Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Kirche in der Welt (Teil 10)

23. Januar 2000

Über Christus, die Seele der Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenn man die Kirche vor sich sieht, dann meint man, sie sei ein riesenhaftes System, eine große Organisation, eine gewaltige Institution. Das ist sie ja auch. Sie ist ein System, sie ist eine Organisation, und sie ist eine Institution. Da könnte man auf den Gedanken kommen, daß der einzelne, daß der Mensch in diesem System, in dieser Organisation, in dieser Institution wenig zu bedeuten hat. In der Tat: Die Menschen kommen und gehen; auch die Amtsträger kommen und gehen. Was bleibt, ist das Amt. Die Menschen versinken wieder in die Bodenlosigkeit des Vergessens.

Dennoch ist in der Kirche das Lebendige und Schöpferische nicht das System, nicht die Organisation, nicht die Institution, sondern eine Persönlichkeit: die Persönlichkeit, die am Anfang der Kirche steht, die Persönlichkeit Jesu Christi. Aus ihm quillt die Kirche gleichsam hervor, er hat sie geschaffen, auf ihn geht sie zurück. Und wenn sie den Anspruch erhebt, mit Kraft für die Gewissensbindung zu sprechen, dann kommt das davon, daß sie von Christus gegründet ist und daß Christus ihr Herr bleibt. Die Kirche ist durchrieselt vom Geiste und von der Kraft Christi.

Diese Persönlichkeit, die am Anfang der Kirche steht und die nicht nur eine vergangene Wirklichkeit ist, sondern die in die Gegenwart hineinwirkt – Christus ist der Lebendige –, diese lebendige Wirklichkeit der Persönlichkeit setzt sich aber auch fort in den Menschen. Man kann sagen: Die Kirche steht so da, wie die Menschen sind, die in ihr leben. Die Kirche steht dann in Blüte, wenn sie Menschen hat, die Christus in ihrem Herzen tragen und in ihrem Wandel bezeugen. Und die Kirche welkt dann dahin, wenn die Menschen fehlen, die Christus im Herzen, mit dem Munde und in ihrem Handeln sichtbar machen. Alles, was die Kirche an Leistungen vollbracht hat, ist auf die Menschen zurückzuführen, die in ihr gelebt und gewirkt haben. Die großen Unternehmungen, der apostolische Sendungsauftrag, die Taten der Nächstenliebe, die Glaubensverkündigung, die Belehrung der Völker – all diese Taten führen auf Menschen zurück. Das wahrhaft Schöpferische und Lebendige in der Kirche sind Menschen, die vom Christusgeist erfüllt werden. Daran ist alles gelegen, daß die Menschen, welche die Kirche bilden, von Christus getragen werden, daß sie Werkzeuge in der Hand Christi sind. Nur die Menschen, die sich willig in die Hand Christi geben, sind in der Lage, in der Kirche Großes zu wirken.

Paulus war ein großer Theologe, ein genialer Organisator, ein Kirchengründer, ein Gesetzgeber. Aber seine eigentliche, seine tiefe Liebe gilt nicht dem System, gilt nicht seiner Gründung; seine eigentliche und tiefe Liebe gilt einer Person, gilt Jesus Christus. Da wirkt Paulus ganz menschlich, ganz warm und ganz innig, wenn immer er auf Christus zu sprechen kommt. Die Päpste, die in der Kirche gewirkt haben, waren immer dann gewaltige und in die Zukunft weisende Gestalten, wenn sie nicht nur geniale Organisatoren waren, sondern wenn in ihnen die Christusliebe glühte. Ein Mann wie Gregor der Große war gewiß ein geistesmächtiger Staatsmann, aber er wäre niemals zukunftsweisend geworden, wenn in ihm nicht eine innige Liebe zu Jesus geglüht hätte, wenn er nicht der Mönch gewesen wäre, der die Vereinigung mit Christus aus seiner Zelle auf den Thron Petri mitnahm. Und so ist es bei allen Päpsten gewesen, die Gewaltiges und Dauerndes geschaffen haben, ob sie nun Leo oder Pius hießen. Immer wenn sich in ihnen Genialität mit Heiligkeit verband, dann haben sie für die Kirche Bleibendes geleistet.

Ähnliches gilt für die großen Ordensstifter. Das waren Männer und Frauen, die von der Liebe zu Christus erfüllt waren, die aus dieser Liebe die Welt durcheilten mit der einzigen Frage im Herzen und auf den Lippen: „Herr, was willst du, das ich tun soll?“  Deswegen sind die Stätten, an denen sie gewirkt haben, bis heute noch heilig, ob sie Cluny oder Clairvaux oder Cîtaux oder Manresa heißen. Das sind die Stätten, aus denen das Leben der Kirche gequollen ist, weil da Menschen sich dem Herrn zu Füßen geworfen haben, die von seiner Liebe eine Wunde trugen, die erst im Himmel heilt. Umgekehrt waren geniale herrscherliche Gestalten, denen die glühende Liebe zu Christus fehlte, in der Kirche zu ihrer Zeit gewiß einflußreich, aber sie haben nichts Dauerhaftes hinterlassen. Die machtbewußten Päpste des Mittelalters haben zu ihrer Zeit Bedeutendes geleistet, ohne Frage. Aber was geblieben ist, das war nicht ihr Werk, sondern das waren die Taten der unscheinbaren Mönche, ob sie nun Dominikus oder Franziskus geheißen haben. Sie haben die Zeiten überdauert. Warum? Weil in ihnen eine grenzenlose Christusliebe lebte, weil sie getrieben waren von einer Triebkraft, die aus dem Herzen Jesu stammte. Dann kamen düstere Zeiten über die Kirche: das Exil in Avignon, das große abendländische Schisma, die Kämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen in der Kirche, die heidnischen Bestrebungen im Renaissance-Papsttum. 250 Jahre ist kein Papst heilig geworden, 250 Jahre hat kein Heiliger den Papstthron bestiegen. Und deswegen war diese Periode eine Zeit, in der nichts Dauerhaftes geschaffen wurde. Erst als dann wieder im 16. Jahrhundert die neuen Kräfte sich Bahn brachen, da kam Bewegung in die Kirche, da hat die Kirche ihre Energie zusammengefaßt, da hat sie sich nach außen gewandt in einer gewaltigen Missionsbewegung, da waren wieder die Männer und Frauen da, welche aus Christusliebe und von dieser Liebe getrieben die Wahrheit und die Gnade Gottes in die Welt trugen.

Der größte Mangel in der Gegenwart ist das Fehlen von Männern und Frauen, von Jugendlichen und Kindern, die von einem unerschütterlichen Glauben und von einer innigen Liebe zu Jesus erfüllt sind. Dieser Mangel ist dafür verantwortlich, daß die Berufungen fehlen oder versickern, daß die Priesterseminarien leer stehen, daß die Ordenshäuser verkauft werden müssen. An diesem Mangel leiden auch viele Unternehmungen der Kirche. Es wird ja manches getan, aber diesen Unternehmungen fehlt die Seele, wenn sie nicht von Menschen ins Leben gerufen und getragen werden, die von inniger Christusliebe erfüllt sind. Ein Bischof kann noch so viele Artikel schreiben und Vorträge halten, er kann noch so viele Sitzungen einberufen und Verhandlungen leiten, er kann noch so oft im Fernsehen auftreten und in der Zeitung abgebildet werden: Wenn er nicht die Kräfte der Christusliebe in überströmendem Maße in sich trägt, dann ist all sein Wirken unfruchtbar, Schaumschlägerei, Eitelkeit.

Im vorigen Jahrhundert begab sich ein deutscher Bischof nach Irland. Er wollte einmal sehen, wie die Iren es fertiggebracht haben, trotz jahrhundertelanger Verfolgung treu an ihrem katholischen Glauben festzuhalten. Er dachte, sie würden ein reiches Vereinsleben auf die Beine gebracht haben, sie würden eine kraftvolle Presse unterhalten haben, sie würden machtvolle Kundgebungen veranstaltet haben. Er kam in Dublin an und begab sich in die dortige Andreaskirche; es war am Sonntagmorgen in früher Stunde. Was erlebte er in der Andreaskirche in Dublin?  Dort hielten 1.300 Männer ihre Monatskommunion. „Danach“, sagt er, „habe ich nicht mehr nach Vereinen gefragt, die das Leben der Iren getragen haben. Ich habe nicht mehr nach einer Presse gesucht, die die Menschen beeinflußt hätte. Ich wußte, woher die Kräfte dieses Volkes kommen. Sie kommen aus dem Tabernakel, aus dem heiligsten Sakrament.“

Ähnlich, meine lieben Freunde, war es in Frankreich. Die große Französische Revolution hatte furchtbare Blutspuren im Volk gezogen, im Klerus, in den Ordensleuten. Aber nicht einmal 100 Jahre danach gab es in Frankreich 130.000 Ordensleute. Der französische Schriftsteller Tain, der die Revolution beschrieben hat, wollte wissen, welches das Geheimnis dieses Wiederaufstiegs der katholischen Kirche in Frankreich war. Er begab sich in eine Wohltätigkeitsanstalt, die von Schwestern getragen wurde. Der Leiter dieser Anstalt führte Tain in die Kapelle. Dann wies er auf den Tabernakel und sagte: „Das ist die Quelle unserer Kraft.“

Wenn in unserer Zeit etwas Neues geschaffen werden soll, wenn die Kirche ihrem Auftrag voll entsprechen will, wenn die Menschen der Kirche Christus hinaustragen wollen, wenn sie missionieren wollen, dann muß all diese Bewegung wieder anfangen vom Tabernakel. Sie muß dort beginnen, wo das warme Herz der Kirche pulst, da, wo der Puls der Kirche schlägt, nämlich das heiligste Herz Jesu. Wenn das nicht geschieht, ist alles Leerlauf und umsonst. Nur wenn sich Persönlichkeit und Organisation vermählen, nur wenn Recht und Freiheit zusammenkommen, nur wenn Liebe und Kraft sich verbinden, steht der Kirche eine glänzende Zukunft bevor. Wir brauchen Menschen, Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, die Jesus suchen und seinen Geist in sich aufnehmen wollen. Wir brauchen Männer und Frauen, Jugendliche und Kinder, die Jesus kennenlernen wollen, immer mehr und immer besser, die ihn lieben wollen, immer mehr und immer tiefer. Wir brauchen Menschen, die von der Liebe zu Jesus erfüllt und ergriffen sind, Menschen, die sprechen können mit Paulus: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“

Amen.

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