Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Schöpfung (Teil 6)

5. September 1999

Die Stufung der Schöpfungsordnung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Nach einem Papier der katholischen Frauengemeinschaft, des soeben erschienen ist, ist Maßstab für den Wert einer Lebensform die in ihr gelebte Lebens- und Beziehungsqualität. Ich wiederhole: „Maßstab für den Wert einer Lebensform ist die in ihr gelebte Lebens- und Beziehungsqualität.“ Das kann doch wohl nichts anderes heißen als: Der Gewinn, der Nutzen, der Genuß entscheidet über Wert und Unwert von Leben und Beziehung. Damit ist eine totale Verkehrung vollzogen gegenüber dem, was die Schöpfung beinhaltet an Ordnung und Maßstab. Denn nach der Schöpfung ist der Zweck der Schöpfung die Ehre Gottes, und jedes Geschöpf nimmt teil an diesem Auftrag, Gottes Herrlichkeit zu verkünden. Sein Wert bemißt sich danach, wie weit und wie sehr es die Herrlichkeit Gottes durch sein Sein und sein Handeln verkündet. Nicht der Nutzen, nicht der Gewinn, nicht der Genuß entscheidet über den Wert eines Lebens, sondern die Kraft, die Intensität, mit der es die Herrlichkeit Gottes verwirklicht.

Die erfahrbare Wirklichkeit ist in Stufen aufgebaut. Die unterste Stufe ist das anorganische Sein. Ein Stein, der Sand, das ist die unterste Stufe. Darüber steht das Leben, zunächst das Leben der Pflanzen, dann das Leben der Tiere, das organische Sein. Und schließlich an der Spitze steht der Mensch, mit Geist und Willen begabt. „Du hast ihn nur wenig unter die Engel erhöht“, so heißt es im 8. Psalm, „mit Glanz und Herrlichkeit hast du ihn ausgestattet. Du hast ihn gesetzt über das Werk deiner Hände.“ Jede höhere Stufe verkündet mehr von der Herrlichkeit Gottes als die niedere Stufe. Sie setzt die niedere voraus, aber sie übersteigt sie auch. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, die Krone der sichtbaren Schöpfung. Gott hat ihn erhöht und nach seinem eigenen Bilde geschaffen. Gott hat den Menschen unsterblich erschaffen; er ist ein Bild und ein Gleichnis Gottes. Die natürlichen Wirklichkeiten werden überstiegen von den übernatürlichen Wirklichkeiten. Übernatürliche Wirklichkeiten sind jene, die mit Christus in die Welt gekommen sind, also die Kirche, die menschliche Natur Christi, die Gnade, die Sakramente, das Wort der Offenbarung. Die übernatürlichen Wirklichkeiten übersteigen weit die natürlichen Wirklichkeiten, so wenig massiv und existenzkräftig sie zu sein scheinen. Von diesen übernatürlichen Wirklichkeiten sagt Tertullian in seiner Schutzschrift für die Christen: „Christ ist man nicht durch die Geburt, sondern durch die Wiedergeburt.“ Und Aristides schreibt in seiner Schutzschrift an den Kaiser Hadrian: „Wahrhaft neu ist dieses Volk, eine göttliche Mischung ist in ihm.“ Die Christen sind das neue Volk. Sie sind durch die Gnade über die Natur weit erhoben. In jeder heiligen Messe beten wir ja das wunderbare Gebet: „Gott, du hast die menschliche Natur wunderbar erschaffen, aber noch wunderbarer erneuert.“ Wahrhaftig, das ist der Ausdruck der Stufung der Schöpfung: Über dem Natürlichen erhebt sich das Übernatürliche.

Wenn die irdischen Wirklichkeiten Gottes Herrlichkeit künden, dann gilt, daß das Ganze ihn mehr verherrlicht als der Teil, denn das Ganze stellt eben Gottes Herrlichkeit deutlicher dar. Aber das gilt immer nur auf derselben Seinsstufe. Auf der Stufe des anorganischen Seins verherrlicht ein Sternhaufen, eine Milchstraße Gott mehr als ein einzelner Stern. Aber wenn man die Stufen miteinander vergleicht, dann steht ein einzelnes Individuum, ein einzelnes Wesen einer höheren Stufe über dem ganzen Seinsbestand der niederen Stufe. Ein einziges Lebewesen verkündet Gottes Herrlichkeit lauter als die gesamte anorganische Welt. Und erst recht der Mensch preist Gott in seinem Sein herrlicher als alles, was unter ihm geschaffen ist.

An der Spitze der geschaffenen Dinge steht Christus, Christus seiner menschlichen Natur nach. Von ihm heißt es ja im Brief des Apostels Paulus an die Kolosser: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes. Er ist der Erstgeborene aller Schöpfung, denn in ihm ist alles geschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und Unsichtbare, die Throne, Herrschaften, Mächte und Gewalten. Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.“ Er ist also mehr wert als selbst die Engel. Die Engel scheinen Gott näher zu stehen, weil sie rein geistig sind, unkörperlich. Aber nein, die menschliche Natur Christi steht über den Engeln, weil sich in dieser Natur die Selbsterschließung Gottes in einer nicht überbietbaren Weise vollzogen hat. Die menschliche Natur Christi ist die höchste Form, wie sich Gottes Wirklichkeit in dieser Welt in menschlicher Gestalt zeigen konnte. Deswegen hat Jesus dem Philippus gesagt, als dieser ihn bat, er möge ihm den Vater zeigen: „Philippus, wer mich sieht, der sieht den Vater.“ Weil er eben im Vater ist, weil er an der Selbsterschließung Gottes teilhat. Und Johannes kann schreiben: „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater, voll der Gnade und Wahrheit.“

Christus ist der Mittler zum Vater; er ist der Weg zum Vater. Deswegen entscheidet die Nähe zu ihm über den Wert eines Menschen, über den Wert der Geschöpfe. Je näher einer bei Christus steht, um so mehr ist er wert. Die Nähe zu Christus ist zunächst ein Seinsverhalt. Sie wird geschaffen in der Taufe durch die Eingießung der heiligmachenden Gnade. Dadurch kommen wir in Blutsbrüderschaft zu Christus. Aber dieser Seinsverhalt muß aufgenommen werden im Bewußtsein. Also wir müssen das, was wir sind, auch im Leben verwirklichen. Wir haben eine Würde, aber wir müssen auch würdig leben. Es ist uns aufgegeben, durch unser Sein und durch unser Handeln Gottes Wahrheit und Gnade vor den Menschen kundzutun. Das ist unsere Aufgabe. Wir müssen unserer Würde eingedenk sein, und wir müssen entsprechend unserer Würde handeln.

Der große französische Prediger Lacordaire hat einmal den schönen Satz gesprochen: „Das größte Glück des Erdenmenschen ist es, einmal einem Menschen begegnet zu sein, der wirklich nach dem Herzen Gottes ist.“ Das ist wahrhaftig der Ausdruck dessen, was der Mensch mit seiner Würde beginnen soll. Er soll im Herzen Gottes leben, um auf diese Weise die Herrlichkeit Gottes zu bezeugen. Das ist ein Mensch für den anderen, was er an Würde, an Würdebewußtsein und an würdigem Handeln zeigt.

Man kann aus der Schöpfungsordnung eine Stufung der menschlichen Berufe und Tätigkeiten entwickeln. Diejenigen Berufe und Tätigkeiten stehen höher, die Gottes Herrlichkeit deutlicher verkündigen, und zwar muß man unterscheiden zwischen dem sachlichen Gehalt und der persönlichen Gesinnung. Der sachliche Gehalt ist die Aufgabe, die in einem Beruf beschlossen ist, die Werthöhe dessen, was einer in seinem Berufe tut. Ein Mensch, der einen schöpferischen Beruf ausübt, steht nach dem sachlichen Gehalt über einem anderen, der nur nachschaffend tätig ist. Aber das ist nur die eine Weise, wie sich Gottes Herrlichkeit kundtut. Die andere besteht darin, daß man in seiner Gesinnung die Herrlichkeit Gottes offenbart, daß man also mit seinem Bewußtsein alles zur Ehre Gottes verrichten will, daß man die gute Meinung macht. Und dadurch wird auch eine unscheinbare Tätigkeit wertvoll. Wer in der guten Meinung seine von der Welt wenig angesehene Tätigkeit verrichtet, der ist wahrhaft ein Mensch, der die Herrlichkeit Gottes anderen verkündet. Wir brauchen uns also, wenn wir einen einfachen Beruf haben, nicht zu grämen; wir brauchen nicht neidisch auf andere zu blicken, die hohe und herrliche Aufgaben verwirklichen dürfen, sondern was wir tun, ist wertvoll in den Augen Gottes, wenn es in der rechten Meinung, nämlich zur Verherrlichung Gottes, getan wird. Sie sollten niemals versäumen, meine lieben Freunde, jeden Tag am Morgen zu beten: „O Gott, laß mich diesen Tag zu deiner Ehre, zum Heile meiner Seele und zum Segen für meine Mitmenschen verbringen!“ Wer das tut, der weiht sein Werk dem König. „Laß mich diesen Tag zu deiner größeren Ehre, zum Heile meiner Seele und zum Segen für meine Mitmenschen verbringen!“

Die höchste Stufe hat freilich nicht der geschichtliche Christus, sondern der verklärte Christus inne. Denn im verklärten Christus ist die Wahrheit und die Gnade Gottes derart durch die menschliche Natur hindurchgebrochen, daß er selbst leuchtend und glühend geworden ist. Die verklärte Natur Christi ist das Urbild, nach dem alles gestaltet werden soll. Die ganze Schöpfung soll einmal nach diesem Urbild geformt werden. Das ist der Zustand des neuen Himmels und der neuen Erde. Wir haben eine Hoffnung, der wir entgegengehen, nämlich daß einmal die ganze Welt und auch wir selbst durchscheinend werden für die Wahrheit und die Gnade Gottes. Das ist unsere Hoffnung, und das ist unser Ziel.

Wahrhaftig, meine lieben Christen, wenn man die Schöpfungslehre ernst nimmt, hat man damit einen Halt in seinem ganzen Leben. Wir wissen, woher wir kommen, und wir wissen, wohin wir gehen. Wir wissen, was wir auf Erden zu tun haben, nämlich Gottes Herrlichkeit zu mehren. Wir wissen, wie wir handeln müssen, nämlich selbstlos und selbstvergessen, zur Ehre Gottes, zum Heil des Nächsten, zum Wohle unserer eigenen Seele. Wir können mit dem Kirchenlied wirklich anstimmen: „Himmel, Erde, Luft und Meere sind erfüllt von deinem Ruhm. Alles ist dein Eigentum.“

Amen.

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