Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. August 2020

Selig die Augen, die sehen, was ihr seht!

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Selig die Augen, die sehen, was ihr seht! Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört.“ Mit diesen Worten des Evangeliums der heutigen heiligen Messe will Jesus den Zuhörern den entscheidungsvollen Charakter der Gegenwart einschärfen. Er spricht hier von zwei Gruppen von Menschen: jene, die vor seinem Erscheinen und Auftreten lebten, und diese, die Zeugen seines Wirkens und seiner Lehre sind. Die einen lebten in der Erwartung und in der Sehnsucht, die anderen leben in der Erfüllung und im Besitz. Deswegen sind sie seligzupreisen.

Die Menschen der Zeiten vor Christus lebten in der Erwartung eines Erlösers. Sie erhofften sein Kommen, aber sie erlebten es nicht. Der Brief an die Hebräer weist auf die Glaubenszeugen der vergangenen Zeit von Abel bis Abraham hin. „Im Glauben sind diese alle gestorben, ohne dass sie die Verheißungen erlangten, aber sie schauten sie von ferne und grüßten sie und bekannten, dass die Fremdlinge und Beisassen auf der Erde seien“ (Hebr 11,13). Jesus deutete auf den Patriarchen Abraham hin, der in der Hoffnung Freude empfand: „Euer Vater Abraham jubelte, dass er meinen Tag sehen sollte, er sah ihn und freute sich“ (Joh 8,56). Jesus erinnert in der Seligpreisung des heutigen Evangeliums an die Propheten, die sehnsüchtig nach dem Heilsbringer Ausschau hielten. Sie haben die Erwartung wach gehalten, aber seine Ankunft nicht erlebt. Auch Petrus spricht von den Propheten. Sie haben über das Heil gesucht und geforscht, sie haben über die Gnade, die den Adressaten seines Briefes zuteil geworden ist, geweissagt. Sie forschten, auf welche und was für eine Zeit der in ihnen waltende Geist Christi hinweise; sie haben auch die Leiden und die darauffolgende Herrlichkeit Christi vorausgesagt. „Es wurde ihnen geoffenbart, dass sie nicht sich selbst, sondern euch mit diesen Dingen dienen sollten, die euch jetzt verkündet worden sind durch die vom Heiligen Geist ermächtigten Boten“ (1 Petr 1,10-12). Wer waren die Propheten, von denen Jesus und Petrus sprechen? Ich nenne drei. Der Prophet Isaias war in hervorragendem Maße Verkünder des Messias. Der Emmanuel, der Spross aus der Wurzel Jesse, wird auf dem Sion ein Friedensreich aufrichten, so lehrt er. In glühenden Farben zeichnet der Prophet Michaeas ein Bild des messianischen Reiches, des Gottesreiches in Wahrheit und in Frieden, sowie den Friedenskönig. Der Prophet Daniel erschloss seinem Volk und der Nachwelt in gewaltigen Weissagungen die messianische Zeit im Bild vom Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels kommt.

Jesus erinnert auch an die Könige. Die neben den Propheten genannten Könige sind Gestalten wie David, Josias und Ezechias. König David erhielt die messianische Weissagung (2 Sam 7) von dem Königsthron, der für alle Zeiten Bestand haben soll. Der Messias sollte ein Nachkomme Davids sein. König Josias zentralisierte den Gottesdienst der Israeliten im Tempel zu Jerusalem (wie es das Buch Deuteronomium verlangte) und bereitete insofern die Einheit und Einzigartigkeit der Gottesverehrung vor, die der Messias lehren würde. König Ezechias war ein König von vorbildlicher Frömmigkeit. Dies war die Haltung, die Gott von denen forderte, die seinen Messias erwarteten. Von allen Propheten und Königen gilt die Aussage, die Balaam (Bileam) über den künftigen Retter machte: „Ich sehe ihn, doch nicht jetzt. Ich schaue ihn, doch nicht nah. Ein Stern geht aus Jakob auf, ein Zepter reckt sich aus Israel. Moabs Schläfen wird er zerschmettern, Seths Söhne vernichten allesamt. Edom wird ihm zu eigen sein, Seїr, sein Feind, ihm Besitztum. Und Israel wird wachsen an Macht. Kommen wird von Jakob der Herrscher, vertilgen aus den Städten den Rest.“

Endlich, nach vielen Jahrhunderten sehnsüchtiger Erwartung, gingen die Weissagungen über den Messias in Erfüllung. Gott ist der Gott der Treue. Er steht zu dem, was er verheißen hat. Die Erfüllung übertraf die Erwartung bei weitem. Das Heil kam nicht durch einen irdischen Herrscher, sondern durch den wahren Sohn Gottes. Paulus schreibt an die galatischen Christen: „Als die Fülle der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geboren aus einer Frau, untergeordnet unter das Gesetz, damit er die unter dem Gesetz loskaufte und wir die Annahme zu Söhnen empfingen“ (Gal 4,4-5). Der galiläische Zimmermann Jesus von Nazareth war von dem klaren Bewusstsein erfüllt, der erwartete, gottgesandte Messias zu sein. Nach dem siegreichen Bestehen der Versuchungen in der Wüste kehrte Jesus nach Galiläa zurück und kam nach Nazareth. Nach seiner Gewohnheit ging er am Sabbat in die Synagoge und erhob sich, um vorzulesen. Man reichte ihn die Buchrolle des Propheten Isaias. Er öffnete sie und fand die Stelle: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat. Den Armen die Frohbotschaft zu bringen, hat er mich gesandt, den Gefangenen Befreiung, den Blinden das Augenlicht zu verkünden.“ Dann rollte er die Buchrolle zusammen und sprach: „Heute ist diese Schriftstelle vor euren Ohren in Erfüllung gegangen“ (Lk 4). Der vom Propheten Isaias Verkündigte steht vor ihnen. Jesus lässt keinen Zweifel an seiner heilsgeschichtlichen Stellung. Sie überragt die gottgesandten Träger der Erwartung. „Die Königin des Südens wird beim Gericht mit den Männern dieses Geschlechtes auftreten und sie verurteilen; denn sie kam von den Enden der Erde, um die Weisheit Salomons zu hören. Seht: mehr als Salomon ist hier. Die Männer von Ninive werden beim Gericht mit diesem Geschlecht auftreten und es verurteilen; denn sie haben sich auf die Predigt des Jonas hin bekehrt. Seht: mehr als Jonas ist hier“ (Lk 11,31-32). Der Messias Jesus von Nazareth überbietet den weisen König Salomon und den Gottesboten Jonas. Er bringt das Heil, das sie erwartet und angekündigt haben.

Jesus wies sich als der gottgesandte Heilsbringer aus durch unerhörte Wunder und Machttaten. Johannes der Täufer war im Gefängnis, als er von dem Auftreten Jesu hörte. Er sandte zwei seiner Jünger und ließ ihn fragen: „Bist du es, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Da antwortete ihnen Jesus: „Geht und meldet dem Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird die frohe Botschaft verkündet. Und selig ist, wer an mir kein Ärgernis nimmt“ (Mt 11,2-6). Das alles, was Jesus hier aufzählt, sind Taten der Heilszeit. Wer sie zu vollbringen vermag, ist der gottgesandte Messias. Die Massen, die Zeugen der gewaltigen Taten Jesu waren, spürten die Einmaligkeit des Nazareners. Als er dem Seesturm gebot, sprachen sie: „Was ist denn das für einer, dass ihm selbst die Winde und der See gehorchen?“ (Mt 8,27). Zu den Wundern und Machttaten traten seine Predigten und seine Lehre. Und was für Predigten und was für eine Lehre! Die Scharen, die ihn hörten, waren außer sich über seine Lehre. Denn er lehrte sie wie einer, der Macht hat (und nicht wie ihre Schriftgelehrten) (Mt 7,28f.) In der jüdischen Erwartung wird vom Erleben der Heilszeit immer nur mit Worten des Sehens gesprochen. Jesus redet nicht nur vom Sehen, sondern auch vom Hören. Dies hat seinen Grund in der Bedeutung, die das Hören als Annehmen der Heilsbotschaft in seiner Verkündigung hat (Mt 11,4; Lk 7,22; Mk 4,20). Von solchen Menschen sagt Jesus: „Wer mich hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht“ (Joh 5,24). „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37).

Selig die Augen, die sehen, was ihr seht! Wessen Augen sind das? Es sind die Augen der Jünger. Die Jünger sind seligzupreisen, weil sie erleben dürfen, wonach die großen Gottesmänner des Alten Bundes vergebens verlangt haben, die messianische Zeit, den Anbruch der Gottesherrschaft (Eph 3,5; Kol 1,26; Röm 16,15; Hebr 11,13; 1 Petr 1,10ff.; Joh 8,56). Sie erkannten die Einmaligkeit der Gestalt und des Auftretens Jesu von Nazareth. Ihnen gilt die Aussage: „Selig die Augen, die sehen, was ihr seht!“ Den Jüngern, die Jesus um sich sammelte, sind alle jene beizustellen, die sich ihrem Glauben anschließen. Auch von ihnen gilt das Wort Jesu: Selig die Augen, die sehen, was ihr seht! Sie sind diejenigen, von denen Johannes sagt, dass sie den menschgewordenen Logos aufnahmen, dass sie an seinen Namen glauben und dass sie aus Gott geboren sind.

Die Seligpreisung gilt den Jüngern und ihnen allein. Denn nur von ihnen kann man sagen, dass sie sehende Augen und hörende Ohren haben. Die Jünger haben die Zeichen der Zeit verstanden. Dagegen vermag die Mehrzahl der übrigen Juden die Zeichen der Zeit nicht zu deuten. Jesus sprach zu den Volksmassen: „Wenn ihr Gewölk im Osten aufsteigen seht, dann sagt ihr sofort: Es gibt Regen, und es kommt so. Und wenn ihr den Südwind wehen seht, dann sagt ihr: Es gibt Hitze, und es geschieht. Ihr Heuchler! Das Angesicht der Erde und des Himmels versteht ihr zu beurteilen. Warum versteht ihr nicht, die gegenwärtige Zeit (richtig) zu beurteilen?“ (Lk 12,54-56). Ebenso eindeutig und klar wie die Vorzeichen des Wetters, die alle verstehen, sind die Zeichen der Zeit für den, der sehen will, dass nämlich mit dem Auftreten Jesu das Gottesreich gekommen ist. Ein solches Zeichen sind vor allem die Dämonenaustreibungen, die Jesus vornimmt. Seine Gegner bezichtigen ihn, er treibe durch Beelzebul die Dämonen aus. Jesus verweist es ihnen. Er treibt die Dämonen aus durch den Finger Gottes. Daran ist zu erkennen, dass das Reich Gottes gekommen ist. In der Heilung des Besessenen erfüllt sich, was durch den Propheten Isaias gesagt worden war: „Er hat unsere Gebrechen fortgenommen und unsere Krankheiten getragen“ (Is 53,4; Mt 8,17). Wenn die Juden das nicht erkennen, so ist das Heuchelei (Lk 12,56), d.h. weit mehr ein Nicht-Sehen-Wollen als ein Nicht-Können.

Wir dürfen uns freuen, dass wir in der Zeit der Erfüllung der messianischen Weissagungen leben. Auch uns hat Christus gemeint, als er sagte: Selig die Augen, die sehen, was ihr seht, und selig die Ohren, die hören, was ihr hört. Wir müssen danken, dass wir die Zeit der Erfüllung der messianischen Weissagungen erleben dürfen. Es gibt viele Religionen, aber nur eine wahre. Alle anderen Religionen sind von Menschen gemacht, nur eine stammt von Gott. Nur jene Religion kann in die Nähe Gottes führen, die nicht vom Fleisch und Blut eines Volkes geoffenbart ist. Nur jener Christus kann ein Volk erlösen, der aus übervölkischen Höhen kommt. Es ist ein unbeschreibliches Glück, ein Christ zu sein. Wir dürfen den größten aller Namen führen: wir sind Christen, Kinder Gottes, Christi Freunde, sein Leib (Chrysostomus). Es ist ein Glück, die katholische Sittenlehre zu kennen. Der katholische Christ weiß mit untrüglicher Gewissheit, was er zu tun und zu lassen hat. Namentlich die Kenntnis der Gebote, welche die Geschlechtskraft ordnen, sind ein wahrer Segen. Das ewige Gesetz ist der weisheitsvolle Wille Gottes, der befiehlt, die Naturordnung einzuhalten, und verbietet, diese Ordnung zu verletzen. Immanuel Kant hat einst richtig geschrieben: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je tiefer und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über uns und das moralische Gesetz in mir.“ Dieses moralische Gesetz ist die Moralverkündigung unserer Kirche.

Wir leben in der Religion der Sündenvergebung. Der Apostel Johannes versichert uns: „Ihr wisst, dass er erschienen ist, die Sünde hinwegzunehmen“ (1 Joh 3,5). „Das Blut seines Sohnes macht uns von allen Sünden rein“ (1 Joh 1,7). Es ist ein Glück, zu wissen, dass Gott Sünden vergibt, wenn der Mensch wahre Reue erbringt. Es ist ein Glück, beichten zu dürfen, psychische Entlastung und göttliche Vergebung zu empfangen. „Die Vergebung der Sünden ist der Daseinsgrund für die Kirche auf Erden“ (Augustinus). Der französischen Königin Marie Antoinette war vor der Hinrichtung die Bitte abgeschlagen worden, einem Priester zu beichten. Auf einem elenden Karren, die Hände auf dem Rücken gefesselt, wurde sie zur Richtstätte geführt. Doch hatte sie noch im Kerker ein Haus verabreden können, wo ein Priester ihr heimlich vom Fenster aus die Lossprechung geben sollte. Mit Spannung verfolgte sie die Namen der Straßen, die Nummern der Häuser. Endlich war das bezeichnete Haus in Sicht. Sie erblickte den Priester, neigte das Haupt und bewegte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, dreimal das Haupt in Kreuzesform. Von da an lag ruhige Gefasstheit und ein stilles Leuchten über ihrem Antlitz, das sie bis in den Tod nicht verließ.

Es ist ein Glück, hören zu dürfen, dass der Mensch, die Seele des Menschen unsterblich ist. Leuchtet dir keine Ewigkeit, so sind deine Lichter erloschen. Gott hätte niemals so Großes für uns getan, wenn mit dem Tod des Körpers auch das Leben der Seele zugrunde ginge. So unerhört es klingt, so wahr ist es: Es gibt ein ewiges Leben. Jesus versichert uns: „Wenn einer mein Wort hält, wird er in Ewigkeit den Tod nicht schauen“ (Joh 6,40). Welcher Katholik würde in seiner Todesstunde seinen Glauben bereuen? Wie viele Ungläubige hingegen pressen ihre sterbenden Lippen auf das Kreuz, beten an, was sie geleugnet, und leugnen ab, was sie angebetet haben. Am Anfang unseres Lebens stand die dunkle Not. An seinem Ende steht die leuchtende Verklärung. Im Himmel werden wir feiern und schauen, schauen und lieben, lieben und loben. Das ist das Ende, eine Ende ohne Ende (Augustinus).

Amen.

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