Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. Januar 2006

Über Sein und Sollen des Menschen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Entscheidende, was der Mensch in seinem Leben erkennen muss, ist Gott und sein Wesen und ist der Mensch und sein Ziel. Wir haben an vielen vergangenen Sonntagen über Gottes Wesen und Wirken nachgedacht. Wir wenden uns jetzt dem Menschen zu und fragen: Was ist der Mensch und was soll der Mensch? Das sind die beiden entscheidenden Fragen: Was ist der Mensch, und was soll der Mensch? Die Antworten, die wir auf dem Markt der Meinungen hören, sind sehr verschieden. In der Hauptsache lassen sie sich unter zwei Kategorien zusammenfassen. Die eine Kategorie ist die materialistische, die andere ist die existenzphilosophische. Die materialistische Kategorie sagt vom Menschen: Der Mensch ist das, was er ißt. Das heißt: Er ist ein Produkt seiner physischen und ökonomischen Verhältnisse. So, wie die Umwelt ist, so wird der Mensch geformt; er ist total determiniert, bestimmt. Eine Freiheit gibt es nicht. Wenn man ihn ändern will, muss man die Verhältnisse ändern. Die existenzphilosophische Erklärung ist anderer Art. Sie geht davon aus, dass der Mensch eine undeterminierte Möglichkeit ist. Er verwirklicht sich im Entwurf seiner selbst, im Zugehen auf das Absurde, auf das Sinnlose, denn Gott ist ja tot nach der Existenzphilosophie. Und indem er seinen eigenen gewählten Entwurf verwirklicht, entsteht der Mensch erst eigentlich.

Diese beiden Auffassungen sind weit, weit in unser Volk abgesunken, und sie zeigen ihre verhängnisvolle Wirkung. Der Mensch, der sich total determiniert sieht, meint, er brauche sich nicht zu verantworten, es gebe keine Instanz, vor der er sich verantworten müsse. Ein solcher Mann war Adolf Hitler. Als die Katastrophe von Stalingrad geschah, also im Februar 1943, da sagte er: „Stalingrad verantworte ich allein.“ Ja, meine lieben Freunde, wie kann man etwas verantworten, wenn man keine Instanz über sich gelten lässt? Verantwortung besagt doch immer, dass man vor jemandem Rechenschaft legen muss. Wenn aber niemand da ist, der die Rechenschaft fordert und annimmt, dann gibt es auch keine Verantwortung.

Wir wollen die Fragen beantworten: Was ist der Mensch, und was soll der Mensch? Die Frage: Was ist der Mensch? ist auf eine vierfache Weise zu beantworten, nämlich erstens: Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Gott baut gewiß nicht jeden einzelnen Menschen unmittelbar. Er bedient sich dazu der Eltern, die durch ihre liebende Vereinigung den Menschen entstehen lassen. Aber er schafft in dem Augenblick, wo ein junger Mensch, wo ein Menschenleben entsteht, die Seele. So ist er doch unmittelbar beteiligt an dem Entstehen eines Menschen. Es bleibt wahr, was im ersten Buch der Heiligen Schrift steht: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Nach dem Bilde Gottes schuf er ihn.“ Der Mensch – und das ist eine ganz bedeutsame Grundwahrheit unseres Seins – ist ein Geschöpf Gottes. Ein Geschöpf gehört seinem Schöpfer. Daraus ergibt sich, dass wir ganz und gar in unserem Sein und Leben Gott zu eigen sind. Wir sind von ihm abhängig in totaler Weise. Wir sind ganz seiner Hände Werk – und müssen uns natürlich entsprechend verhalten. Was ist der Mensch? Nun, er ist erstens Gottes Geschöpf.

Aber er ist auch zweitens die Krone der Schöpfung. Er ist das Meisterwerk Gottes. Nicht umsonst heißt es, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf. Der Mensch vereint alles, was anderen Geschöpfen zu eigen ist. Die leblosen Geschöpfe, ein Stein etwa, hat nur das körperliche Sein. Die Pflanzen haben mehr: Sie haben das Leben und das Wachsen. Und die Tiere haben das Wahrnehmen und das Fühlen. All das ist im Menschen vereinigt. Aber noch mehr. Er besitzt eine geistige, unsterbliche und freie Seele. Deswegen ist der Mensch die Krone der Schöpfung. Er überragt alle Seinsstufen; er ist ein Geist, und damit steht er an der Spitze der Schöpfung. Im 8. Psalm, den wir Priester ja jede Woche beten, heißt es: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, des Menschen Sohn, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig unter die Engel gestellt. Mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt und ihn gesetzt über das Werk deiner Hände. Alles hast du seinen Füßen unterworfen.“ Wahrhaftig, der Mensch ist die Krone der Schöpfung.

Er ist aber drittens ein gefallener König; denn Gott wollte ihn nicht nur natürlich reich ausstatten, er hat ihm auch das übernatürliche Leben gegeben, die Freundschaft mit Gott, die Gottesfreundschaft, die heiligmachende Gnade. Die aber hat der Urvater, Adam, verloren, und er hat sie verloren für seine ganze Nachkommenschaft. So, wie der Mensch jetzt zur Welt kommt, fehlt ihm das übernatürliche, göttliche Leben. Er trägt nicht mehr das hochzeitliche Gewand der übernatürlichen Gottebenbildlichkeit. Statt mit der Gnade geschmückt tritt er, mit der Erbsünde versehen, ins Leben. Auch die Natur ist verwundet: Der Verstand ist verdunkelt, der Wille ist geschwächt, die Begierlichkeit tobt in unserem Leibe, und der Leib selber wankt unausweichlich dem Tode entgegen. Das ist also die dritte Grundwahrheit: Der Mensch ist ein gefallener König. Wie es einmal der französische Philosoph Pascal ergreifend ausgedrückt hat: „Selbst das Elend des Menschen beweist des Menschen Größe. Es ist das Elend eines großen Herren, das Elend eines entthronten Königs.“

Was ist der Mensch? Viertens und letztens müssen wir sagen: Er ist ein Erlöster. Denn Gott hat ihn nicht in der Schande gelassen. Er hat seinen Sohn gesandt, damit er Genugtuung schaffe und den Zugang zum Vater wieder erschlösse. Wir können jetzt wieder Kinder des Vaters, Brüder Christi und Tempel des Heiligen Geistes werden. „Gott, du hast den Menschen wunderbar geschaffen und noch wunderbarer erneuert“, so beten wir ja in jeder heiligen Messe, da, wo Wasser und Wein gemischt wird. Und Gott hat uns tatsächlich aus der Finsternis in sein herrliches Reich berufen. Er hat uns in sein wunderbares Licht gerufen. Wir sind erlöste Menschen, wenn wir uns nur in der Taufe von der Erbsünde freimachen lassen, wenn wir nur in der Gnade und Wahrheit leben, die uns jetzt in reicher Fülle zur Verfügung steht. Ergreifend ruft uns der Apostel Paulus zu: „Ihr habt nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, um euch wieder zu fürchten. Ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, der da ruft: Abba, lieber Vater.“ Wahrhaftig, meine lieben Freunde, wir sind glücklich, dass wir wissen, was der Mensch ist.

Denn jetzt wissen wir auch, wie wir uns verhalten müssen. Der Mensch muss sich so verhalten, dass er dem, was Gott aus ihm gemacht hat, entspricht. Das ist also die zweite Frage, die wir uns stellen wollen: Was soll der Mensch? Nun, der Mensch soll erstens seine Erdenaufgabe erfüllen und zweitens das Ewigkeitsziel erreichen. Auf Erden ist uns eine Aufgabe gesetzt. Ich habe schon manchmal Menschen getroffen, die mir gestanden: Ach, ich habe ein verpfuschtes, ein gescheitertes Leben. Sie meinten, dass sie das nicht erreicht haben, was sie hätten erreichen wollen, einen anderen Beruf, einen anderen Partner, eine andere Umgebung. Meine lieben Freunde, was man auf Erden soll, das kann man an den Umständen ablesen, in die man hineingeboren ist. Die Verhältnisse, die äußeren Verhältnisse, die Begabung, die innere Begabung, also die Anlagen, die wir haben, und die verschiedenen Fügungen des Willens Gottes, das sind die drei Komponenten, aus denen sich unser Lebensplan ergibt. Ich sage nicht, dass die äußeren Verhältnisse uns determinieren. Selbstverständlich kann, selbstverständlich soll ein Sohn, eine Tochter aus armer Familie auch studieren, wenn er oder sie dazu befähigt ist. Wir sagen nicht, dass jeder unweigerlich in dem Stande bleiben muss, in den er hineingeboren ist. Nein. Aber er muss für eine andere, für eine höhere, für eine würdigere Aufgabe geschaffen sein. Er muss die Anlagen haben, er muss die Begabung haben. Und dann kann er, dann soll er die Position einnehmen, die seinen Anlagen entspricht.

Dazu kommt aber freilich auch die Fügung Gottes. Wir wissen ja, dass das Leben nicht völlig in unserer Hand steht. Wir werden geführt und auch gestoßen, und infolgedessen müssen wir eben auch auf die Fügungen und Führungen Gottes achten. Wir müssen unsere Lebensaufgabe erkennen und sie dann zu erfüllen suchen. „Das Leben ist ein leerer Krug, du hast ihn auszufüllen. Und was du dir gesammelt hast, wird dich im Jenseits stillen.“ Ein schönes Wort. Das Leben ist ein leerer Krug, du hast ihn auszufüllen. Und was du dir gesammelt hast, wird dich im Jenseits stillen. Jeder hat seinen Beruf, jeder hat seine Aufgabe, und wie töricht sind Menschen, die einen anderen wegen seines Berufes geringschätzen oder missachten. Wir töricht, wie ungerecht und wie lieblos sind sie! Nein, jedermann ist seiner Ehre wert, und die schlichten Männer, die uns mit den Räumfahrzeugen den Müll wegräumen, wie müsste man sie achten und schätzen! Sie erfüllen eine lebensnotwendige Aufgabe. Wenn man eine Uhr öffnet und sich die Rädchen anschaut, dann erkennt man: Jedes dieser Rädchen ist notwendig. Wenn nur eines fehlt, ist die Uhr zum Stillstand verurteilt. Ähnlich ist es auch im großen Welttheater Gottes. Gott braucht einen jeden, denn er hat ihn hingestellt für diese Aufgabe, die ihm übertragen ist. Und so kann ein jeder auch dankbar und stolz sein für die Aufgabe, die ihm geworden ist. Es gibt keinen – ich habe es schon oft gesagt – es gibt keinen unbrauchbaren Menschen.

Ein persischer König hat einmal, so wird erzählt, drei weise Männer kommen lassen und sie gefragt, was denn das größte Elend auf Erden sei. Der erste sagte: Das größte Elend ist, krank zu sein. Der zweite antwortete: Das größte Elend ist, alt zu sein. Der dritte sagte: Das größte Elend ist, den Tod vor Augen zu haben und auf ein verlorenes Leben zurückzuschauen. Wahrhaftig, so ist es recht. Das größte Elend ist, auf ein verlorenes Leben zurückzuschauen. Das ist immer dann der Fall, wenn man die Aufgabe nicht angenommen hat, die Gott einem gegeben hat. Wer die Aufgabe nicht annimmt, die Gott für einen bestimmt hat, dessen Leben ist verloren, vor allem natürlich im Beruf.

Der Mensch hat eine Erdenaufgabe, er hat aber auch zweitens ein Ewigkeitsziel. Der Mensch besitzt ein Herz, das mit den irdischen Dingen nicht ausgefüllt werden kann. Selbstverständlich kann sich der Banause mit den irdischen Dingen befriedigen. Selbstverständlich kann er die höheren Stimmen zum Schweigen bringen. Das ist unbestreitbar. Aber der Mensch, der auf die feinen Stimmen seines Inneren hört, der Mensch, der über Essen und Trinken hinausschaut, ein solcher Mensch spürt, was der heilige Augustinus einmal geschrieben hat: „Du hast, o Herr, unser Herz für dich erschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir.“ Der Mensch ist zu groß, sein Geist ist zu herrlich, als dass ihn diese Welt ausfüllen könnte. Das menschliche Herz gleicht einem Abgrund, der so tief und weit ist, dass ihn alle Erdengüter nicht ausfüllen können. Es lebt in ihm ein Drang nach Unendlichkeit. Da hat wieder einmal der Philosoph Friedrich Nietzsche recht gesehen, wenn er schreibt: „Alles Glück will Ewigkeit.“ Wahrhaftig, so ist es. Alles Glück will Ewigkeit. Die Sehnsucht, ewige Werke zu schaffen, die Sehnsucht, ewig zu leben, die Sehnsucht, ein ewiges Glück zu erreichen, lebt in uns. Und diesen Drang nach Unendlichkeit, diese Sehnsucht nach Ewigkeit und nach unendlichem Glück hat der Schöpfer in unsere Seele hineingelegt, hineingelegt, um uns auf das ewige Ziel hinzulenken, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass die Erde nicht genügt, dass Gott allein dem Menschen genügt.

Von König Salomon wird in der Heiligen Schrift berichtet, dass er alle Schätze und Güter der Erde gesammelt hatte. „Ich sammelte mir Silber und Gold und die Schätze der Könige und Länder, und alles, was meine Augen verlangten, versagte ich ihnen nicht. Und ich verwehrte meinem Herzen nicht, alle Lust zu genießen. Aber ich sah in allem Eitelkeit und Geistesplage und dass nichts von Dauer sei unter der Erde.“ Salomon hat erkannt, dass der Mensch den Menschen unendlich überschreitet, dass er nicht nur eine Erdenaufgabe hat, sondern ein Ewigkeitsziel, dass der Gott aller Gnade uns in seine Herrlichkeit berufen hat. Wir sollen Gott schauen, soweit das einem Geschöpfe möglich ist. Wir sollen ihn lieben, soweit es einem Geschöpfe möglich ist. Das ist das ewige Leben, von dem die Heilige Schrift so oft redet. Das ist die Freude des Herrn, die für den treuen Knecht bereitet ist. Wir sollen einmal Gott vollkommen verherrlichen und dann auch vollkommen glücklich sein. Beides wird schon in unserer Erdenaufgabe begonnen. Wir sind auf Erden, um Gott zu dienen, ihn zu lieben und dadurch in den Himmel zu kommen. Wenn wir diese Erdenaufgabe recht erfüllen, dann erreichen wir das ewige Ziel. Wer hier in rechter Weise mit Gott lebt, der wird auch fähig sein, ihn einmal zu schauen. Eines, meine lieben Freunde, ist so leicht wie das andere: in Gott hinein zu leben und in Gott hinein zu sterben. Wer den Mut hat, in Gott hinein zu leben, der wird auch die Kraft haben, in Gott hinein zu sterben.

Amen.

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