Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
31. Juli 2022

Die heiligmachende Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben am vergangenen Sonntag Überlegungen über die Gnade angestellt. Unsere Erwägungen bezogen sich auf jene Form der Gnade, die wir die helfende Gnade oder die Gnade des Beistandes nennen. Wir wollen uns heute jener Form der Gnade zuwenden, die wir als die heiligmachende Gnade bezeichnen. Die heiligmachende Gnade ist eine geschaffene, übernatürliche Wirklichkeit, die der Seele von Gott eingegossen wird und als Seinsbeschaffenheit oder Qualität bleibend anhaftet. Der Mensch besitzt die Aufnahmefähigkeit für die heiligmachende Gnade (potentia oboedientialis). Deshalb kann sie auch Unmündigen eingegossen werden; das geschieht in der Kindertaufe. Für die Erwachsenen ist sie jedoch nur durch den Prozess der Rechtfertigung, der von der Gnade des Beistandes getragen wird, erreichbar (D 797). Anfang, Grund und Wurzel der Rechtfertigung ist der theologische Bekenntnisglaube, nicht der Fiduzialglaube Luthers (D 801, 822). Dazu müssen treten Hoffnung, Furcht, Reue, Liebe, Absicht des Empfangs der Sakramente (D 798). Diese Vorbereitung ist ein harmonisches Zusammenspiel von Gnade und freiem Willen; der tragende Faktor des freien Willens ist die Gnade des Beistandes (D 797). Die Rechtfertigungsgnade selbst wird durch die Spendung der Taufe eingegossen. Damit kehrt der Heilige Geist in uns ein, sind wir Träger der heiligmachenden Gnade.

Wenn der Heilige Geist in uns einkehrt, wirkt er durch seine Gnade folgendes. 1. Er reinigt uns von allen schweren Sünden. Heiligmachende Gnade und Todsünde sind miteinander unvereinbar. Wer also von schweren Sünden frei ist, in dem wohnt der Heilige Geist. Die nächste formale Wirkung der heiligmachenden Gnade ist die bleibende übernatürliche Heiligkeit, Gerechtigkeit und Schönheit der Seele. Die heiligmachende Gnade umfasst volle, wahre Sündentilgung und innere Heiligung (daher auch Rechtfertigungsgnade genannt); ihr Erwerb schließt den Sündenzustand (nach Art konträrer Gegensätze) kategorisch aus (D 799, 820f.). Darum wird die heiligmachende Gnade, die Gerechtigkeit Gottes, durch die er uns gerecht macht, als die einzige Formalursache der Rechtfertigung bezeichnet. Die Heilige Schrift beschreibt die Eingießung der heiligmachenden Gnade als Wiedergeburt (Joh 3,5; Tit 3,4-7) sowie als Ausziehen des alten und Anziehen des neuen Menschen (Eph 4,22).

2. Der Heilige Geist vereinigt uns mit Gott. Durch den Heiligen Geist werden wir der göttlichen Natur teilhaftig (2 Petr 1,4), und zwar nicht bloß dem Namen nach, sondern in Wirklichkeit. Durch den Heiligen Geist werden wir gleichsam vergöttlicht. Das sage nicht ich, das sagt der hl. Thomas von Aquin. Unsere Seele wird Gott ähnlich, heilig und himmlisch. Diese unsere Teilhabe an der göttlichen Natur („Vergöttlichung des Menschen“) ist keine pantheistische Verschmelzung mit Gott. Sie ist eine wahre und physische, wenn auch akzidentelle und analoge Mitteilung der göttlichen Natur an uns. Unsere Seele trägt dadurch ein wahres Ebenbild Gottes in sich. Die Seele erlangt durch den ihr innewohnenden Geist eine neue, bleibende Beschaffenheit, ein gewisses Licht und einen Glanz. Die heiligmachende Gnade ist also nicht etwa bloß eine Gunst Gottes, sondern Gott gibt uns seinen Geist; sie ist die Einwohnung Gottes in uns. Der Heilige Geist macht uns durch sein Kommen zu einem Tempel Gottes. Der Heilige Geist wohnt zwar zunächst in der Seele des Menschen. Da aber die Seele im Körper ist, so ist auch unser Körper eine Wohnung des Heiligen Geistes. Paulus erinnert die Gemeinde in Korinth an die grundlegende Wahrheit. „Wisset ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1 Kor 3,16).

3. Mit dem Heiligen Geist zieht die übernatürliche Gefolgschaft in unsere Seele ein. Die übernatürliche Gefolgschaft der heiligmachenden Gnade bilden die drei eingegossenen göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe (D 800) sowie die eingegossenen sittlichen Tugenden und die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist verklärt unsere Geisteskräfte und verleiht uns die göttlichen und sittlichen Tugenden als Fähigkeiten. Er gibt uns die Fähigkeit, an Gott zu glauben, auf ihn zu hoffen und ihn zu lieben. D.h.: Er gießt uns die drei göttlichen Tugenden ein. Auch macht er uns fähig und geneigt, der Eingebung und dem Antrieb des Heiligen Geistes Folge zu leisten. Das Herz des Menschen wird durch den Heiligen Geist zum Guten geneigt. Die Gaben des Heiligen Geistes verleihen den Seelenvermögen eine besondere Leichtigkeit, unmittelbare Antriebe des Heiligen Geistes willig aufzunehmen, und befähigen zu heldenmütigen Handlungen.

4. Auf diese Weise wird unser Seelenleben ein anderes. Wenn der Heilige Geist in uns einkehrt, teilt er uns das wahre Leben der Seele mit. Unsere Seele hat zwar ein Leben; sie belebt den Körper, und vermöge ihrer Vernunft und ihres freien Willens vermag sie das Wahre, Schöne und Gute zu erkennen. Dieses sogenannte natürliche Leben ist aber, mit dem Leben Gottes verglichen, ein totes Leben. Das Leben Gottes erlangt die Seele, wenn der Heilige Geist mit seiner Gnade in sie einkehrt. Sie wird befähigt, Gott selbst in seiner Herrlichkeit zu erkennen, zu lieben und zu genießen. Dieses göttliche Leben heißt auch das übernatürliche. Der Heilige Geist gibt uns seine Erkenntnis, er teilt uns seine Kraft mit. Auf diese Weise wird unsere Seele zu einem neuen Leben wiedergeboren. Die Seele lebt in Gott und Gott lebt in ihr. Der Heilige Geist verleiht uns die wahre Zufriedenheit. Der begnadete Geistträger erlangt einen Frieden, der anderweitig nicht zu finden ist. Der Weltmensch hat Weltliebe. Der im Heiligen Geist lebende Mensch hat Gottesliebe. Ein solcher Mensch erfreut sich eines inneren Friedens und des Trostes trotz aller Leiden.

5. Der Heilige Geist wird unser Lehrmeister und Erzieher. Er gibt uns Einsicht und Verständnis für die Lehren der katholischen Kirche. Er verschafft Erkenntnis für Sinn und Bedeutung der Offenbarung. Der Heilige Geist leitet uns auf eine ganz besondere Weise.

6. Er treibt uns an zu guten Werken und macht diese für den Himmel verdienstlich. Er wirkt auf die Seele ein, dass sie Früchte hervorbringt. Er macht unsere Handlungen zu heiligen. Ohne die heiligmachende Gnade haben unsere guten Werke kein Verdienst für den Himmel. Mit ihr bringt der Mensch nicht mehr bloß natürliche, sondern übernatürliche Werke hervor. Dadurch wird in die Seele der Keim des ewigen Lebens gelegt. Die Gnade ist eine Wasserquelle, die ins ewige Leben hinübersprudelt; sie hat für die ganze Ewigkeit belebende Kraft (Joh 4,24). Auch in den Körper legt die Gnade den Keim des ewigen Lebens. „Denn wenn der Geist Gottes, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird der, welcher Jesus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber mit Leben erfüllen wegen seines in euch wohnenden Geistes“ (Röm 8,11).

7. Der Heilige Geist macht uns zu Kindern Gottes und zu Erben des Himmels. Gott nimmt uns zu seinen geliebten Kindern auf. Unter die Kinder Gottes gerechnet zu werden, ist der höchste Gipfel des Adels. Alle, die vom Geiste Gottes getrieben werden, sind Kinder Gottes (Röm 8,14). Wenn wir aber Kinder Gottes sind, so sind wir auch Erben, nämlich Erben Gottes und Miterben Christi (Röm 8,17). Denn Kinder haben Anspruch auf das Besitztum des Vaters. Wir wissen, dass, wenn dieses unser irdisches Wohnhaus aufgelöst werden wird, wir eine Heimstatt von Gott bekommen, ein Haus nicht von Händen gemacht, ein ewiges im Himmel (2 Kor 5,1).

Eigenschaften der heiligmachenden Gnade sind ihre Ungewissheit, Ungleichheit und Verlierbarkeit. Ihre Ungewissheit (D 802, 805) beruht darauf, dass wir die Glaubensgewissheit von der Rechtfertigungslehre nicht auf unsere persönlichen Leistungen ausdehnen können. Ohne besondere göttliche Offenbarung besitzt niemand eine Heilsgewissheit (1 Kor 4,4). Die katholische Lehre ist klar. Das Heil der Gläubigen ist sicher, die Sünden werden ihnen vergeben, die Rechtfertigung wird ihnen zuteil. Aber diese Gewissheit betrifft die objektiven Bedingungen unseres Heils, nicht die subjektiven. Über die ersteren herrscht natürlich volle Glaubensgewissheit, über letztere aber nicht. „Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber dadurch bin ich nicht gerechtfertigt; vielmehr wer mich richtet, ist der Herr“ (1 Kor 4,4). Das Trienter Konzil verwirft also nur die Glaubensgewissheit. Die Heilszuversicht der Konzilsväter war dagegen eine durchaus freudige und lichtvolle. Der Christ darf (und soll) eine gutbegründete moralische Gewissheit seines Heiles haben. Sie gründet auf den Früchten des Geistes (Röm 8,16; 1 Joh 3,14). Aus den religiös und sittlich guten Werken, die jemand verrichtet, kann man schließen, dass er die heiligmachende Gnade besitze. Denn ein schlechter Baum kann nicht gute Früchte bringen (Mt 7,18).

Die Ungleichheit der heiligmachenden Gnade beruht auf der freien Schenkungsliebe Gottes und dem verschiedenen Grad der Disposition. Dazu kommt ihr Wachsen, d.h. die intensive Steigerung durch den Empfang der Sakramente und durch gute Werke (D 800, 803). Christus setzt die Verschiedenheit des Gnadenmaßes voraus in der Parabel von den Talenten (Mt 25,14-30) und in der Ermahnung, auch persönlich nach der Vollkommenheit Gottes zu ringen (Mt 5,48; Lk 6,30). Er sagt vom himmlischen Vater aus, er werde jede Rebe reinigen, „damit sie noch mehr Frucht bringe“ (Joh 15,2). Petrus mahnt: „Wachset in der Gnade“ (2 Petr 3,18).

Die heiligmachende Gnade ist das Kostbarste, was wir besitzen können. Daher muss es unsere größte Sorge sein, sie nicht zu verlieren. Die heiligmachende Gnade hat im Menschen bei normalem Verlauf ununterbrochene Dauer. Doch auch der Gerechtfertigte kann noch sündigen (D 829, 837). Die heiligmachende Gnade geht durch jede schwere Sünde verloren (1 Kor 6,9ff.; Eph 5,3ff.; u.ä.). Zugleich mit ihr schwinden die theologische Liebe, die eingegossenen Tugenden und die sieben Gaben des Geistes. Vor diesem Verlust möge Gott uns bewahren. Wir tragen den Schatz der Gnade in irdenen Gefäßen; solche sind sehr zerbrechlich (2 Kor 4,7). Daher mahnt der hl. Paulus: „Wirket euer Heil mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12). Eine amerikanische Zeitung schrieb einen Wettbewerb aus zur Beantwortung der Frage: Was ist das Geld? Zahlreiche Antworten gingen ein. Den ersten Preis erhielt nachstehende Antwort: „Das Geld ist ein Zaubermittel, durch das wir uns alles in der Welt verschaffen können, das Glück ausgenommen, und wodurch wir alle Türen öffnen können, außer der Himmelstür.“ Der Preisträger hat den Wert und das Wesen des Geldes richtig eingeschätzt. Das Geld ist ein Zaubermittel, eine Großmacht. Aber es gibt noch ein anderes Zaubermittel, eine andere Großmacht, die sogar die Macht des Geldes in den Schatten stellt. Diese Großmacht heißt Gnade. Die Gnade kann uns nämlich sogar das Glück, das zeitliche und das ewige Glück verschaffen, und sie eröffnet uns die Himmelstür. Himmlischer Vater, lass mich nicht vergessen, dass ich dein Kind bin, göttlichen Geistes voll, dein Ebenbild. Gib, dass ich so lebe, dass, wer mich sieht, dich erkennt, meinen Vater.

Amen.

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