande, einen Austausch. Alles, was der eine erlebt, das will in die Seele des anderen hinüberwandern. Er will den anderen gelten lassen. Er ist nicht eifersüchtig. Eifersüchtig sind solche, die keine wahrhaft Liebenden sind, denn sie wollen dem Liebenden nicht die Freiheit lassen, deren er notwendig bedarf. Die liebende Seele, die schenkende Liebe besitzt, die läßt den anderen gelten, die nimmt an seinem Leben Anteil, die trägt die eigenen Sorgen und Erfolge zum anderen, die eigenen Freuden und Enttäuschungen, ja auch die eigenen Fehler und Mißgriffe.

Liebende, wahrhaft liebende Gatten können miteinander schweigen, und es wird ihnen nicht langweilig, denn auch im Schweigen fließen ihre Seelen zusammen. Liebende Gatten können auch miteinander reden, und es wird ihnen nicht zu viel, es geht ihnen der Stoff nicht aus, denn alles, was der eine erlebt, will in die Seele des anderen hinüberwandeln. So wird in der schenkenden Liebe die Ehe zu einer Wandergemeinschaft, zu einer Waffenbruderschaft, zu einem Arbeitsbund. Die schenkende Liebe verbindet die Seelen der Gatten in ungeahnter Weise, aber doch nicht so, daß der Leib ausgelöscht wird. Das leibliche Geschehen behält auch in der schenkenden Liebe seine wichtige Rolle, nur wird es hinaufgehoben. Es verliert allen Egoismus. Das leibliche Geschehen gewinnt Ähnlichkeit und Gleichförmigkeit mit der Seele, mit dem seelischen Geschehen. Es wird hineingenommen in die seelische Verbundenheit; es wird auf eine höhere Ebene gehoben. Es wird zu einer Ausdrucksform des gegenseitigen Schenkens.

Auch in den leiblichen Vorgängen wird bei Gatten, welche die schenkende Liebe besitzen, letztlich nicht der Leib gesucht, sondern die Seele. Und auf diese Weise können die Zeichen der Zuneigung, auch der körperlichen Zuneigung, zu einem Ausdruck des Vertrauens und der Hingabe werden. Erst in der schenkenden Liebe wird die größtmögliche Nähe denkbar. Wer allein durch die körperliche Liebe verbunden ist, der wird auf die Dauer nicht zur Nähe kommen; denn der begehrende Trieb ist, wie ich am vergangenen Sonntag sagte, auf die Dauer gesehen, nicht verbindend, sondern trennend, und je unersättlicher und je hemmungsloser sich Gatten ausgeben, um so schneller sind sie am Ende und stehen dann vor dem Nichts, wenn nichts anderes da war als das selbstsüchtige Begehren der Körper. Nicht die Vereinigung der Körper an sich schafft Nähe, sondern die  Einheit der Seelen schafft Nähe.

Aber für seelisch verbundene Menschen wird eben auch das körperliche Zusammensein zu einem Ausdruck ihrer inneren Nähe und wirkt dann stärkend auf die Seele zurück. Wenn die Nähe nicht zur Enge werden will, muß sie mit der Ferne verbunden werden, d.h. die Gatten müssen dem anderen die Freiheit lassen. Der Trieb der begehrenden Liebe allein führt immer zur Sklaverei. Dagegen die schenkende Liebe macht frei und läßt frei. Gatten, die in schenkender Liebe verbunden sind, spüren die körperliche Nähe nicht nur, sondern sie erfüllen sie. Sie erfüllen die körperliche Nähe, sie spüren, daß diese Nähe gleichzeitig mit der Freiheit verbunden sein muß, den anderen auch unberührt zu lassen. Wer dazu nicht fähig ist, der hat die schenkende Liebe nicht gefunden. Wer die schenkende Liebe besitzt, der läßt auch in schonender und einfühlender Weise dem anderen in Freiheit und in Ruhe. Die schenkende Liebe ist schonend, rücksichtsvoll; sie kann auch verzichten, sie kann auch sich enthalten, denn auch im Verzicht fließen die Seelen zueinander. Sie werden dadurch nur noch wärmer und inniger und demütiger. Die schenkende Liebe ist auf dem Wege zu jener Liebe, die wir am kommenden Sonntag betrachten werden, zu der dienenden Liebe, die in die Unendlichkeit, die in Gott hineinführt.

Amen.

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