Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Pre­digtreihe: Die geof­fen­barte Wahr­heit (Teil 12)

31. August 1997

Die alt­tes­ta­ment­li­che Offen­ba­rungs­re­li­gion

Im Namen des Vaters und des Soh­nes und des Hei­li­gen Geis­tes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In der jüngs­ten Zeit hat sich eine Hal­tung und Ten­denz breit­ge­macht, die sich in die Worte fas­sen läßt, man solle bei den Reli­gio­nen nur das Gemein­same sehen und nicht das Tren­nende. Diese Rede­weise ist außer­or­dent­lich gefähr­lich; denn wer so spricht und so han­delt, ver­säumt es, die Wahr­heit vom Irr­tum zu unter­schei­den. Die Wahr­heit ist eine gestrenge Her­rin, und man kann mit ihr nicht Kom­pro­misse schlie­ßen. Wer die Unter­schiede zwi­schen den Reli­gio­nen unter­schlägt oder ver­nach­läs­sigt, der tas­tet den Pri­mat der Wahr­heit an, ja der rührt an die Majes­tät des wah­ren und ein­zi­gen Got­tes. Diese gefähr­li­che Ver­su­chung ist vor allem zu beach­ten, wenn man vom Volke Israel und von der israe­li­ti­schen Reli­gion spricht. Es besteht die Nei­gung, diese Reli­gion auf einer Ebene mit baby­lo­ni­schen. per­si­schen, ägyp­ti­schen reli­giö­sen Vor­stel­lun­gen auf­zu­tra­gen. Damit aber ver­fehlt man das Wesent­li­che der israe­li­ti­schen Reli­gion; denn diese Reli­gion ist ein­zig­ar­tig.

Das Volk Israel war poli­tisch kein bedeu­ten­des Volk. Es war zunächst ein Vasall von Ägyp­ten, spä­ter war es von den Phi­lis­tern abhän­gig. Das Nord­reich wurde im Jahre 722 zer­stört, das Süd­reich im Jahre 586. Unter den Has­mo­nä­ern gab es eine kurze Zeit der Selb­stän­dig­keit, die aber bald wie­der been­det wurde. Das Volk Israel war auch kul­tu­rell kein her­vor­ra­gen­des Volk. Die umge­ben­den Völ­ker haben für Kul­tur und Wis­sen­schaft mehr geleis­tet als das israe­li­ti­sche Volk. Aber in einem Punkte zeich­net sich das israe­li­ti­sche Volk vor allen Völ­kern sei­ner Umge­bung aus, durch seine Reli­gion. Seine Reli­gion ist von ein­zig­ar­ti­ger Wahr­heit, von erha­be­ner sitt­li­cher Höhe und getra­gen von einer wun­der­vol­len Geschichte. Die israe­li­ti­sche Reli­gion ist eine Ein-Gott-Reli­gion, ein stren­ger Mono­the­is­mus. Der Gott Israels ist ein ein­zi­ger; er teilt seine Herr­schaft mit nie­man­dem. Er ist ein eifer­süch­ti­ger Gott, d.h. er dul­det keine Göt­zen neben sich. Und die­ser Gott ist eine freie sitt­li­che Per­sön­lich­keit von erha­be­ner Hei­lig­keit, Majes­tät und Herr­lich­keit. Dem israe­li­ti­schen Gott feh­len alle natur­haf­ten Züge. Das ist gerade das Eigen­ar­tige der ande­ren Reli­gio­nen, das Unter­schei­dende, das schlecht­hin Unter­schei­dende, daß bei ihnen Natur­vor­stel­lun­gen, Natur­kräfte ver­gött­licht wer­den; also etwa der Blitz, das Gewit­ter, die Kräfte des Was­sers, das Wachs­tum, die Frucht­bar­keit. Die übri­gen Reli­gio­nen sind aus­nahms­los Ver­gött­li­chun­gen von Natur­kräf­ten und unter­schei­den sich dadurch wesent­lich von der israe­li­ti­schen Reli­gion. Die israe­li­ti­sche Reli­gion ist keine Natur­re­li­gion, ihr feh­len die natur­haf­ten Züge. Ihr gehen auch die mytho­lo­gi­schen Züge ab. Mytho­lo­gie besteht darin, daß die Göt­ter dar­ge­stellt wer­den wie Men­schen. Sie ver­hal­ten sich wie Men­schen, sie tre­ten wie Men­schen auf Erden auf, sie ver­ei­ni­gen sich wie Men­schen, sie strei­ten sich wie Men­schen. Das fehlt in der israe­li­ti­schen Reli­gion völ­lig. Die israe­li­ti­sche Reli­gion ist keine mytho­lo­gi­sche Reli­gion. Sie ist über den Mythos weit erha­ben.

Noch etwas ande­res unter­schei­det die israe­li­ti­sche Reli­gion von den übri­gen semi­ti­schen Reli­gio­nen der Umge­bung. Diese haben bei ihren Göt­tern eine geschlecht­li­che Dif­fe­ren­zie­rung. Die Göt­ter tre­ten ent­we­der als Män­ner oder als Frauen auf und ver­hal­ten sich dem­ent­spre­chend. Dem Gott des Alten Tes­ta­men­tes fehlt jede geschlecht­li­che Dif­fe­ren­zie­rung. Er ist über jeden geschlecht­li­chen Unter­schied erha­ben. Geschlecht­li­che Unter­schiede gibt es unter den Men­schen. Sie feh­len bei dem einen, erha­be­nen Gott.

Ent­spre­chend die­sem Ein-Gott-Glau­ben war die Fröm­mig­keit des Alten Tes­ta­men­tes. Die­ser Gott in sei­ner strah­len­den Herr­lich­keit, in sei­ner erha­be­nen Majes­tät, in sei­ner über­wäl­ti­gen­den Hei­lig­keit for­dert von sei­nen Die­nern und Die­ne­rin­nen ethi­sche Hei­lig­keit. Er ver­langt nicht nur Opfer. An Opfern hat es nie gefehlt, ob es nun Stiere oder Böcke oder Tau­ben waren. Nein, er will über die Opfer hin­aus ethi­sche Gesin­nung und ethi­sches Han­deln. Die Men­schen sol­len demü­tig und gehor­sam sei­nen Wil­len erfül­len. Sie sol­len nicht nur Riten voll­zie­hen, sie sol­len ihr eige­nes Leben als Opfer Gott dar­brin­gen. Und das tun sie, indem sie sei­nem hei­li­gen Wil­len nach leben.

Die alt­tes­ta­ment­li­che Reli­gion ist sodann Offen­ba­rungs­re­li­gion. Das heißt: Sie ist nicht erdacht von Theo­lo­gen und Phi­lo­so­phen, sie ist nicht erzeugt durch poli­ti­sche Ver­hält­nisse, son­dern sie ist ent­stan­den, weil Gott sich geof­fen­bart hat. Gott hat den Israe­li­ten sei­nen Namen und sein Wesen kund­ge­tan, und so sind die Israe­li­ten zur Kennt­nis Got­tes gelangt. Nicht der Volks­geist hat die­sen Gott geschaf­fen, son­dern Gott selbst hat sich dem Volk offen­bart. Daß diese Got­tes­vor­stel­lung von oben kommt und nicht von unten, das sieht man vor allem daran, daß das israe­li­ti­sche Volk sich immer wie­der hin­ge­zo­gen fühlte zu den Göt­tern der Umge­bung. Es hat sich mit die­sen Göt­tern gern abge­ge­ben, weil diese Göt­ter beque­mer und nach­gie­bi­ger waren als der Gott, der sich ihnen geof­fen­bart hatte. Gerade diese Ver­su­chung und diese Ver­such­lich­keit zeigt, daß die Got­tes­vor­stel­lung des Alten Tes­ta­men­tes nicht von Men­schen erzeugt ist, son­dern von Gott geschaf­fen und den Men­schen über­mit­telt ist. Die alt­tes­ta­ment­li­che Reli­gion ist eine Offen­ba­rungs­re­li­gion. Das besagt auch, daß Gott mit dem Volke einen Bund geschlos­sen hat. Ja, das ist eigent­lich der Höhe­punkt die­ser Offen­ba­rungs­re­li­gion: der Bun­des­schluß zwi­schen Gott und dem Volk. Worin besteht die­ser Bun­des­schluß? Das Volk ist Got­tes Eigen­tum und gewinnt Got­tes Füh­rung und Got­tes Schutz. Aber dafür muß es auch etwas tun, es muß näm­lich Gott in Ver­trauen, Liebe, Demut und Gehor­sam anhan­gen. Also dem Schutze Got­tes ent­spricht der demü­tige Gehor­sam und die Pflicht­er­fül­lung des Volkes. Gott gibt dem Volk eine Sen­dung, er nimmt es in die Pflicht. Das Volk hat diese Sen­dung aus­zu­füh­ren, nicht auf­grund eige­nen Ver­diens­tes oder eige­ner Leis­tung, son­dern weil Gott es dazu erwählt hat.

Die israe­li­ti­sche Reli­gion ist wei­ter eine uni­ver­sale Reli­gion, also stark unter­schie­den von den Reli­gio­nen der Umge­bung. Bei den Völ­kern der dama­li­gen Zeit hatte jeder Stamm sei­nen eige­nen Gott, seine Stam­mes­gott­heit, und jede Stadt hatte ihren Gott, die Stadt­gott­heit. Nicht so der Gott Israels. Der Gott Israels ist der Herr Him­mels und der Erde. Er hat Him­mel und Erde erschaf­fen; Him­mel und Erde sind sein Eigen­tum, und er rich­tet über alle Geschöpfe. Er ist der uni­ver­sale Herr Him­mels und der Erde. Seine Macht endet nicht an den Lan­des­gren­zen, son­dern über­schrei­tet jede Grenze. Diese Uni­ver­sa­li­tät, also die auf die gesamte Mensch­heit gerich­tete All­ge­mein­heit der Got­tes­vor­stel­lung ist von kei­nem ande­ren Volk erreicht wor­den. Das ist wie­derum ein Hin­weis dafür, daß die israe­li­ti­sche Reli­gion nicht von unten stammt, son­dern von oben. Nicht das mensch­li­che Herz, nicht die Bedürf­nisse des Men­schen haben sie erzeugt, son­dern Gott hat sein Wesen geof­fen­bart.

Die israe­li­ti­sche Reli­gion ist auch eine geschicht­li­che Reli­gion. Wenn sie Offen­ba­rungs­re­li­gion ist, muß sie ja geschicht­lich sein, denn Offen­ba­rung muß sich ja ein­mal ereig­net haben. Die israe­li­ti­sche Reli­gion hat eine hei­lige Ver­gan­gen­heit und eine hei­lige Zukunft. Die hei­lige Ver­gan­gen­heit ist schon ange­klun­gen, wenn ich davon spre­che, daß Gott sich vor allem im Bun­des­schluß geof­fen­bart hat. Das ist gewis­ser­ma­ßen der Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt der Offen­ba­rung Got­tes, der Bun­des­schluß. Eine Natur­re­li­gion hat keine Geschichte, denn die Quel­len der Natur flie­ßen immer; das Wer­den und Ver­ge­hen wie­der­holt sich jedes Jahr. Da ist kein Unter­schied. Dage­gen hat eine Offen­ba­rungs­re­li­gion eine Geschichte, eine von Gott gemachte Geschichte, eine hei­lige Geschichte, ja eine Heils­ge­schichte.

Das israe­li­ti­sche Volk hat auch eine hei­lige Zukunft. Die israe­li­ti­sche Reli­gion war sich bewußt, daß sie eine Durch­gangs­re­li­gion ist. Sie war­tete auf das Kom­men des hei­li­gen, uni­ver­sa­len Got­tes­rei­ches. Sie schaute aus in die Zukunft. Sie war­tete auf den, der ein zwei­ter Moses sein sollte, wie Moses schon vor­aus­ver­kün­det hatte. Sie war­tete auf den Stern aus Jakob. Die israe­li­ti­sche Reli­gion wußte, daß sie im Advent stand. Sie hat eine hei­lige Zukunft, weil sie aus­schaut auf das uni­ver­sale Got­tes­reich, das Gott selbst her­bei­füh­ren wird.

In den drei­ßi­ger Jah­ren, meine lie­ben Freunde, gab es Bestre­bun­gen, das Alte Tes­ta­ment aus dem Reli­gi­ons­un­ter­richt zu strei­chen. In mei­ner Hei­mat­stadt war ein Schul­rat, der den Kin­dern emp­fahl und sogar anord­nete, daß sie aus ihren Bibeln das Alte Tes­ta­ment her­aus­ris­sen. Das war der Haß gegen das Juden­volk, der sich zu sol­chen Exzes­sen gestei­gert hat. Die Kir­che hat damals ent­schie­de­nen Wider­stand geleis­tet – die katho­li­sche Kir­che! Bei den Pro­tes­tan­ten war es anders. Dort gab es Pas­to­ren und sogar einen soge­nann­ten Lan­des­bi­schof, der das Alte Tes­ta­ment aus­ge­stri­chen wis­sen wollte – als Juden­buch. Nein, das Alte Tes­ta­ment und das Neue Tes­ta­ment gehö­ren eng zusam­men. Im Alten Bund ist der Neue Bund ver­hüllt. Im Neuen Bund ist der Alte Bund ent­hüllt. So wie die bei­den Sera­phime im Alten Bunde sich das „Hei­lig, hei­lig, hei­lig“ zurie­fen, so klin­gen Altes und Neues Tes­ta­ment zusam­men. Der Mut­ter­bo­den des Neuen Tes­ta­men­tes ist das Alte Tes­ta­ment. Die Offen­ba­rung Got­tes hub an mit der Offen­ba­rung an Israel. Und diese begin­nende Heil­sof­fen­ba­rung fand ihre Fort­set­zung und ihren Höhe­punkt, auch ihren Abschluß im Neuen Bunde.

Amen.

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