Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Gnadenlehre (Teil 7)

3. Juli 1988

Die Willensfreiheit des Menschen unter der Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir das Geheimnis der Erwählung und der Verwerfung betrachtet, jenes Geheimnis, das sich in dem erschreckenden Wort ankündigt: „Viele sind berufen, wenige aber auserwählt.“ Es gibt Menschen, von denen Gott seit Ewigkeit weiß, daß sie gerettet werden, und es gibt Menschen, von denen Gott ebenfalls seit Ewigkeit weiß, daß sie verlorengehen.

Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Liegt es an Gott, daß Menschen entweder gerettet werden oder verlorengehen, oder liegt es am Menschen? Das Geheimnis der Auserwählung und der Verwerfung hat die Theologen der Kirche immer wieder beschäftigt. Im Verlaufe dieses Nachdenkens sind viele in die Irre gegangen, indem sie eine Verwerfung lehrten, die von Gott ohne Rücksicht auf die menschlichen Verdienste oder Mißverdienste bestimmt ist. Die falschen Lehren hinsichtlich der Reprobation betreffen aber auch das Verhältnis von Gnade und menschlicher Freiheit. Die sogenannten Reformatoren des 16. Jahrhunderts haben dieses Problem in der Weise zu lösen versucht, daß sie mit Luther sagten: „Der Mensch wird entweder von Gott oder vom Teufel geritten. Er kann nicht anders als entweder mit der Gnade wirken oder ohne Gnade bleiben und dann zugrunde gehen.“ Und so hat Luther ein Buch geschrieben mit dem Titel De servo arbitrio – Vom Sklavenwillen, vom unfreien Willen. Die katholische Kirche hat diese Meinung als Irrlehre verworfen. Ihre Lehre geht dahin: Es gibt eine doppelte Art von Gnade. Es gibt Gnaden, die wirksam sind, und es gibt Gnaden, die unwirksam bleiben. In jedem Falle bleibt der menschliche Wille frei.

Es gibt aber zwei Arten von Gnaden. Die erste Art nennt man die wirksamen Gnaden, die zweite Art die hinreichenden Gnaden. Gott gibt jedem Menschen Gnaden, ohne Unterschied. Jedem gibt er hinreichende Gnade, aber nicht bei jedem wird sie zur wirksamen Gnade. Die hinreichende Gnade ermöglicht dem Menschen, das Heil zu wirken, aber es kann sein, daß sie unwirksam bleibt, weil auf seiten des Menschen etwas fehlt; es fehlt am Willen, auf die Gnade einzugehen und mit der Gnade zu wirken. Und so müssen wir heute die Lehre der Kirche über das Verhältnis von Gnade und Freiheit in zwei Sätzen aussagen, nämlich

1. Der menschliche Wille bleibt unter dem Einfluß der wirksamen Gnade frei. Die wirksame Gnade ist nicht unwiderstehlich.

2. Es gibt eine hinreichende Gnade, die den Menschen nicht zwingt, sondern die durch menschliche Schuld unwirksam wird.

Der erste Satz bekräftigt die Freiheit des menschlichen Willens. Dieser Satz ist gegen die sogenannten Reformatoren vom Konzil von Trient lichthell ausgesagt worden. „Wer behauptet, der freie Wille des Menschen wirke, wenn er von Gott bewegt und geweckt wird, zu seiner Bereitung und Zurüstung für den Empfang der Rechtfertigungsgnade nicht mit, indem er dem weckenden und rufenden Gott zustimmt, auch könne er, selbst wenn er wolle, nicht widersprechen, sondern verhalte sich wie ein lebloses Ding, vollkommen untätig und nur empfangend, der sei ausgeschlossen.“ Hier ist also die falsche Lehre der sogenannten Reformatoren aufgegriffen, die sagt, daß der Mensch nichts beiträgt zu der Vorbereitung auf die Rechtfertigung, daß er dem rufenden und weckenden Gott nur zustimmen könne und nicht sich ihm auch versagen könne, daß er, selbst wenn er wolle, nicht widersprechen könne, sondern sich wie ein lebloses Ding, wie ein Stück Holz verhalten müsse. Wer das sagt, „der sei ausgeschlossen.“

So lehrt das Konzil von Trient, und das ist die genuine katholische Lehre. Die Gnade hebt die Freiheit des Willens nicht auf. Der Mensch wirkt mit der Gnade mit. Der Mensch kann zustimmen, und er kann ablehnen, er bleibt frei unter dem Einfluß der Gnade. Die Heilige Schrift lehrt uns, daß das die einzig richtige Lehre ist. Wenn wir etwa denken, wie der Herr auf den Halden von Jerusalem saß und über die verlorene Stadt weinte. „Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln wie eine Henne ihre Küchlein sammelt. Aber du hast nicht gewollt!“ Sie hätten wollen können, aber sie haben nicht gewollt.

Einer der ersten Jünger des Herrn, der Erzmartyrer Stephanus, sagte es in seiner großen Rede im 7. Kapitel der Apostelgeschichte: „Ihr widersteht allezeit dem Heiligen Geiste.“ So sind seine Gegner: Sie stehen unter dem Einfluß des Heiligen Geistes, der sich um sie bemüht. Der Heilige Geist gibt ihnen die Gnade, aber sie widerstehen ihr. Und der heilige Apostel Paulus beschreibt das Zusammenwirken – das Zusammenwirken! – von Gnade und freiem Willen im 1. Korintherbrief mit den Worten: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“ Also hier scheint alles auf die Gnade anzukommen. Aber es geht weiter: „Und seine Gnade, die er mir gegeben, ist nicht unwirksam geworden.“ Aha! Warum? „Sondern ich habe mehr geschafft als sie alle.“ Er hat sich also in der Gnade und mit der Gnade gemüht. „Ich habe mehr geschafft als sie alle.“ Doch kommt er gleich wieder zurück auf den allwirkenden Gott: „Nicht ich, nein, die Gnade Gottes, die in mir war.“ Damit ist das im letzten unerklärliche Zusammenwirken von Gnade und freiem Willen angesprochen. Die Gnade wirkt in uns, aber doch so, daß sie die Freiheit verbürgt, daß die Freiheit durch die Gnade nicht aufgehoben wird. In seinen letzten Lebensjahren hat der große Gnadenlehrer Augustinus ein Buch geschrieben über die Gnade und den freien Willen. Da sucht er diejenigen zu belehren, die glauben, der freie Wille werde geleugnet, wenn man die Gnade verteidige, und die den freien Willen so verteidigen, daß die Gnade geleugnet wird. „Nein,“ sagt Augustinus mit seinen berühmten Worten, „der dich ohne dich geschaffen hat, rechtfertigt dich nicht ohne dich.“ Bei der Erschaffung war der Mensch nicht beteiligt, aber bei der Rechtfertigung, bei der Heiligung, bei der Beschenkung mit der heiligmachenden Gnade, da ist der Mensch beteiligt, da wirkt er mit. „Der dich ohne dich geschaffen hat, rechtfertigt dich nicht ohne dich.“

Also auch unter dem Einfluß der Gnade bleibt der menschliche Wille frei. Es gibt deswegen eine bloß hinreichende Gnade, die unwirksam bleibt wegen des Widerstandes des menschlichen Willens. Die Gnade, die Gott gibt, ist an sich hinreichend, um den Heilsakt zu setzen, um den Himmel zu gewinnen, aber der Mensch versagt sich ihr, geht nicht auf sie ein, läßt sich nicht von ihr bewegen, und da bleibt sie unwirksam. Diese Lehre ist in dem genannten Satz des Konzils von Trient mitenthalten. Denn da ist gesagt, daß der Mensch bei der Bereitung und Zurüstung für den Empfang der Rechtfertigungsgnade etwas tun kann. Die Meinung, der freie Wille wirke nicht mit bei der Zurüstung für den Empfang der Rechtfertigungsgnade, ist falsch. Also ist richtig: Der freie Wille wirkt mit bei der Zurüstung, bei der Vorbereitung auf den Empfang der heiligmachenden Gnade. Und dann kommt der zweite Satz: „Der Mensch kann widersprechen.“ Es wird die Meinung abgewiesen, er kann, auch wenn er will, nicht widersprechen, also ist richtig: Er kann, wenn er will, widersprechen. Er kann sich der Gnade verweigern, er kann die Gnade ablehnen. Und wir wissen, daß das oft geschieht.

Noch einmal die beiden Bibelstellen: „Wie oft wollte ich deine Kinder versammeln, aber du hast nicht gewollt.“ Und: „Ihr widersteht allezeit dem Heiligen Geiste, ihr Halsstarrigen.“ Wir wissen aus der Erfahrung, daß es nicht selten vorkommt, daß Menschen sich der Gnade verweigern, daß sie auf die feine Stimme Gottes nicht hören, daß sie den Einfluß der Gnade unwirksam machen durch ihr hartes Herz.

Vor einigen Jahren kam einmal ein Mann zu einem Priester und sagte: „Ich habe einen Freund, der ist schon lange, lange von Religion, Gott, Kirche, Sittlichkeit abständig, aber ich habe ihm gesagt, er solle mal kommen und zur Beichte gehen.“ „Ja, gut,“ sagte der Priester, „ich warte auf ihn.“ Der Priester begab sich in die Kirche, er ging in den Beichtstuhl, er wartete, wartete. Nach einiger Zeit kam der Freund wieder und sagte: „Nein, er hat sich doch nicht bereitgefunden, er ist ins Wirtshaus gegangen.“ Er war ins Gasthaus gegangen. Dort trank er mehrere Schoppen Wein. Dann ging er auf den Bahnhof, um nach Hause zu fahren. Er verfehlte den Zug, geriet zwischen die Gleise und abends um halb zehn hat ihn eine Lokomotive totgefahren. Die hinreichende Gnade war ihm angeboten, aber er hat sie nicht benutzt. Das ist die Lehre der Kirche, die die Erfahrung bestätigt. Der heilige Augustinus sagt einmal sinngemäß: „Gott ist immer mit seinem Erbarmen bei uns. Aber es kommt auf den Willen an, ob er zustimmt oder ob er ablehnt.“

Da sehen wir die große Verantwortung, meine lieben Freunde, die wir für unser Leben, die wir für jede angebotene Gnade haben. Die innere Gnade ist nicht unwiderstehlich, wie Cornelius Jansenius, ein Irrlehrer des 17. Jahrhunderts, sagte, sondern sie ist, um wirksam zu werden,  angewiesen auf die Zustimmung des Menschen. Wir müssen deswegen wach sein und, wie Paulus fordert, unser Heil „mit Furcht und Zittern“ wirken. Wir müssen oft und oft beten: „Vom Mißbrauch der Gnaden, von der Vernachlässigung deiner Einsprechungen erlöse uns, o Herr!“

Amen.

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