Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. September 2022

Halte, was du hast!

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Apokalyptiker Johannes richtete aus seiner Verbannung auf der Insel Patmos Sendschreiben an sieben Gemeinden in Kleinasien. Dem Vorsteher der Gemeinde Philadelphia schrieb er das bedeutsame Wort: „Halte, was du hast, damit niemand deine Krone nehme.“ In diesem Wort aus der Geheimen Offenbarung des Apostels Johannes ist vom Haben und vom Halten die Rede. Das Haben besagt den Besitz, das Halten bedeutet das Bewahren des Besitzes. Wir wollen heute fragen: Was besitzen wir? und Wie bewahren wir es? Als religiöse Menschen, als überzeugte katholische Christen?

1. Wir gläubigen Christen sind von Gott mit der Wahrheit der Offenbarung beschenkt. Sie belehrt uns über Gott, die Welt und den Menschen. Wir wissen, woher wir stammen und wohin wir gehen. Wir wissen, wofür wir leben. Wir wissen, woran wir uns halten können. Wir kennen die Weisungen, nach denen wir handeln sollen. Die drei Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? sind uns durch Gottes Offenbarung beantwortet. Es ist ein unbeschreibliches Glück, von Gottes Weisheit geleitet durch das Leben zu gehen. Wir sind unabhängig von menschlichen Versuchen, Sinn und Zweck unserer Existenz zu erhellen. Wer im Worte Gottes steht, ist frei von der Bindung an Menschenmeinungen. Diese Wahrheit gilt es festzuhalten. Halte, was du hast, mahnt der Apokalyptiker Johannes. Der Apostel Paulus stimmt ihm zu: „Ich mache euch, Brüder, aufmerksam auf die Heilsbotschaft, die ich euch verkündet habe. Ihr habt sie angenommen, ihr steht in ihr fest. Durch sie werdet ihr gerettet, wenn ihr sie genau so festhaltet, wie ich sie euch verkündet habe“ (1 Kor 15,1-2). Darauf also kommt es an: Die Heilsbotschaft, die wahr ist, unverändert bewahren. Von dem Bewahren hängt das Heil ab. Dabei sind die Christen nicht nur auf ihre Kraft angewiesen. Gott stärkt jene, die er aus der Finsternis in sein wunderbares Licht geführt hat, mit seiner Gnade, dass sie in diesem Licht auszuharren vermögen; er verlässt sie nicht, wenn er nicht verlassen wird (1. V.K.). Wir bleiben in der Wahrheit, wenn wir in dieser Kirche ausharren. Die Kirche ist die Treuhänderin und die Bewahrerin der Wahrheit. Wir sind Glieder der katholischen Kirche und bleiben es, weil diese Kirche die Trägerin der Wahrheit Gottes ist. Die Wahrheit Gottes, die uns Christus gebracht hat, ist voller Geheimnisse. Sie muss es sein, da sie von Gott stammt, der alles menschliche Wissen und Begreifen unendlich überragt. Der unvergessliche Münchener Kardinal Faulhaber hat das treffliche Wort gesprochen: „Ich würde eher an einer Glaubenslehre irre werden, in der alles klar wie Wasser und durchsichtig wäre bis auf den Grund; denn damit wäre bewiesen, dass eine solche Lehre Menschengedanken enthielte, kein Gottesgedanken.“ Wir halten an der Wahrheit des Glaubens fest, wenn wir nach ihr leben und für sie Zeugnis geben, wenn wir uns bemühen, sie immer besser zu verstehen, in sie einzudringen. Der Apostel Paulus mahnte seinen Schüler Timotheus: „Hab acht auf dich selbst und auf die Lehre. Darin verharre. Wenn du dies tust, wirst du dich selbst und deine Hörer retten“ (1 Tim 4,16). Der Priester Fritz Keller, der durch das KZ Dachau und die Strafanstalt Aachen gehen musste, schrieb als seine letzten Worte an seine Gemeinde: „Stehet fest im Glauben und haltet die Liebe im Herzen. Dann werden wir Wiedersehen feiern in Gottes Herrlichkeit“ (Moll I, 18). Pfarrer Keller und alle unsere Verstorbenen wissen, dass unser Glaube wahr ist. Sie rufen uns zu: Halte, was du hast!

2. Was haben wir, das wir festhalten müssen? Wir haben die Gnade. Die heiligmachende Gnade ist eine geschaffene, übernatürliche Wirklichkeit, die der Seele von Gott eingegossen wird und in der Weise einer Seinsbeschaffenheit oder Qualität ihr bleibend anhaftet. Die Mitteilung der heiligmachenden Gnade ist Teilnahme an der göttlichen Natur, eine wahre und physische, wenn auch akzidentelle und analoge Mitteilung der göttlichen Natur an den Menschen. Weitere Formalwirkungen der heiligmachenden Gnade sind die Gotteskindschaft, die Adoptivkindschaft Gottes, die Freundschaft Gottes, die Einwohnung des Hl. Geistes, die Erbschaft des Himmels. Die übernatürliche Gefolgschaft der heiligmachenden Gnade bilden die drei eingegossenen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe sowie die sieben Gaben des Hl. Geistes. Was mit dem natürlichen Menschen durch die göttliche Begnadung geschieht, ist eine übernatürliche Wiedergeburt, eine Neuschöpfung, eine Erneuerung, eine Geburt aus Gott. Der Wiedergeborene wird von aller Sünde gereinigt, gerechtfertigt und geheiligt, Kind des himmlischen Vaters, lebendiges Glied am Leibe Christi, besiegelt mit dem Hl. Geiste, Erbe des Himmels. Die Gnade ist uns lebensnotwendig. Nichts Gutes, das zur Frömmigkeit und wahren Gerechtigkeit gehört, kann ohne die Gnade zustande gebracht werden (Aug.). Uns rettet nur eines: die Gnade unseres Erlösers Christus, unseres Herrn und Gottes (Aug.). Der hl. Augustinus fragt: „Ihr Armen, hört meine Frage: Was habt ihr nicht, wenn ihr Gott habt? Ihr Reichen, hört meine Frage: Was habt ihr, wenn ihr Gott nicht habt?“ (Aug.).

Gottes Sache ist es, die Gnade zu verleihen. Unsere Sache ist es, sie zu bewahren. Die Gnade wird am sichersten bewahrt durch ein Leben aus dem Glauben, durch das Sichführenlassen durch den Hl. Geist, durch das Beobachten der Gebote. Sind wir Kinder Gottes, so lasst uns auch nur tun, was Gottes und Christi würdig ist (Cyprian). Im Gnadenleben spielt das Gebet eine ganz bedeutende Rolle, zumal um die Gnade der Beharrlichkeit zu erlangen. Ein jeder, der betet, wird gewiss selig werden. Ein jeder, der nicht betet, geht sicher verloren. Es gibt Gnadenmittel, d.h. Einrichtungen, welche die aktuelle oder heiligmachende Gnade vermitteln können. Dazu zählen in erster Linie die sieben Sakramente. Sie begründen oder vermehren im sittlich vorbereiteten Empfänger die heiligmachende Gnade (ex opere operato), d.h. durch ihren rechtmäßigen und einwandfreien Vollzug, und verleihen ein Anrecht auf aktuelle Gnaden. Neben den Sakramenten existieren Sakramentalien. Die Sakramentalien sind Sachen oder Handlungen, deren sich die Kirche in einer gewissen Nachahmung der Sakramente bedient, um auf Grund ihres Gebetes Wirkungen vor allem geistiger Art zu erlangen. Auch Sakramentalien können Gnade vermitteln. Z.B. das Sichbekreuzen mit Weihwasser. Das Gnadenwirken der Sakramentalien hängt primär von der sittlichen Würdigkeit des Empfängers, sekundär von dem Segen der fürbittenden Kirche ab. Die Kirche lehrt uns bitten um das Verbleiben im Stand der heiligmachenden Gnade. Wir beten in jeder heiligen Messe unmittelbar vor der heiligen Kommunion zu Jesus: „Lass nicht zu, dass ich mich jemals von dir trenne.“ In jedem Falle gilt von der Gnade und vom Gnadenstand: Halte, was du hast!

3. Halte, was du hast! Wir Christen haben das Gebet. Wir haben es frühzeitig gelernt. In der Familie. Im Gottesdienst. Das Gebet ist die allgemeinste Äußerung der Religion. Es erwächst aus dem natürlichen Gottesglauben und aus dem Bewusstsein menschlicher Abhängigkeit und Verschuldung. Beten ist die Erhebung des Geistes und des Herzens in der Absicht, Gott zu ehren, ihm die schuldige Huldigung und Unterwerfung zu leisten. Das Sprechen des Geistes zu Gott ist eine Handlung der Vernunft; der Antrieb zu ihr stammt aus dem Willen. Das Gebet ist notwendiger Ausdruck der personalen Beziehung des Menschen zu Gott. Der Mensch kann, soll und muss Gott betend anerkennen, ihm Dank, Lob und Bitte darbringen. Beten ist Pflicht. Gott hat es geboten, weil er die Mitteilung seiner Gnade an das Gebet angeknüpft hat. Die nächste Frucht des Gebetes ist die Sammlung, Stärkung und Erquickung der Seele aus dem Verkehr mit Gott. Das Gebet stärkt und nährt die innere Hingabe, in welcher der Mensch sich Gott geweiht hat. Das Gebet bewirkt sodann die Vermehrung der Gnade und der ewigen Seligkeit. Es hat auch eine sühnende Kraft. Das Bittgebet ist das Flehen um eine Wohltat. Dem Bittgebet ist die Erlangung des erflehten Gutes eigen nach Gottes Barmherzigkeit und gnädiger Verheißung und nach menschlicher Würdigkeit und Disposition. Beten soll und darf jeder Mensch. Auch und gerade der Sünder bedarf des Gebetes. Es ist für ihn weder sündhaft noch nutzlos.

Für das Beten gilt: Halte, was du hast! Die Pflicht zum Gebet, die Übung des Gebetes muss von uns festgehalten werden. Hier gilt in besonderer Weise die Mahnung: Halte, was du hast! Bewahre die Gewohnheit, täglich zu beten! Denkst du noch daran? An die Mahnung deines Vaters, den Tag nicht zu beginnen und nicht zu schließen ohne Gebet? Hast du ihn noch? Den Rosenkranz, den dir deine Mutter gab? Erinnerst du dich noch? An den Vorsatz deiner Kindheit, keinen Sonntag ohne Messe zu verbringen? Nur durch Gebet kann die Seele die Macht des bösen Feindes überwinden. Wer dem Gebet aus dem Weg geht, geht geradewegs in die Versuchung. Es trennt sich von Gott, wer sich nicht durch das Gebet mit Gott verbunden hält. Vernachlässigung des Gebetes ist immer der erste Schritt zum Unglauben. Theresia: Meiner Ansicht nach ist es ein und dasselbe: das Gebet aufgeben und den Weg zu Gott verlassen. Jeder Mensch, der hienieden nicht mehr gebetet hat, wird vor dem Throne Gottes ohne Entschuldigung sein.

4. Halte, was du hast! Das gilt auch für die Praxis und die Routine im Guten, die wir erworben haben, die Tugenden. Tugend ist eine durch Wiederholung oder Übung gewonnene Fertigkeit des Willens zum Guten. Tugend ist die innere Tendenz zum sittlich guten Handeln. Der Tugend ist die Veredlung der Seelenkräfte und ihre Hinlenkung auf das Sittlich-Gute wesentlich. Die einzelne gute Handlung reicht nicht aus, das Leben in fester Richtung auf das sittliche Endziel zu erhalten. Sie reicht auch nicht aus, die sittlichen Kräfte der Seele und die Seele selbst bis in den Grund gut und gottgefällig zu machen. Eine solche bleibende, tieferdringende sittliche Formung des Menschen bewirkt die Tugend. Tugenden müssen bewahrt werden. Mancher hat sich durch Anstrengung und Übung einen gewissen Standard von Tugenden erarbeitet. Er hat die ungezügelte Esslust überwunden. Er ist Herr über die Selbstbefriedigung geworden. Er hat gelernt, die Zunge im Zaume zu halten. Alle diese Errungenschaften sind gefährdet. Durch Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit können sie verloren gehen. Tugenden werden bewahrt durch stetes Erneuern des Willens zum Guten. Täglich sollen wir den Vorsatz bekräftigen: O Gott, ich will dir dienen in Lauterkeit! Wir halten die Tugenden nur fest, wenn wir sie unermüdlich von neuem zu erwerben suchen. Um gut zu bleiben, muss man immer besser werden wollen.

Seit über 60 Jahren ist in unserer Kirche die Parole laut und immer lauter geworden: Lass fahren, was überkommen ist! Seit über 60 Jahren macht unsere Kirche das Experiment ständiger Veränderung. Es ist ihr schlecht bekommen. Religionsgemeinschaften wie die Orthodoxen und die Muslime denken nicht daran, etwas von ihrem überkommenen Gut aufzugeben. So sind ihnen die Erschütterungen erspart geblieben, die unsere Kirche an den Rand der Selbstzerstörung getrieben haben. Die meisten Hirten der Kirche haben die Mahnungen der Apostel vergessen: Halte, was du hast! Das heißt nicht, an dem hängen, was gestern war, sondern aus dem leben, was immer bleibt. Halte, was du hast! Das heißt nicht, Asche verwahren, sondern das Feuer am Brennen erhalten. Wir können den Schatz Gottes nur bewahren durch immer erneute eigene Bekehrung. Ihre Mahnung lautet: Den Glauben festhalten! Die Gnade festhalten! Das Gebet festhalten! Die Tugenden festhalten! Halte, was du hast! Wirf es nicht weg! Lass es nicht fallen!

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt