Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
22. März 2020

Der Kreuzweg

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Prokurator Pilatus beteuert viermal Jesu Unschuld und verhängt dennoch über ihn die Todesstrafe. Er nimmt das Holzstäbchen, bricht es entzwei und wirft es Jesus vor die Füße. Er lässt Wasser bringen, wäscht sich die Hände und erklärt der Menge: „Ich bin unschuldig an diesem Blute; seht ihr zu.“ Ungerührt antwortet die Menge: „Sein Blut (komme) über uns und unsere Kinder.“ Jesus wird zur Hinrichtung geführt „an den Ort Golgotha, was übersetzt heißt Ort des Schädels“. Die Kreuzigung war „nahe bei der Stadt“, „außerhalb des Tores“. Der Weg zur Kreuzigungsstätte war nach römischem Recht festgelegt. Der Verurteilte musste nackt und unter Geißelhieben das Querholz (patibulum) zu der öffentlichen Richtstätte tragen. Aus der Vorwegnahme der Geißelung und auch aus der daraus sich ergebenden Schwächung erklärt sich, dass Jesus das Querholz nicht den ganzen Weg bis Golgotha tragen musste. Das Hinrichtungskommando zwang einen Vorbeikommenden, den Balken jedenfalls ein Stück weit zu tragen. Weil er schon gegeißelt war, wurde er auf dem Kreuzweg nicht gegeißelt. Er wurde auch nicht nackt zur Kreuzigung geführt, sondern erst auf Golgotha entkleidet.

Der Zug, der die „Verbrecher“ zur Schädelstätte führen soll, ist gegliedert. Voran reitet der Hauptmann, ihm folgen Soldaten. Kalt wie das Eisen der Waffen und der Rüstung sind ihre Gesichter, scheinen ihre Herzen zu sein. Mit ihnen gehen die Ruhe und die Disziplin Roms. Hinter ihnen der unruhige Tross der Henker und der Knechte. Was zur Hinrichtung erforderlich ist, schleppen sie mit. Was sie vorhaben, ist ihre alltägliche Arbeit. Zwei Verbrecher, von den Soldaten eskortiert, kommen näher. Stricke sind um ihren Leib und ihre Gelenke geschlagen. Es sind kräftige Gesellen; sie sind noch nicht durch die Geißelung geschwächt. Wild schauen sie auf die Menge. Sie tun den Gaffern nicht den Gefallen, wehmütig in den Tod zu gehen. Ein Knabe trägt ein Schild, den Straftitel. Darauf steht geschrieben: „Jesus Nazarethanus, Rex Judaeorum.“ Darin ist seine „Schuld“ enthalten. Er hat sich das Königtum, die Herrschaft im Judenlande angemaßt. Darum muss er sterben. Ein ungerechterer Vorwurf wurde ihm nie gemacht. Dann kommt er selbst. Verwundet und ermattet, mit totenbleichem Antlitz, mit Schweiß und Blut bedeckt; jeder Schritt ist Qual. Jesus wankt und stolpert über das holprige Pflaster. Der Weg ist für ihn in Wahrheit eine via dolorosa, ein Schmerzensweg. Auch wenn die Evangelien nichts davon berichten, dürfen wir alten Überlieferungen trauen, dass er aus Schwäche zusammengebrochen ist, vielleicht nicht nur einmal. Die Henker kennen kein Mitleid. Mit Fäusten und Stricken reißen sie Jesus empor, ziehen, stoßen und schlagen ihn vorwärts. Sie mögen sich nicht aufhalten lassen.

Der Herr in seinem Elend ist nicht verlassen. Der Evangelist Lukas berichtet: „Es folgte ihm eine große Menge Volkes und Frauen, die ihn beklagten und beweinten.“ Die Treue und der Mut der Frauen geht mit ihm. Und Jesus, der seinen Richtern und Henkern das Wort verweigerte, spricht zu ihnen: „Ihr Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich. Weinet über euch und eure Kinder.“ Gequälte und Leidende haben häufig nur einen Blick auf sich selbst, nicht für andere. Jesus ist anders. Das ist sein Wesen, seine Art: Der Trostloseste von allen hat Trost für die Trostlosen. Der Unglücklichste von allen hat einen Blick für das Unglück derer, die ihn beklagen, das er voraussieht. Ist das vielleicht immer so, dass diejenigen, die selbst keinen Tröster haben, Tröster für andere sein müssen? Wir wundern uns sonst, wenn ein Mensch inmitten eines eigenen großen Leides auch noch Sinn und Blick oder gar noch ein Herz hat für fremdes Leid. Aber das finden wir selbstverständlich bei Christus, dem Herrn. Denn wir wissen, er war so reich, so groß, so stark, dass er auch noch im größten eigenen Leid nicht anders kann, als auch andere zu trösten.

Aber nicht nur die Freunde geleiten Jesus. Auch seine Feinde sind da. Sie geben sich keine Mühe, ihre Genugtuung zu verbergen. Noch nicht acht Tage sind es her, da malte sich auf ihren Gesichtern grauer Ärger. Jesus zog im Triumphzug in Jerusalem ein. Scharen von Pilgern winkten ihm zu und riefen: „Hosanna dem Sohne Davids!“ Alles Volk, so schien es, lief ihm nach. Aber jetzt geht dieser Sohn Davids den Weg zur Hinrichtung. In Gesellschaft zweier Verbrecher. Und trägt sein eigenes Kreuz. Die aufgerührte Masse spottet und höhnt. Das ist ihr Sieg. Sie haben es geschafft. Sie haben alle Hindernisse überwunden, sie haben Herodes und Pilatus niedergerungen. Sie wagten viel und haben gewonnen. Der Galiläer ist zur Strecke gebracht. Die Hölle freut sich. Wohin doch der Hass die Menschen treibt. Die Leidenschaften sind die treuesten Gehilfen der Hölle. Das müsste nicht sein. Denn an sich sind sie nicht schlecht. Nach Gottes Plan sind sie Kräfte, die den Menschen zur höchsten Leistung befähigen, nämlich dann, wenn sie in die rechte Richtung gelenkt werden. Aber leider treiben sie den Menschen oft zum Schlimmsten. Nehmen wir den Geschlechtstrieb. Wenn er der Vernunft untertan ist, dann erweist er sich als ein Geschenk Gottes. Er macht zum charakterfesten Mann, zur mütterlich feinen Frau. In der Ehe lässt er das Paar teilnehmen an Gottes Schöpfermacht. Aber der Geschlechtstrieb wird zum Fluch, wenn er die Ketten sprengt und der Wille des Menschen sich ihm beugt. Gottes heiliges Gebot missachtet er. Die Mahnungen des Gewissens schlägt er aus. Um des vermeintlichen Genusses willen schändet er den Leib, den Tempel des Heiligen Geistes. Das Wehe des Herrn über den Verführer prallt an seinen tauben Ohren ab. Er will zum Ziele kommen, auch wenn Ehre und Unschuld begraben werden. Ein einmaliger Sieg genügt dem Trieb nicht. Er giert nach Wiederholung und nach Abwechslung. Er verlangt immer stärkere Dosen. Der Trieb versklavt den Menschen.

Ich hatte einen priesterlichen Mitbruder. Er war begabt und strebsam. Er erwarb den akademischen Grad eines Doktors der Theologie. Er wurde Professor für Theologie. Aber eines Tages entbrannte er in Leidenschaft zu der Ehefrau eines evangelischen Pfarrers. Er gewann sie für sich, sie ließ sich scheiden, er heiratete sie bürgerlich. Etwa gleichzeitig begab er sich in das Lager der Kirchenfeinde und der Religionsspötter. Mit Wort und Schrift zog er fortan gegen das Christentum und die katholische Kirche los. Unser gemeinsamer Lehrer kommentierte den Fall, indem er sagte; „Soweit können einen Menschen die Hormone treiben.“

Die Ehe ist (auch) als Heilmittel der Begierlichkeit vom Schöpfer eingesetzt. Hier sollte der Geschlechtstrieb seine Ruhe finden, an Gottes Gesetz gebunden bleiben. Aber wer vor der Ehe das körperliche Begehren über Gottes Willen stellte, der schiebt auch in der Ehe meistens das Gebot Gottes beiseite. Das Schöpferische des Ehestandes schlägt man aus, das Vergnügen übt man. Die Frucht der ehelichen Einigung wird vereitelt, der Genuss wird gesucht. Irgendwo in der Pfalz wurde ein Einfamilienhaus bezogen. Der brave Vater einer kinderreichen Familie zeigte auf die Eckbank im Wohnzimmer und sagte: Wenn hier einmal eine Schar Kinder sitzen! Die junge Frau, die das hörte, entgegnete schnippisch: So dumm sind wir nicht. Wer mehreren Kindern, wer vielen Kindern das Lebens schenkt, ist nach Ansicht dieser Frau dumm. Weil er den Lebensgenuss den Kindern opfert.

Vom Ehemissbrauch gleiten viele Eheleute ab zum Ehebruch. Es ist eine alte Erfahrung: Wer seinem Gott die Treue bricht, der hält sie auch dem Menschen nicht. Der entfesselte Trieb macht nicht halt an der Grenze der Ehe. Er bricht aus der Ehe aus und reißt einen anderen Menschen in die schwere Sünde hinein. Das Gewissen wird zum Schweigen gebracht. Die Versklavung an die Sinnlichkeit treibt zum Ehebruch. Bei nicht wenigen ist es damit nicht genug. Wenn man sich „versieht“, wenn es zur Empfängnis kommt, erschrecken viele. Sie wollen kein Kind oder kein weiteres Kind. Kinder sind eine Last, eine Bürde, eine Beschwerung. So legt man Hand an das Ungeborene. Man mordet das neue Wesen unter dem Herzen der Mutter. So weit treibt der Geschlechtstrieb die ihm Hörigen. Eine Jugend voller Unzucht. Ein Ehestand voll Missbrauch, Ehebruch und Mord. In Deutschland kommen auf 1000 Geburten 126 (gemeldete!) Abtreibungen. Und Gott sollte dazu schweigen?

Wenn wir auf den leidenden Jesus schauen, erkennen wir die Gesinnung seiner Seele und vermögen daraus Kraft zu ziehen für den Kampf mit den Trieben in uns. Vor dem Richter kann man die Menschen studieren. Wie erbärmlich klein werden da viele! In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts fanden in Moskau die Schauprozesse gegen hunderte führende Männer der Sowjetunion statt. Sie wurden angeklagt wegen Verschwörung und Landesverrat. Alle Vorwürfe waren erfunden. Es gab weder Verschwörung noch Landesverrat. Es existierte nur der Befehl, bestimmte Personen zu liquidieren; Beweise wurden nicht benötigt. Alle Angeklagten gestanden Verbrechen, an die sie nicht im Traum gedacht hatten. Die meisten Marschälle und Generäle brachen schon nach wenigen Tagen zusammen. Wie anders unser Herr und Heiland! Er wird mit Anklagen überschüttet, doch er schweigt. Nicht aus Schwäche, sondern aus Kraft. Denn er will den Weg des Kreuzes gehen. Er schweigt vor Herodes. Er macht seine Wahrheit und seine Wundermacht nicht zum Schaustück. Es geht um sein Leben, aber er schweigt. Er schweigt vor Pilatus. Der Prokurator ist ungehalten. „Zu mir sagst du nichts? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen?“ Unser Herr redet nur dann im Gericht, wenn es sich um seine Sendung handelt. Kurz und klar bekennt er, dass er der Sohn Gottes, der König der Wahrheit ist. Er spricht diese Worte im vollen Bewusstsein, dass sie ihm den fürchterlichen Tod einbringen. Der Prokurator fällt das ungerechteste Urteil, das die Welt je erlebt hat. Der Herr nimmt es an. Ohne Widerrede. Weil der Vater es so will. Er schweigt in seinen körperlichen Schmerzen. An der Geißelsäule. Bei der Dornenkrönung. Während des Kreuzweges. Keine Klage, keine Beschuldigung anderer. Er tut seinen Mund nicht auf vor seinen Henkern. Er ist entschlossen, den Weg des Kreuzes bis zu Ende zu gehen.

So mancher in unserer Umgebung schleppt das Kreuz seiner Leidenschaften. Liegt mit ihnen im Kampfe. Viele reden uns vor: Es ist unmöglich, den Naturtrieb zu bändigen. Es ist unmöglich, vor der Ehe enthaltsam zu leben. Es ist unmöglich, in der Ehe Verzicht zu üben. Gott hat sein heiliges Gebot aufgerichtet: „Du sollst nicht Unkeuchheit treiben!“ Wer seinem heiligen Willen entgegenhandelt, dem sagt der Apostel: „Täuschet euch nicht! Weder Unzüchtige noch Weichlinge werden das Reich Gottes erben.“ Gott ist kein Tyrann; er ist ein Vater. Er verlangt nichts Unmögliches. Wenn er Keuschheit fordert, können wir sie leisten. Es liegt nicht am Können, es liegt am Wollen, dass so viele versagen. Der Wille des Menschen ist eine unbändige Kraft. Wer nicht will, den kann keine Macht der Erde zwingen, freiwillig der Unzucht zuzustimmen. „Aber ich kann es nicht!“ sagt einer. Du kannst, wenn du willst. Du kannst, weil du musst. „Aber es ist zu schwer!“ Dein sittlicher Kampf ist ein Kinderspiel verglichen mit dem Meer der Schmerzen, das unser Herr durchschreiten musste. Das nahm er auf sich für dich.

Auf dem Kreuzweg sehe ich einen, der macht uns das Überwinden und Kreuztragen vor. Er ist ein schwacher, hinfälliger Mensch wie wir. Sein Name ist Simon von Cyrene. Er kommt vom Felde, ist vermutlich müde und hungrig. Daheim warten die Seinen auf ihn. Ihn zwingen die Soldaten, das Kreuz Jesu auf sich zu nehmen. Er murrt und wehrt sich. Denn das Kreuz ist Bürde und Last, Schmach und Schande. Aber schließlich greifen seine Hände fest zu. Der verurteilte Galiläer hat es ihm angetan mit seiner Geduld und Sanftmut. Simon trägt das Kreuz willig und tapfer. Der Herr hat es ihm gedankt. Simon wurde gläubig mit seinem ganzen Hause. Der Apostel Paulus nennt Simons Sohn Rufus den „Auserwählten des Herrn“. Er sagt von Simons Frau in schlichten Worten: „Sie ist auch meine Mutter.“ In der Ewigkeit hat Christus in Simons Seele einen Himmel voll Seligkeit hineingelegt und ihn mit ewiger Herrlichkeit umkleidet. So wird gesegnet, wer für Christus und mit Christus das Kreuz seines Lebens trägt.

Amen.

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