Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. Februar 2024

Der leidende Menschensohn und der blinde Bartimäus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jesus nahm die Zwölf beiseite und sagte ihnen: „Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem.“ Das war der Weg des Messias zum letzten Osterfest, zur Karwoche, zum Gründonnerstag. Auf diesem Wege sprach er eindringlich zu den Aposteln über das bevorstehende Leiden. Er wiederholte, was die Propheten, vor allem Isaias, über den Menschensohn geschrieben hatten. Das war das richtige Wort: der Menschensohn. Wenn der Messias Mensch war, durfte er nicht jenseits des Leides wohnen. Denn Mensch und Leid sind untrennbar. Die Götter des Olymps standen jenseits allen Leides und jenseits der Not. Sie aßen Ambrosia und tranken Nektar. Was wussten sie von der Not der Menschen, vom Fieber der Kranken, von den Wunden des Hospitals, vom Zusammenbruch der Nerven; Götter leiden nicht. Das Wort vom Menschensohn steht bei Daniel, die Prophezeiung des leidenden Gottesknechtes bei Isaias. Jetzt zeichnet Jesus dieses Bild: „den Heiden ausgeliefert, von den Soldaten verspottet, von den Schergen gegeißelt, von den Juden angespien, von den Römern gekreuzigt“. Die Belehrung über das bevorstehende Leiden richtet sich, weil sie sein Messiasgeheimnis betrifft, an die Zwölf allein (Lk 9,31). Diese dritte Leidensweissagung geht über die erste (Mk 8,31) und zweite (Mk 9,31) durch ihre ins einzelne gehende Genauigkeit hinaus. Sie nennt ausdrücklich Jerusalem als Schauplatz der Passion und die sechs wichtigsten Züge aus ihrem Verlauf in genauer geschichtlicher Reihenfolge. Jesu klares und bestimmtes Wissen, dass die entscheidende Stunde naht, beschleunigt seine Schritte. „Mit einer Taufe muss ich getauft werden, und wie drängt es mich, bis es vollbracht ist“ (Lk 12,50). Jesus ist von dem lebendigen Verlangen erfüllt, das schwere Geschick auf sich zu nehmen, das ihm bestimmt ist. Er nennt es hier seine Taufe. Das Leiden wird sich auf ihn stürzen wie Wasserwogen und ihn begraben. Die Entschlossenheit, mit der er seinem Ziel entgegengeht, versetzt die Jünger in betroffenes Staunen und die übrigen Begleiter geradezu in Bestürzung. Markus schreibt: „Sie waren nun auf dem Weg nach Jerusalem hinauf. Jesus ging vor ihnen her. Sie staunten und folgten ihm voll Furcht“ (Mk 10,32). Sie ahnten, was dem Meister bevorstand. Auf den Karfreitag folgt am dritten Tag der Ostermorgen. So wird es kommen. Isaias wird bis zur letzten Randbemerkung erfüllt. Dieses Mal sagt es der Herr den Aposteln mit aufdringlicher Deutlichkeit. Aber sie begreifen es nicht. Im Text des Evangeliums steht in dreifacher Wiederholung die klassische Lukasstelle von deren Unverständnis: „Sie aber verstanden nichts von diesen Dingen, das Wort war vor ihnen verborgen, sie begriffen nicht, was gesagt worden war.“

Wie ist es zu erklären, dass die vertrauten Jünger die gewichtige Vorhersage ihres Meisters nicht erfassen? Der Evangelist Lukas lässt keinen Zweifel, weder an der erfolgten Weissagung des Leidens Jesu noch an der tatsächlichen Harthörigkeit der Apostel. Die Apostel sind durch eigenen Willen taub. Immer noch von der Oberflächlichkeit des offiziellen Judentums umnachtet. Immer noch nicht zur heimlichen Erkenntnis des religiösen Menschen erwacht. Wie war das möglich? 1. Die Apostel überschätzten die Begeisterung und die Bewunderung, die Jesus im jüdischen Volk gefunden hatte. Enthusiasmus und Faszination sind ein Feuer, das aber nur so lange lodert, als immer neuer Brennstoff nachgelegt wird. Eben das hat Jesus nicht getan. Er wehrte sich gegen den Wunsch oder die Forderung, Sensationen, Schauwunder zu wirken. Er verbot Geheilten, von ihrer Heilung zu sprechen. Jesus sah die Gefahr, dass eine ausdrückliche Offenbarung seiner Messiaswürde vom Volk missverstanden werde. Sein wahres Wesen konnte und sollte erst nach seiner Auferstehung verstanden werden. Deswegen gebot er den drei Jüngern, niemand etwas von seiner Verklärung zu erzählen, bis er von den Toten auferstanden wäre. 2. Die Apostel unterschätzten die Summe an Abneigung, Hass und Furcht, die sich im hohen Klerus von Jerusalem und im Synedrium gegen ihren Meister angesammelt hatte. Jesu offen vorgetragene Kritik an den jüdischen Religionsführern hatte diese erzürnt und erbittert. Sie vergaben ihm nicht seine Missbilligung und seinen Tadel an der Weise, wie sie ihre hervorgehobene Stellung ausnutzten. Dem Volk hatte er gesagt: „Hütet euch vor den Schriftgelehrten! Sie verzehren die Häuser der Witwen und sagen zum Schein lange Gebete her. Sie werden ein sehr strenges Gericht zu gewärtigen haben“ (Lk 20,45-47). 3. Die nationalistisch gesinnten Kreise in Israel waren enttäuscht von der Haltung, die Jesus gegenüber der römischen Herrschaft einnahm. Er erhob keinen Einwand gegen die Präsenz der kaiserlichen Macht in Palästina. Er war weit entfernt vom Zelotentum der jüdischen Hardliner. Die jüdischen Nationalisten erkannten, dass er für ihre Zwecke nicht brauchbar war. Das Gegenteil war der Fall. Sie fürchteten, dass Jesus eine große Anhängerschaft um sich sammeln werde, dass die Römer kommen und ihnen die heilige Stätte (den Tempel) und das Volk wegnehmen werden (Joh 11,45-54). Darum musste er beseitigt werden. Die falsche Einschätzung der Lage und ihr Wunschdenken, weiterhin mit dem Meister wandeln und ihn hören zu dürfen, waren der Grund, warum die Jünger Jesu die realistische Zukunftsschilderung des Herrn missachteten.

Den Blinden, die an den staubigen Straßen sitzen, über welche die Pilger zum Paschafeste nach der Sionsstadt ziehen, den Blinden, welche die Hände bittend ausstrecken und denen nur das Licht der physischen Augen fehlt, kann der Herr helfen. Der Weg vom Ostjordanland nach Jerusalem führte über Jericho, eine der ältesten Städte Palästinas, die von Herodes dem Großen und seinem Sohn Archelaus mit Prachtbauten geschmückt wurde. Es lag etwa 30 Kilometer nordöstlich von Jerusalem am Westrand des breiten Jordantales. Hier wirkt Jesus sein letztes von den Synoptikern erzähltes Heilungswunder. Markus nennt uns den Namen des Blinden am Wege von Jericho: Bartimäus. Dass der Name des Blinden genannt wird, ist ein Beweis echter geschichtlicher Überlieferung. Das kommt sonst nur noch bei Jairus und Zachäus vor. Der Bettelnde hört zunächst nur den Lärm der Jesus begleitenden Menge. Erst auf sein Nachfragen erfährt er, dass Jesus von Nazareth des Weges kommt. Im Lande sagt man, aus Nazareth, diesem kulturfernen Bergnest, kommt nichts Gescheites. Wie kann von da der Messias Israels kommen! Aber diesen blinden Menschen stört das schreckhafte Wort Nazareth nicht. Er ist irgendwie gläubig. Seine Anrede setzt voraus, dass er von Jesus schon gehört hat. Er erfasst freilich noch nicht bis in die letzten Tiefen die Mächtigkeit des Propheten, der vorüberwandert. Das Letzte, was er von ihm weiß, ist die Zugehörigkeit des Messias zum königlichen Geschlecht Davids. Das ist noch nicht alles. Das ist erst eine Strecke des Wegs. Aber Bartimäus hat bei aller Unklarheit einen tiefen Glauben: „Erbarme dich meiner, du Sohn Davids!“ Er ruft es laut in die palästinensische Landschaft. „Sohn Davids“ bezeichnet ihn als den nationalen Befreier, unter dessen Herrschaft die alten Verheißungen Gottes an Israel sich erfüllen sollen (Mk 11,10). Vom Messias erwartete man, dass er auch die Blinden heilen werde (Is 35,5; Mt 11,5 = Lk 7,22). Das lässt Bartimäus Hoffnung fassen. Er wiederholt die Bitte an den Davididen. Dass man ihm Schweigen gebietet, will wohl heißen, dass man sein Geschrei als Belästigung empfindet.

Jesus aber weist sein Messiasbekenntnis nicht zurück. Er bleibt stehen und befiehlt, man solle ihn herbeiführen. Das ändert mit einem Schlag die ganze Lage. Eben war der Blinde noch bedroht worden; jetzt wird ihm Mut zugesprochen: „Fasse Mut! Steh auf! Er ruft dich.“ Das musste das gläubige Vertrauen des Mannes noch steigern. Dass er den Mantel abwirft und aufspringt, wird als Beweis dafür angeführt. Jesus fragt ihn: „Was soll ich dir tun?“ Die Frage hat den Zweck, eine Äußerung seines Glaubens zu veranlassen. Er fragt ihn auch, um die größere Lebendigkeit des Messiasgedankens hervorzurufen, was er denn eigentlich von ihm wolle. Jener antwortet nur eines: „O Herr, dass ich sehend werde.“ Aus der Anrede Rabbuni (= mein Herr) spricht die Ehrfurcht vor dem messianischen Davidssohn. Da spricht Jesus zu ihm: „Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen.“ Die Heilung erfolgt sofort. Der Glaube an Jesu Wundermacht hat sie vermittelt. Das Wort vom Davididen ist gewiss nicht ausreichend. Es entblättert nicht die gottgleiche Natur des Logos. Doch immerhin kann das Wort auf ihn angewandt werden. Es bezeichnet eine Etappe, für diesen Blinden eine große Etappe auf dem Wege zum vollen Christentum. Diesem Blinden kann der Herr helfen. Er ist auf geradem Wege zum Verstehen des Nazareners. Er ist ein werdender Christ. Die Apostel, denen der Herr, den Jordan hinab, alle diese Tage den Propheten Isaias erschlossen hatte, sind noch auf Umwegen zum Christentum. „Schau auf! Auf deinen Glauben hin soll dir die Blindheit der Augen genommen werden.“ Sogleich konnte er wieder sehen und folgte ihm, Gott preisend. Und das ganze Volk, das zusah, gab Gott die Ehre.

In Afrika arbeiten die „Ärzte ohne Grenzen“. Sie nehmen sich der Kinder an, die am grauen Star leiden, an der Trübung der Augenlinse. Diese kann angeboren oder durch Krankheiten entstanden sein. Die vollständige Trübung wird als Blindheit angesehen. Sie betrifft in Afrika viele Kinder. Die Ärzte ohne Grenzen nehmen sich ihrer an, implantieren eine Kunststofflinse und geben so den Kindern das Licht der Augen zurück. So werden sie zu Wohltätern zahlreicher Kinder. Das Wirken der Ärzte ohne Grenzen ist verdienstlich. Aber es geschieht mit natürlichen Mitteln. Nicht so Jesus. Er benötigt weder eine Untersuchung noch eine Operation des Blinden. Er erkennt die Notwendigkeit der Heilung und vollzieht sie durch das Wort seiner Allmacht. „Sei sehend!“ Die Heilungen Jesu sind der Erweis göttlicher Macht. Er erfüllte, was Petrus in seiner Predigt in Cäsarea am Meere sagte: „Er ging umher, Wohltaten spendend und alle heilend“ (Apg 10,38). Die Blinden macht er sehend, und den Tauben gibt er das Gehör. Jesus hat nicht nur den blinden Bartimäus geheilt. Der Arzt Lukas berichtet in seinem Evangelium: „Jesus heilte viele von Krankheiten, Gebresten und bösen Geistern und schenkte vielen Blinden das Augenlicht“ (Lk 7,21).

Amen.

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