Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Der Heilsplan Gottes (Teil 8)

15. März 1987

Über Gottes Erlösungswerk

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir die Selbsterlösungsversuche betrachtet, welche die Menschen unternommen haben oder heute noch unternehmen. Philosophische und religiöse Selbsterlösungslehren sind von den Menschen erdacht worden, aber sie sind unfähig, das zu leisten, was sie vollbringen möchten, nämlich die Erlösung zu bewirken. Wenn die Sünde nichts anderes wäre als ein sittliches Versagen, eine Mißachtung der Lebensgesetze, dann könnte ja durch Besserung des Menschen und durch Beachtung dieser Gesetze die Erlösung herbeigebracht werden. Aber die Sünde ist etwas anderes. Sie ist Abschüttelung der Herrschaft Gottes, sie ist Verrat und Untreue gegenüber Gott, sie ist Verlust des übernatürlichen Lebens, sie ist Entheiligung und Entweihung – soweit es Menschen möglich ist – von Gottes Herrlichkeit. Denn so wie die Welt durch die Sünde geworden ist, ist sie eben kein klarer Spiegel der Herrlichkeit Gottes mehr und sie ist keine Enthüllung, sondern eine Verhüllung seiner Macht, seiner Weisheit, seiner Liebe. Und so kann die Frage entstehen angesichts dieser vom Menschen zerstörten Welt: Wie muß der Gott beschaffen sein, der so eine Welt geschaffen hat?

Soll es nach diesem Verrat, nach diesem Abfall, nach dieser Entweihung zu einer neuen Freundschaft mit Gott kommen, dann muß der verratene Freund, also der große, gewaltige Gott, auf den Menschen zugehen und sagen: Es soll wieder alles gut sein! Der Mensch ist nicht imstande, aus eigener Kraft aus den Tälern der Erde zu den Gipfeln empozusteigen, die wir das übernatürliche Leben nennen. Nur wenn Gott sein Herz aufschließt, wenn er den Menschen hineinnimmt in sein übernatürliches Leben, ist der Mensch fähig, daran teilzunehmen.

Die Sündenmacht beherrscht den Menschen. Sie ist so mächtig, daß der Mensch ohne fremde Hilfe nicht imstande ist, sie zu überwinden. Würde Gott den Menschen sich selbst überlassen, dann würde er für immer und ewig ein Gefangener der Sündenmacht bleiben.

Freilich ist es nicht so, meine lieben Freunde, als ob die Erlösung den Menschen in den Schoß fiele. Sie ist ein Geschenk, aber die Geschenke Gottes sind von besonderer Art. Die Geschenke Gottes rufen die menschliche Betätigung hervor, sie sind eine Gabe, die gleichzeitig eine Aufgabe ist. Die Geschenke Gottes fordern die menschliche Selbstbetätigung in elementarem Maße heraus. Wer das Geschenk Gottes annehmen will, muß sich öffnen, und das ist eine Selbsttätigkeit des Menschen, eine freilich von Gott bewirkte Selbsttätigkeit, aber deswegen doch eine Selbsttätigkeit. Auch wenn Gott den Menschen bewegt, bleibt der Mensch verantwortlich dafür.

Wenn der Mensch die Gabe Gottes festhalten will, dann muß er ständig bemüht sein, sich ihrer wert zu zeigen, ihrer würdig zu werden, in das Leben Gottes einzugehen. Und wenn Gott sich dem Menschen schenkt, dann erwartet Gott, daß sich der Mensch zurückschenkt. Also: Erlöst werden, Erlösung empfangen ist alles andere als Untätigkeit oder Passivität, Erlösung ist vielmehr auch von seiten des Menschen ein höchst aktiver Vorgang, aber eine Aktivität, die von Gott geschenkt ist. Denn wenn die Liebe im Herzen des Menschen wieder erblühen soll, dann muß er sie selbst erwecken. Wenn der Mensch sich zu Gott hinwenden will, dann muß Gott ihn bewegen. Wenn der Mensch sich wieder auf den Weg machen will, um zum Vater heimzukehren, dann muß Gott ihm die Kraft für diesen Weg geben.

Aber noch einmal: Deswegen bleibt die Verantwortung des Menschen ungeschmälert. Trotz alles Gnadenhaftigkeit der Erlösung bleibt der Mensch verantwortlich dafür, ob er erlöst wird. Es ist beim Menschen nicht wie bei einer Maschine. Wenn da ein Rädchen verbraucht ist, dann nimmt man es heraus und setzt ein neues ein. Es ist die Erlösung kein naturhafter, kein mechanischer Vorgang, sondern ein Lebensvorgang, der sich nach der Weise des Menschen richtet, d.h. voll Verantwortung für das, was der Mensch tut oder was er läßt.

Die Erlösung muß also geschenkt werden. Wenn man das weiß, meine lieben Freunde, dann ist man ein nüchterner, ein realistischer Mensch geworden, dann ist einem bewußt, daß alle Bemühungen des Menschen, aus den Kräften der Erde, ohne Gott oder gar gegen Gott das Paradies zu schaffen, zum Scheitern verurteilt sind. Wer meint, durch Änderung der Produktionsverhältnisse oder durch einen Wandel der Gesellschaftsordnung oder durch eine Revolution den Frieden und das Paradies auf Erden schaffen zu können, der ist auf dem Holzweg. Auf diese Weise werden immer nur neue Tränen, Blut, Kampf und Tod hervorgebracht. Das sind Illusionen, von denen der Christ, der gläubige Christ sich befreit.

Nicht, meine lieben Freunde, als ob wir die Hände in den Schoß legen dürften, nicht, als ob wir uns nicht bemühen müßten, gerechte Verhältnisse auf Erden herzustellen. Selbstverständlich, das ist eine unserer Hauptpflichten auf Erden. Aber anzunehmen, daß durch menschliches Bemühen allein, ohne Rücksicht auf Gott und ohne Vertrauen auf Gott, es jemals gelingen könnte, das irdische Paradies herbeizubringen, das ist eine absolute Illusion. Nein, Gott selbst muß kommen, den Menschen zu erlösen.

Dazu kann der Mensch Gott nicht zwingen. Es trat einmal ein Theologe auf, der die Meinung vertrat, der Mensch habe einen Anspruch auf Erlösung. Nein, einen solchen Anspruch gibt es nicht. Gott konnte weder durch eine außergöttliche Gewalt gezwungen werden, die Erlösung herbeizuführen, noch durch eine innergöttliche Notwendigkeit. Die Erlösung entspringt Gottes freiem Liebeswillen. Gott erbarmt sich, wenn er sich erbarmen will und wann er sich erbarmen will. Die Erlösung ist nicht etwa deswegen notwendig, weil sonst die Welt in der Sünde keine Offenbarung der Herrlichkeit Gottes erfährt.

Meine lieben Christen, wenn Gott die Erlösung nicht beschlossen hätte, wenn also die Welt in der ewigen Sünde verharrt wäre, würde die Welt auch dann Gottes Herrlichkeit preisen und aussagen; denn in der ewigen Unfertigkeit, in der ewigen Zerrissenheit des Menschen würde kund, daß der Friede, daß die Harmonie allein in Gott zu gewinnen ist. Auch die Verdammten preisen Gottes Macht und Größe. In ihrer Verlorenheit sind sie ein lebendiges Zeugnis dafür, daß die Vollendung und das Glück und die Einheit und der Friede allein in Gott zu gewinnen sind.

Freilich gibt es Gründe, Angemessenheitsgründe, warum Gott die Menschheit erlösen sollte. Denn wenn der Zweck der Erschaffung der Welt die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes ist, so wird man sagen können, daß Gottes Herrlichkeit sich leuchtender und beglückender und lebendiger offenbart, wenn auf der Erde die Liebesantwort des Menschen zurücktönt, wenn also der Liebe Gottes, die er bei der Schöpfung bewiesen hat, die Liebe des Menschen, die sich auf Gott richtet, entspricht. Gott wird eben mehr verherrlicht durch das Glühen eines menschlichen Herzens als durch die Starre des unbewegten Eises.

Darum ist anzunehmen – und das haben die größten Theologen des Mittelalters, ja des Altertums schon gelehrt – darum ist anzunehmen, daß Gott die Sünde nur zuließ, weil er von vorneherein die Erlösung nicht nur voraussah, sondern beschlossen hat. Oder anders ausgedrückt: Gott ließ die Sünde des ersten Menschen geschehen, weil er von vorneherein die Menschwerdung des Logos, der zweiten Person in Gott, beschlossen hat. Gott, der ja nicht nur das, was jetzt ist und was war, in seinem göttlichen Gedächtnis aufbewahrt, sondern Gott, der auch weiß, was in der Zukunft geschehen wird, der auch die freien Taten des Menschen kennt, hat in seiner Weisheit, Macht und Liebe von vorneherein eine wunderbare Wiederherstellung des Menschengeschlechtes beschlossen, er hat von vorneherein die Menschwerdung in seinen Heilsplan eingenommen. Darum konnte er den Fall, die Ursünde, die Erbsünde geschehen lassen. Er wollte eine viel herrlichere Erlösung bewirken als es der Zustand war, der vor dem Sündenfall geherrscht hat.

Auch eine andere Überlegung führt zu diesem Ergebnis. Die erste Sünde des Menschen war nicht wie bei den gefallenen Engeln eine Bosheitssünde, sie war vielmehr eine Schwachheitssünde. Das Böse kam nicht selbsttätig aus dem Inneren des Menschen, sondern wurde von außen an ihn herangetragen. Als der Mensch der Versuchung erlag, vollzog er das Nein zu Gott nicht mit der gesamten, gesammelten Kraft seines Inneren, es füllte dieses Nein nicht alle Räume des Menschen aus, es war nicht ein derart umfassendes und endgültiges Nein, daß kein Raum mehr für ein Ja gewesen wäre. Weil also der Mensch nicht mit der gesammelten Kraft seines gesamten Inneren sich gegen Gott gewendet hatte, deswegen blieb ein Anknüpfungspunkt für die Gnade. Es war so, daß ein glimmender Docht verblieb, und diesen glimmenden Docht hat Gott nicht ausgelöscht.

So hat also Gott in freiem Willen die Erlösung beschlossen. Er hat die Erlösung in einer Weise beschlossen, die unvorstellbar für die Menschen war. Die Erlösung hätte in mannigfacher Weise bewerkstelligt werden können, aber Gott hat die höchste und die adeligste und die vornehmste Weise gewählt, die überhaupt denkbar war, nämlich die Menschwerdung seines Sohnes Jesus Christus, und nicht nur die Menschwerdung, sondern den Kreuzes- und Opfertod seines Sohnes Jesus Christus.

Warum diese Weise der Erlösung? Weil darin zwei Dinge sichtbar werden; einmal das Grauen der Sünde. Wenn wir den zerrissenen, blutenden Gottessohn am Kreuze sehen, dann wissen wir, welcher Schrecken es um die Sünde sein muß, nicht ein Betriebsunfall, nicht ein psychologisch zu entschuldigendes Versehen, nein, die Sünde ist so furchtbar, daß um sie zu sühnen, um Genugtuung zu leisten, der Sohn Gottes, Gott selbst sein Leben am Kreuze verhauchen mußte. Der zweite Grund liegt darin, daß in dem gekreuzigten Gottessohn die höchste Liebe sichtbar wird. Eine Liebe über die geopferte Liebe hinaus gibt es nicht. Indem  der Vater im Himmel seinen Sohn opfern ließ, opfern ließ für die Erlösung der Menschen, zeigte er seine abgründige Liebe, eine Liebe, über die hinaus eine Liebe nicht denkbar ist.

Aus diesen beiden Gründen, um das Grauen der Sünde zu zeigen und um die Übermacht der Liebe zu offenbaren, hat Gott den höchsten Weg der Erlösung gewählt: Menschwerdung, Leiden und Sterben seines eingeborenen Sohnes.

Amen.

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