Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
29. Juni 2003

Die Heimat

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir sprachen von den Abenteuern des Lebens, und wir bestimmten das Abenteuer als eine gefährliche, kritische Situation, die unberechenbar ist. Als erstes Abenteuer nannten wir die Kindheit. Mit der Kindheit eng verbunden ist das zweite Abenteuer, nämlich die Heimat. Heimat und Kindheit gehören zusammen, denn die Heimat ist der Raum, in dem das Kind aufwächst; Heimat, das sind die Menschen, mit denen es umgeht; Heimat, das sind die Gegenstände, die ihm vertraut sind. Heimat ist der Wurzelboden, auf dem ein Kind wächst.

Der Fleck Erde, der uns als Kindern gegeben ist, wird auch in den bürgerlichen Listen als Heimatort, als Ursprungsort eingetragen. Es ist das eben der Fleck Boden, der uns gehört, auf dem wir sein dürfen, zu dem wir immer zurückkehren können. Heimat ist ein Ort der Geborgenheit und der Sicherheit. Es ist der Ort einer ursprünglichen Geborgenheit und einer ursprünglichen Sicherheit. Da darf ich sein, da bin ich gut aufgehoben, da kann mir nichts passieren, was meine Existenz erschüttern würde, davon kann mich niemand vertreiben.

Aber da erhebt sofort unser Gedächtnis Einspruch und sagt: Ja, aber es gibt doch Millionen und Abermillionen Heimatvertriebene. Es gibt doch auch in Deutschland zahllose Menschen, denen die Heimat genommen wurde, die man in Viehwagen gepreßt hat und dann aus ihrer Heimat abtransportiert hat. Was ist denn mit den Heimatlosen? O,  meine lieben Freunde, das ist einer der schwersten Schicksalsschläge, die einen Menschen treffen können, die Heimat zu verlieren, ein Heimatloser zu sein und an einem fremden Fleck Erde sich eine neue Existenz aufbauen zu müssen. Auch andere Menschen verlassen ja die Heimat aus beruflichen Gründen, wegen einer Ehe, um der Geschäfte willen. Aber sie können jederzeit in ihre Heimat zurückkehren, denn sie haben einen bleibenden Fleck der Geborgenheit. Nicht so die Heimatvertriebenen; ihnen ist die Heimat unwiderruflich genommen. Sie können nicht mehr dahin zurückkehren, wo sie ihre Heimatkirche haben, wo sie die heimatlichen Menschen um sich hatten, wo sie die heimatliche Schule besucht haben.

Heimat ist der Ort der Geborgenheit und Sicherheit. Das Heimatgefühl gibt dem Kinde Sicherheit und Geborgenheit, gibt dem Kinde das Gleichgewicht. Wenn man eine Heimat hat, dann hat man auch eine Ruhe, dann hat man auch eine Freude, dann hat man auch eine Zuversicht, und da hat man auch einen Mut, da hat man Unternehmungsgeist und Entschlußkraft. Die Heimat gibt dem Kinde das seelische Gleichgewicht. Um so mehr ist der erschüttert, der die Heimat verloren hat, dem dieses Gleichgewicht entrissen wurde.

Heimat ist zunächst einmal der Raum, in dem einer aufwächst, der Raum, im engsten Sinne die Wohnung, und glücklich der, welcher in einer geräumigen Wohnung aufwachsen durfte, und unglücklich jener, der in der Enge eines einzigen Zimmers einer Mietwohnung aufwachsen mußte, der spüren mußte, daß er überall zuviel ist, daß er überall anstößt, daß man ihn nicht mag. Glücklich jene Kinder, denen ein Haus zu eigen war, in dem sie aufwuchsen, mit Speichern und Kellern, mit Treppen und Winkeln. Eine solche Heimat ist wahrhaftig ein großes Geschenk. Und dazu die Felder und Wiesen und die Umgebung, in der sich Kinder tummeln können. Wahrhaftig, das ist Heimatboden, der ein Kind glücklich machen kann.

Zur Heimat gehören auch die Menschen, die Menschen der Umgebung, also zuerst die Eltern, die Geschwister, die Spiel- und Schulkameraden. Diese Menschen bilden eine Heimat, eine Heimatgeborgenheit, welche durch nichts ersetzt werden kann. Wer ohne Eltern aufwachsen mußte, wessen Eltern getrennt waren, der hat schon in frühester Jugend ein Trauma erlitten, das bei manchen das ganze Leben nicht mehr heilt. Nun ist es nicht so, als ob da, wo Eltern ein Kind heranwachsen sehen, alles ungetrübt ist. Auch da gibt es Mißverständnisse, auch da gibt es Strafen, auch da gibt es Streit. Das ist unter Menschen unvermeidlich. Aber diese Aufregungen zerstören nicht die fundamentale Sicherheit, daß die Eltern es gut meinen mit dem Kinde. Das Kind weiß: Ich bin in der Liebe der Eltern geborgen, die wollen mir wohl. Das gibt dem Kinde das Heimatgefühl, das so tröstend und heilend für die Seele ist. Die Überzeugung, daß man trotz aller Mißverständnisse geliebt ist von den Menschen der Umgebung, das ist wahrhaft ein Geschenk, das durch nichts ersetzt werden kann. Die Sicherheit des Heimatgefühls geht aus dem Vertrauen hervor, aus dem Vertrauen, das man haben kann zu den Menschen, zu dem Ort, in dem man sich befindet, das Vertrauen, das nicht erschüttert wird durch Verlust und durch Mißverständnis.

Aber freilich, es gibt auch ein Abenteuer der Heimat, und das setzt da ein, wo die Heimat zu einem gefährlichen, zu einem fluchtbereiten Ort wird; das setzt da ein, wo Disharmonie unter den Menschen der Umgebung ist. Wir alle empfinden es bitter, wenn Eltern sich streiten, wenn sie nicht zusammenkommen, wenn sie sich vor den Kindern in den Haaren liegen. Das ist schmerzlich und untröstlich für die Kinder. Nun aber erst recht, wenn Eltern im Dauerclinch miteinander liegen, wenn Eltern unaufhörlich sich nicht einigen können, dann zieht sich ein Kind zurück, dann wird das Vertrauen zerstört, dann kommt eine Abwehrstellung, eine mißtrauische und protestierende Haltung in das Kind hinein, und die zerstört in gewisser Hinsicht das Heimatgefühl in der jungen Seele. Die Heimat hängt eben zum großen Teil von dem Verhalten der Menschen zu dem Heranwachsenden ab, und wo dieses Verhältnis gestört ist, da ist auch das Heimatgefühl gestört.

Das Heimatgefühl kann aber auch noch auf eine andere Weise gestört werden, nämlich wenn Erwachsene Kinder von allem, was außerhalb der Familie ist, fernhalten wollen, wenn sie den Kindern nicht zutrauen, zu Spielkameraden zu gehen, auf die Straße hinauszugehen, wenn den Kindern das alles als feindselig und zu fliehen vorgestellt wird. Auch da wird das Heimatgefühl zerstört. Die Verzärtelung eines Kindes ist genauso gefährlich wie die Streitsucht von Eltern. Wenn ein Kind verwöhnt wird und verzärtelt wird, dann gerät es nämlich in eine ängstliche Abwehrhaltung, und die Heimat wird dann zu einem krankhaft gesuchten Zufluchtsort. Sie soll dann etwas leisten, was sie nicht leisten kann, es entsteht ein verzweifeltes Sich-Anklammern an die Heimat. Also auf zwei Weisen kann das Heimatgefühl im Kind zerstört werden: durch eine unangebrachte Autorität und durch eine übergroße Verzärtelung. Die eine Haltung ist die feindselige, die liebeleere, die gleichgültige, die das Kind dauernd bedroht und zum Rückzug zwingt, eine Haltung, die ihm jedes Menschenvertrauen und schließlich auch das Selbstvertrauen nimmt. Die übermäßige Ausübung von Autorität ist genauso schädlich wie das Schleifenlassen der Zügel. Die andere Haltung ist die allzu besorgte, die verzärtelnde, die das Kind zu einem unselbständigen Sich-Anklammern an die Sicherheit der Heimat veranlaßt und es deswegen nicht zur Freiheit kommen läßt. Denn Heimat soll auch Weite sein, Heimat soll auch Freiheit sein, Freiheit der Bewegung, Freiheit des Sich-Auslebens – im guten Sinne gemeint, Freiheit des Sich-selbst-Formens. Diese Sicherheit, die hier gemeint ist, ist mit der Freiheit durchaus zu vereinbaren. Die Heimat soll Weite geben und nicht Abschließung, sie soll sicheren Raum geben, aber nicht ein Verlies. Die Heimat soll ein grenzenloses Land sein, aber nicht ein ummauerte Festung.

Das alles wird die Heimat sein können, wenn in sie Gott einbezogen wird, denn Gott ist die Grenzenlosigkeit, Gott ist die Weite, Gott ist die Unendlichkeit. Wer in religiöser Weise erzogen wird, wer als Kind zum persönlichen Verkehr mit Gott geführt wird, der besitzt eine Heimat, die über alle irdischen Heimaten hinaus reicht. Wohin er immer kommen mag, Gott ist überall da. Der Psalmist hat diese Wahrheit in ergreifender Weise ausgedrückt: „Von hinten und von vorn hältst du mich umschlossen und hast mich ganz in deiner Hand. Wohin soll ich vor deinem Geiste fliehen, wohin vor deinem Antlitz gehen? Wenn ich zum Himmel fliege, bist du da, wenn ich zur Hölle führe, bist du hier. Erwählte ich des Morgens Säume und ginge ich an das fernste Meer, auch dort ergriffe mich deine Hand, und deine Rechte faßte mich. Und spräche ich: Die Finsternis verhüllt mich sicher, das Licht wird um mich sein wie Nacht, so wäre dir die Finsternis selbst nicht zu finster. Dir leuchtet Nacht wie Tag und Finsternis wie Licht.“ In diesem Psalm 139 ist beshrieben, daß Gott für den gottgläubigen Menschen eine wahre Heimat ist, daß Gott überall zu finden ist und daß Gott überall mit dem Menschen geht.

Umgekehrt: Wie schrecklich ist es für den, der Gott verloren hat oder Gott niemals kennengelernt hat. Ein solcher Mensch ist in einer Weise heimatlos, wie es kein irdischer Heimatvertriebener sein kann. Einer von diesen Heimatlosen hat seine Erfahrung der Gottferne in ergreifende Worte gefaßt: „Die Krähen schreien und ziehen schwirren Flugs zur Stadt. Bald wird es schneien. Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat. Nun stehst du starr, schaust rückwärts, ach, wie lange schon. Was bist du Narr vor Winters in die Welt entfloh'n? Die Welt, ein Tor zu tausend Wüsten, stumm und kalt. Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends halt. Nun stehst du bleich, zur Winterwanderschaft verflucht, dem Rauche gleich, der stets nach kälteren Himmeln sucht. Flieg, Vogel, schnarr dein Lied im Wüstenvogelton. Versteck, du Narr, dein blutend' Herz in Eis und Hohn. Die Krähen schreien und ziehen schwirren Flugs zur Stadt. Bald wird es schneien. Weh dem, der keine Heimat hat!“

Amen.

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