Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. November 2009

Barmherzigkeit – die Krone der Nächstenliebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am kommenden Donnerstag begehen wir das Fest der heiligen Elisabeth. Wenn von Elisabeth die Rede ist, dann klingt ein Lied auf, so süß wie die Liebe und so tief wie das Menschenleid, nämlich das Lied von einer Frau, die eine Fürstenkrone trug, die aber auch eine Dornenkrone auf sich nehmen mußte und die schließlich mit einer Herrscherkrone geschmückt wurde, nämlich mit der Krone der Königin Caritas – Liebe. Ihr Leben vollzog sich von 1207 bis 1231, 24 Jahre. Mit 1 Jahr, 1208, hat man sie verlobt mit dem Landgrafen von Thüringen. Mit 4 Jahren verbrachte man das Kind nach Thüringen, damit es am dortigen Hofe aufwüchse. Mit 14 Jahren wurde sie verheiratet. Es war eine glückliche Ehe; sie schenkte ihrem Mann in ihrer kurzen Ehe drei Kinder. Die Ehe war kurz, weil ihr Mann auf einem Kreuzzug starb. Mit 20 Jahren war sie Witwe, und mit 24 Jahren starb sie. Elisabeth ist die Fürstin der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit übte sie als Kind, als Jungfrau, als Gattin, als Mutter, als Witwe. Barmherzigkeit war der Grundakkord ihres Lebens. Barmherzigkeit zeigte sie in der Nachfolge des heiligen Franz von Assisi. Barmherzigkeit übte sie im Glück und im Unglück.

Wenn wir die Heiligenverehrung nach dem Sinne der Kirche betreiben, dann wissen wir, die Heiligen sollen unsere Vorbilder sein; wir sollen sie nachahmen. Das Wesen der Heiligenverehrung ist die Nachahmung der Heiligen. Gewiß, wir werden nicht die Höhe erreichen können wie Elisabeth. Die Höhe, die sie erreicht hat, wird uns nicht vergönnt sein, aber wir können den Weg einschlagen, den sie gegangen ist. Wir können uns von dem Geist leiten lassen, in dem sie ihr Leben verbracht hat, diesen Geist der Barmherzigkeit. Wir bewundern die Heiligen, aber wir werden auch von ihnen aufgerufen: „Wir waren, was ihr seid. Werdet das, was wir sind!“

Barmherzigkeit ist eine besondere Art der Liebe, es ist nämlich die Liebe zu der gefallenen Kreatur, also die Liebe zu den Verunglückten. Barmherzigkeit im Sinne der heiligen Elisabeth ist nicht ein aufwallendes Gefühl oder eine aus Mitleid gespendete Gabe, sondern eine bleibende Gesinnung, die Gesinnung, die Willensrichtung, die auf praktisches Tun gerichtet ist. Denn wir wissen: Barmherzigkeit ist eine Pflicht. Der Herr hat sie uns auferlegt in seiner Bergpredigt: „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Und er hat sie in seiner letzten Stunde im Abschied uns empfohlen: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebet einander, wie ich euch geliebt habe!“ Und wie hat er uns geliebt? Mit einer hingebenden, mit einer sich aufopfernden, mit einer erlösenden Liebe, mit der Liebe der Barmherzigkeit.

Welches ist der tiefste Grund dieser Liebe? Es ist die Gemeinschaft der Heiligen. Es sind alle verbunden durch die Gnade mit unserem Herrn und Heiland; er ist unser Bruder. Christus steht zu allen Gliedern des Gottesreiches in einer engen Verbindung, und so ist der sichtbare Mitmensch, der sichtbare Nebenmensch nichts anderes als ein Stellvertreter Christi. Er steht an der Stelle Christi, und es ist uns aufgegeben, in ihm Christus zu lieben. Das ist auch der Sinn jener Legende, die aus dem Leben der heiligen Elisabeth erzählt wird. Es wird berichtet, dass die heilige Elisabeth in das Bett ihres Mannes einen armen Aussätzigen legte. Ihre Schwiegermutter war voll Zorn und rief den Mann herbei, aber als der Mann in das Zimmer trat, da fand er in seinem Bett Jesus. Er sah Jesus in dem Armen. Das ist also der tiefe Sinn dieser Legende – es ist eine Legende –: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Wenn wir das barmherzige Tun der heiligen Elisabeth betrachten, dann mutet es uns oft an wie moderne Caritasarbeit; denn Elisabeth hat ihre Barmherzigkeit durchaus nach rationalen Gesichtspunkten betrieben. Wenn sie Arbeitsfähige fand, verschaffte sie ihnen Arbeit; wenn sie Arbeitsscheue sah, munterte sie sie auf, zu arbeiten; wenn sie Arbeitsunfähige traf, reichte sie ihnen ihre Gaben. Die wirksamste Bekämpfung menschlicher Not ist immer die Beseitigung ihrer Ursachen. Vorbeugen ist besser als Helfen. Das vermag der Einzelne aus sich selbst kaum. Es muss die Caritas, es muss die Liebestätigkeit organisiert werden. Wir haben in Deutschland seit vielen Jahrzehnten Organisationen der Caritas: Vinzenzvereine, Elisabethvereine; wir haben den großen Caritasverband, und es sind in den letzten Jahren Hilfswerke entstanden für die lateinamerikanische Bevölkerung – Adveniat und für die Menschen im Osten – Renovabis, für die Menschen in Afrika und Asien – Misereor. Alle diese Werke sind notwendig, und wir sollen ihnen helfen, ihre Tätigkeit zu erfüllen. Wir sollen sie unterstützen mit unseren Gaben, soweit es uns möglich ist.

Aber mit dieser Beteiligung an der organisierten Caritas hört die Pflicht der persönlichen Barmherzigkeit nicht auf. Sie läßt sich überhaupt nicht mit bestimmten Gaben und Zahlen umgrenzen. Es gibt ja unendliche viele Taten der Barmherzigkeit, die nicht in äußeren Gaben bestehen. In solchen Taten aber zeigt sich der wahre Christ, zu solchen Taten ruft uns jeder Tag. Zunächst einmal müssen wir die Not sehen. Dazu bedarf es einer Genialität der Nächstenliebe: die Not sehen! Wir begegnen so viel verschwiegenem Leid. Und wir sehen und hören nichts davon, weil wir ganz erfüllt sind von eigenen Sorgen und Wünschen, Mühen und Hoffnungen. Also die Hellsichtigkeit der Liebe tut uns not. Dann aber, wenn wir die Not sehen, sind wir aufgerufen, ihr abzuhelfen. Die Kirche leitet uns dazu an. Sie hat aus der Offenbarung die Werke der leiblichen und der geistigen Barmherzigkeit aufgestellt. Die Werke der leiblichen Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackte bekleiden, Fremde beherbergen, Gefangene befreien, Kranke besuchen, Tote begraben. Das sind die Werke der leiblichen Barmherzigkeit. Ihr zur Seite die Werke der geistigen Barmherzigkeit: Sünder zurechtweisen, Unwissende belehren, Zweifelnden recht raten, Betrübte trösten, Unrecht geduldig leiden, Beleidigern gern vergeben, für Lebende und Tote beten. Ich finde, dass die Werke der geistigen Barmherzigkeit noch schwerer zu verrichten sind als die der leiblichen, denn sie setzen eben ein ganz anderes Engagement voraus, sie verlangen, dass man sich mit den anderen solidarisiert. Gewiß, wir können nicht unaufhörlich alle Werke der Barmherzigkeit verrichten. Wir haben unseren Beruf, wir haben unsere Pflichten, wir haben unsere Aufgaben, denen wir nachkommen müssen. Aber was wir nicht selbst tun können, das suchen wir eben durch andere tun zu lassen. Und vor allem wollen wir uns die Aufgeschlossenheit der Seele bewahren, die Aufgeschlossenheit für fremde Not, das Mitleiden. Einzig die liebende Teilnahme bietet das Mittel, die Menschen zu verstehen. Wer einen anderen trösten will, ohne seinen Schmerz zu teilen, richtet ihn nicht auf. Das Mitleid ist die Brücke zur Not des anderen.

Das Mitleid ist auch keineswegs ein bloßes Gefühl. Es ist nicht ohnmächtig, es ist nicht tatenlos. Als ich ein Knabe war, wurden wir angeleitet, ein Poesiealbum zu führen, also ein Büchlein, in das Bekannte, Verwandte Sprüche, Merkworte hineinschrieben, die uns galten. Ich gab dieses Büchlein einmal einem meiner Lehrer, und was schrieb er hinein: „Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge getan als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern die Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten“ – Friedrich Nietzsche. Dieses Wort ist ganz falsch. Mitleid und Tapferkeit schließen sich nicht aus. Mitleid und Tapferkeit gehören zusammen. Das Mitleid weckt ja die Tapferkeit. Weil mir der andere nahe steht, weil mir an ihm etwas liegt, deswegen siege ich über meine Trägheit, über meine Bequemlichkeit. Das Mitleid ritzt das Gewissen, auf dass wir uns unserer Pflicht erinnern, Barmherzigkeit zu üben. Gerade diese Aufgeschlossenheit fehlt uns aber oft. Deswegen haben wir so viele Entschuldigungen, wenn wir Not sehen, wenn die Forderung der barmherzigen Tat an uns herantritt: Ich muss mich selber so einschränken; ich kann nicht allen helfen; es kommen so viele; man verlangt so oft eine Spende. Stimmt alles. Und trotzdem, aus diesen Entschuldigungen klingt im Grunde immer dieses Wort des ersten Brudermörders: „Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“ Ja, du bist es!

Wir dürfen vor fremder Not nicht fliehen, meine lieben Freunde, damit sie unsere Tage und unsere Nächte nicht störe. Wir müssen daran denken, dass Christus sagt: „Ich war es, der hungerte; ich war es, der nackt vor der Tür stand.“ Erst da, wo die Helfertat zum persönlichen Opfer wird, ist wahre christliche Caritas. Immer wenn uns die Bequemlichkeit, das Ruheverlangen, das Ungestörtseinwollen von einer Tat der Barmherzigkeit abhalten will, dann schlägt die Stunde der Bewährung. Strohfeuer der Nächstenliebe brennen auf allen Herden, die ewige Lampe der Liebestätigkeit brennt nur im Heiligtum des Glaubens.

Das ist ja das Wundervolle an dem Bild der heiligen Elisabeth, dass die Barmherzigkeit sie durch alle Höhen und Tiefen des Lebens begleitet. Als sie selbst alles verloren hatte und in bitterster Not war, als sie umherwanderte, von Tür zu Tür bettelnd, da suchte und fand sie immer noch die Möglichkeit, Barmherzigkeit zu üben. Und die großen Werke der Landgräfin Elisabeth erscheinen klein im Vergleich zu den stillen Opfern der Bettlerin Elisabeth. Es ist eine alte Erfahrung: Die Armen sind gewöhnlich freigebiger als die Reichen. Die selber in Not sind, haben auch noch einen Blick für fremde Not.

Im Jahre 1235, also vier Jahre nach dem Tode Elisabeths, sah man in Marburg ein merkwürdiges Schauspiel. Es wurde nämlich der Leib der heiligen Elisabeth in feierlichem Zuge in den Dom von Marburg gebracht. Der Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen trug im Bußgewand auf seinen eigenen Schultern den Schrein mit den Gebeinen der heiligen Elisabeth. Das war vielleicht die adeligste Tat, die jener Kaiser in seinem kampferfüllten Leben vollbracht hatte. Der mächtigste Mann der Christenheit, den die ganze Pracht und Herrlichkeit des mittelalterlichen Kaisertums umstrahlte, neigte sein gekröntes Haupt vor der stillen Frau, vor der armen, verlassenen Magd, die aus Barmherzigkeit gegen die Menschenbrüder alles aufgegeben hatte. Denn er wußte: Diese Frau hatte alles hingegeben aus Liebe. Sie trug eine unsichtbare Krone, so herrlich und leuchtend, dass auch der stolzesten Erdenkrone Glanz darüber verblassen mußte. Sie trug die Krone der Königin Caritas.

Amen.

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