Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. November 2022

Apostolische Feinfühligkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir können dem Heiland in seiner Welterlösung helfen. Er braucht menschliche Hilfe und ist darauf angewiesen. Wie sieht es um diese Hilfe aus? Wie können wir dazu beitragen, die Absichten Jesu Christi in der Welt zu erfüllen? Indem wir apostolisch tätig werden. Apostolisch tätig werden heißt, wie die Apostel des Herrn den Glauben weitergetragen und die Kirche ausgebreitet haben, im Dienst des Herrn arbeiten und wirken. Welches sind die letzten Gründe, die Quellen und die Kräfte des apostolischen Wirkens? Was war eigentlich das Wirksame an der Erlösungstat Christi? Er hat die Welt durch sein Lehren, sein Heilen, vor allem aber durch sein Kreuz erlöst. Das ist schon eine Art merkwürdigen Paradoxes, dass jemand durch das Kreuz, das Leiden, das Sterben die Welt erlöst. Man könnte meinen, das würde das Dunkel und das Weltleid noch vermehren. Aber eben das ist das Christentum; eben das: es ist die Religion des Kreuzes. Das ist das Christentum nicht, dass ein reicher Mann die Armen reich macht, sondern dass der Ärmste von allem alle reich macht, die Armen wie die Reichen. Das ist das Christentum nicht, dass der Frohe die Betrübten tröstet, sondern dass der Allerbetrübteste alle tröstet. Dieses Paradox geht durch sein ganzes Erlösungswerk und ist tief begründet. Christus ist imstande, das Kreuz der Erde zu tragen, weil er sein eigenes trägt. Er kann anderen nützen, weil er ohne sie fertig werden kann. Er ist ethisch wirksam, weil er geistig frei ist. Er vermag zu retten, weil er Kraft genug hat, zu leiden. Und das gilt für alle apostolisch gesinnten und apostolisch tätigen Menschen: Sie müssen gewillt und fähig sein, ihr eigenes Leid zu tragen, wenn sie das Leid anderer mittragen wollen.

Und was ist die Kraft, die alle gewöhnlichen Verhältnisse umgekehrt hat? Es ist das Zwiegespräch mit seinem Vater, das er vom ersten Augenblick an in der Tat und im Leben führte. „Siehe, Vater, den Leib, den du mir bereitet hast, den ich dir als Opfer bringen soll, siehe, ich komme!“ In der konsequenten Durchführung dieses Kommens hat er gelebt, gelitten, ist er gestorben, ist er seinem Bereitsein buchstäblich zum Opfer gefallen; gerade dadurch hat er sein Erlösungswerk vollbracht. Also in seinem Verhältnis zum Vater liegt die erlösende Kraft. Bevor er eine Lehre aussprach oder ein Wunder wirkte, war die Erlösungskraft bereits vorhanden und die Erlösertat schon geschehen. So bleibt es auch für alle seine Helfer. Es gibt keine Erlösungskraft außer in dem Zwiegespräch mit dem Vater, in dem Erfülltsein von Gott, in dem Opferwillen, in dem man sich ganz gibt. Nun muss sich das Verhältnis zum Vater, das in unserem Leben bestimmend sein soll, auch auswirken. Aus der Beziehung zum Vater heraus muss man auf die Menschen zu wirken versuchen. Wie macht man das? Wie kann man Menschen günstig und wirksam beeinflussen?

Der gute Wille, das Wohlwollen gegen die Menschen, die Nächstenliebe in ihrer elementarsten Gestalt ist eine unbedingte Vorbedingung, ohne die jedes Wirken umsonst ist. Wem nichts an den Menschen liegt, wem sie nicht achtbar und wertvoll sind, der soll es nur gleich bleiben lassen. Etwas am Menschen muss uns ansprechen, muss unser Wohlwollen, unsere Hilfsbereitschaft erwecken. Dass das Göttliche in ihnen liegt, dass Gott sie liebt, dass Gott sie beruft, das muss uns günstig für die Menschen stimmen. Und noch mehr! Um die Seelen für Gott zu gewinnen, muss man ihnen beweisen, dass Gott sie liebt. Um ihnen zu beweisen, dass Gott sie liebt, muss man selbst sie lieben.

Aber das ist nicht genug. Es bedarf auch einer natürlichen Begabung, und sie kann durch Studium, durch Erfahrung, durch Beobachtung gesteigert werden. Es ist unbedingt nötig, dass wir lernen, und zwar aus dem Leben, aus den täglichen Erfahrungen. Der Umgang mit den Menschen selbst ist das beste Mittel, mit ihnen umgehen zu lernen. Die Erfahrungen, die wir mit den Menschen machen, bilden allmählich die Fähigkeit heraus, auf sie zu wirken. Schließlich gehört auch ein gewisses Charisma dazu, das freilich nicht erlernbar ist. Es ist eine Gnade von Gott. Aber sie ist uns gegeben, weil wir dazu berufen sind. Sie ist in manchen Heiligen außerordentlich gewesen, in anderen Menschen geringer, aber etwas davon ist in jedem Menschen, etwas, was man nicht erzwingen, aber erbeten kann. Die Wirksamkeit, die wir auf andere auswirken wollen, ist auch von unserem Beten bedingt. Man muss für das Apostolat um Erleuchtung, Hilfe und Gnade bitten. Das Wichtige fällt uns nicht immer ein, wir finden nicht immer gleich das rechte Wort, es muss uns gegeben werden.

Betrachten wir das, was einigermaßen in unserer Macht steht, die natürliche Begabung, die durch Erfahrung und Studium gesteigert werden kann. Da sind drei Eigenschaften, die wir mitbringen müssen, wenn wir den Menschen etwas geben wollen: Feinfühligkeit, Vornehmheit, Verantwortlichkeit. Feinfühligkeit ist eine Gabe, die man haben muss. Sie ist einem guten Menschen, einem Menschen, der ehrlichen Willen und ein gewisses Gefühlsleben hat, gegeben. Jeder Mensch kann feinfühlig sein, wenn er es nur will und darauf achtet. Die Feinfühligkeit besteht zunächst darin, dass man mit dem Nächsten empfindet; dass man die Empfindungen, die der Mitmensch hat, nachempfindet; dass wir unsere Seele ebenso stimmen können, wie die seine ist. Also wenn ein Mensch seine Mutter durch den Tod verloren hat: dass er betrübt ist, dass er daran leidet, sich vereinsamt fühlt, sich verlassen vorkommt, das muss man empfinden können, wie einem da zumute ist. Die Stimmung, die in uns entsteht, muss ähnlich sein der Stimmung des anderen, so dass wir sagen können: „Ich weiß, wie ihm zumute ist.“ Wer einen anderen trösten will, ohne seinen Schmerz zu teilen, richtet ihn nicht auf. Das beste Mittel für dieses Verstehen ist, wenn man dasselbe selbst durchgemacht hat. Die Menschen, die dasselbe erlitten haben, wissen, wie einem in dieser Lage zumute ist. Darum gehört zur Menschenbehandlung die Vielseitigkeit der Erfahrung. Man müsste die ganze Weite des menschlichen Lebens kennen, in sich selbst irgendwie erlitten haben, was die Menschen drückt, was sie erfreut, was sie mutlos macht, was sie erhebt; all das müsste irgendwie schon einmal in uns geklungen haben. Ein Mensch, der es ein Leben lang gut gehabt und verwöhnt worden ist, ist nicht so geeignet, mit anderen Menschen Kontakt zu finden, wie einer, der viel hat entbehren, viel durchmachen, auf vieles hat verzichten müssen. Das Leid ist ein Lehrmeister des Apostolates.

Dann besteht die Feinfühligkeit darin, dass wir erraten, was im anderen vorgeht, dass wir auch das, was er nicht sagt, was er sogar verbergen möchte, herausspüren. Ein feinfühlender Mensch kann aus kleinsten Zeichen erschließen, was im Nächsten vorgeht, was er wünscht oder ersehnt, was er braucht oder gern hätte, auch das, was er nicht sagt. Die Menschen sagen häufig nicht das, was sie wirklich wünschen, gehen darum herum, schieben etwas anderes vor, aus Verlegenheit, aus Scham, aus Trotz. Man muss es erraten. Der hl. Paulus sagt, man solle mit den Weinenden trauern und sich freuen mit den Fröhlichen. Zuweilen aber muss man mit den Weinenden lachen und mit den Lachenden weinen. Man muss erraten, was die Menschen wünschen, ob sie reden möchten oder lieber schweigen. Manchmal ist einem Menschen am besten gedient, wenn man überhaupt nichts sagt, wenn man ihn an der Hand nimmt und seine Betrübnis mit ihm teilt. Als die drei Freunde Hiobs von dem Unglück hörten, das über ihn hereingebrochen war, kamen sie aus ihrer Heimat herbei, um ihm ihre Teilnahme zu bezeigen und ihn zu trösten. Als sie ihre Augen erhoben und ihn in seiner Zerschlagenheit nicht erkannten, begannen sie zu weinen, zerrissen ihre Kleider und warfen Staub auf ihr Haupt. Dann setzten sie sich zu ihm auf den Boden, sieben Tage und sieben Nächte lang, ohne ihm ein Wort zu sagen; denn sie sahen, dass sein Schmerz sehr groß war. Bei großem Schmerz kann es angebracht sein, nichts zu sagen. Zuweilen ist es nötig, dass man etwas sagt. Da muss man erraten, ob ein Mensch reden, ob er Gesellschaft haben möchte oder ob man ihn in Ruhe lassen soll. Er erwartet, dass man sich ihm nicht aufdrängt, aber ihn auch nicht im Stich lässt. Da muss die Feinfühligkeit das Rechte treffen.

Die Wurzeln dieser Feinfühligkeit sind natürliche Begabung, Studium, Beobachtung. Beobachtung der Kinder, um zu sehen, was an inneren Bewegungen hinter kleinsten Zeichen stehen könnte, wie sie in gewissen Situationen reagieren und wie sie handeln. Bei Kranken, Armen, Hilfesuchenden, bei Besuchen, die zu uns kommen, gilt es zu studieren und zu beobachten, wie sie sich benehmen. Wenn die Menschen zur Tür hereinkommen, muss man sehen, wie es in ihrer Seele aussieht. Die dankbarsten Objekte, um die Menschen zu studieren, sind die Unsympathischen, die wir nur mit einiger Überwindung ertragen, die einen Gegensatz zu uns bilden und uns unwillkürlich verletzen. Sie nicht wegschicken, sie nicht fliehen, eher die Gelegenheit suchen, ihnen etwas zu sagen, ihnen einen Liebesdienst erweisen und sehen, wie er wirkt. Eine Wirkung der Feinfühligkeit wird sein, dass man die Menschen besser versteht; dass man sieht, aus welchen Motiven sie handeln; dass man sie richtig beurteilt. Wer die Menschen mit feinfühligem Herzen beobachtet, sieht, dass vielleicht nicht viel Bosheit in den Menschen ist, aber viel Unwissenheit, Kurzsichtigkeit, Gedankenlosigkeit, Impulsivität, Überrumpelung. Der Abt von St. Bonifaz in München schrieb einmal: „Oft im Leben begegnete mir einer, der mir böse schien; als ich aber näher zusah, erkannte ich, dass er nur unglücklich war.“ Die Menschen wissen häufig nicht, was sie tun; sie wundern sich nachher selbst, was sie getan haben. Menschen, die sehr viel Bitterkeit erfahren haben, rächen sich manchmal unbewusst dadurch, dass sie andere wieder kränken und sie so an ihrem Leid teilnehmen lassen. Es ist, als ob sie unbewusst dächten: „Ich habe es schlecht, also sollen es andere auch nicht besser haben.“ Wer feinfühlig ist, sieht, dass die Menschen vielfach Masken tragen. Sie verstellen sich, ohne unwahrhaftig zu sein. Es ist vielleicht ein unbewusster Selbstschutz. Wenn man jedem unmittelbar ins Herz sehen könnte, wäre das soziale Leben wahrscheinlich unmöglich. Wir müssen lernen, hinter die Maske zu sehen. Nicht gleich auf die ersten Symptome reagieren, sondern damit rechnen, dass das Gegenteil dahintersteckt. Darum gilt es, den Betreffenden länger zu beobachten und abzuwarten.

Wir wollen dem Heiland helfen bei seinem Erlösungswerk. Wir wollen ihm beistehen mit den Tugenden und Haltungen, die dazu notwendig sind. So ist uns die Feinfühligkeit aufgetragen, wir sollen sie lernen. Sie ist gleichsam eine Tochter der Liebe, in jedem Falle eine Mutter des Apostolates. Feinfühlige Menschen empfinden für ihren Nächsten wie für sich selbst mit gleicher Leichtigkeit und Zartheit. Lernen wir, feinfühlig mit unseren Menschen umzugehen, und wir werden apostolische Männer und Frauen werden.

Amen.

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