Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
12. März 2000

Der Gnadenstand des Christen bei Paulus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, die Gnade zu bedenken. Die Gnade ist nichts anderes als das Reich Gottes in den Seelen. Keiner ist ein solcher Herold der Gnade gewesen wie der Apostel Paulus. Er schildert das übernatürliche Leben der Gnade im Menschen als Gemeinschaft mit Christus, als Verbundenheit mit Christus, als Lebensaustausch zwischen Christus und den Christen. Wenn wir von der Gnade sprechen, dann reden wir von unserem Christenstande, dann preisen wir das Höchste, was uns zuteil geworden ist, nämlich das Leben im Heiligen Geiste. Wir wollen heute einmal anhand der Äußerungen des Apostels Paulus uns diesen Gnadenstand vor Augen stellen. Wir wollen vier verschiedene Gruppen von Aussagen in Betracht ziehen, in denen der Apostel vom Gnadenstand, von der Begnadung des Christen spricht.

An erster Stelle erwähnt er den Taufstand. Durch die Taufe wird der Christ Christus übereignet; die Taufe erfolgt auf den Namen Jesu. Wir wissen aus den Geschäftsurkunden der damaligen Zeit, daß die Anrufung des Namens über einer Person dazu führt, daß diese Person dem Angerufenen übereignet wird. In Geschäftsurkunden, in rechtlichen Dokumenten finden wir diese Übertragung des Eigentumsrechtes durch Anrufung des Namens. Wenn also in der Taufe der Name Jesu über dem Täufling angerufen wird, dann besagt das seine Übereignung an Christus. Christus wird dadurch sein Herr. Er ist nicht mehr sein eigener Herr, sondern er hat einen neuen Herrn gewonnen, nämlich Christus.

Eine zweite Gruppe von Aussagen geht dahin, daß Christus in uns lebt, daß wir in Christus leben und daß wir mit Christus leben. Diese Reihe von Aussagen ist vielleicht am schwersten zu verstehen; denn wenn wir das Wörtchen „in“ hören, dann denken wir natürlich immer an einen Raum: Ich befinde mich „in“ einem Zimmer. Aber diese Bedeutung ist hier nicht gemeint. Das Wörtchen „in“ hat hier kausale und instrumentale Bedeutung. Das heißt: Durch das Wort „in“ soll angedeutet werden, daß durch Christus etwas mit uns geschieht, daß durch Christus in uns etwas erneuert wird. 8 mal kommt in den Schriften des Paulus die Wendung vor: Christus in uns. Ich will Ihnen einige dieser Wendungen vorführen. Im Römerbrief heißt es: „Die dem Fleische leben, können Gott nicht gefallen. Ihr aber lebt nicht dem Fleische, sondern dem Geiste, wenn anders Gottes Geist in euch wohnt. Wenn aber jemand den Geist Christi nicht hat, gehört er ihm nicht an. Ist dagegen Christus in euch, so ist der Leib zwar dem Tode verfallen wegen der Sünde, der Geist aber lebt wegen der Rechtfertigung.“ Hier haben wir also zum erstenmal diese Wendung: Christus in uns. Diese Wendung hat zum Inhalt, daß wir zwar immer noch unseren dem Tod verfallenen Leib herumtragen, daß aber unser Geist lebendig gemacht ist durch den Geist Christi, der in uns lebt. Christus lebt seinem Geiste nach in uns, und diese Gegenwart Christi in uns ist eine Wirkgegenwart; Christus wird gewissermaßen unser Existenzgrund.

An einer anderen Stelle, im Galaterbrief, schreibt der Apostel: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Mit Christus bin ich gekreuzigt. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Sofern ich aber noch im Fleische lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat.“ Wie kann Paulus sagen: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“? Nun, er hat es vorher angedeutet, warum er das sagt: Mit Christus bin ich gekreuzigt – am Kreuze stirbt man natürlich –, also bin ich mit Christus gestorben. Er meint eben: nach meinem natürlichen Sein. Als ein Mensch ohne Christus und fern von Christus bin ich gestorben. Das Kreuz Christi hat Bedeutung für mich. Was Christus widerfahren ist, gilt auch für mich, und deswegen kann ich sagen: Mit Christus bin ich gekreuzigt; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.

Um noch eine letzte Äußerung dieser Art zu erwähnen: So schreibt Paulus im Epheserbrief: „Christus möge euch nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit verleihen, daß ihr durch seinen Geist mit Kraft gestärkt werdet im inneren Menschen. Christus möge durch den Glauben in euren Herzen wohnen!“ Christus möge durch den Glauben in euren Herzen wohnen! Der Glaube ist der Weg, durch den Christus Wohnung in uns nimmt. Wenn wir uns nämlich Christus übergeben (und das heißt ja glauben), dann kommt er zu uns und nimmt in uns Wohnung. Dann werden wir von Christus durchherrscht, und dann wird Christus unser Existenz- und Wirkgrund. Wenn Christus in uns lebt, dann nimmt er uns in sich auf, und deswegen kann man ebensogut sagen: Wir in Christus. Ja, diese Wendung „Wir in Christus“ kommt in den Paulusbriefen 165 mal vor. 165 mal hebt Paulus diese Wahrheit, an der ihm offenbar so viel liegt, hervor, daß wir in Christus leben, und zwar wird diese Symbiose, dieses Zusammenleben Christi und der Christen hervorgebracht durch die Taufe.

Im Römerbrief sagt Paulus: „Wißt ihr nicht, daß wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, auf seinen Tod getauft worden sind? Denn mitbegraben sind wir mit ihm durch die Taufe auf den Tod, damit, wie Christus auferstanden ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir einen neuen Lebenswandel führen. Wenn wir mit ihm durch die Ähnlichkeit mit seinem Tode verwachsen sind, werden wir es zugleich auch mit seiner Auferstehung sein. Das wissen wir, daß unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, damit der sündige Leib zerstört werde und wir fürderhin nicht mehr der Sünde dienen.“ Paulus geht hier vom Taufgeschehen aus. Man muß sich daran erinnern, daß damals die Taufe durch Untertauchen gespendet wurde. Der ganze Mensch wurde ins Wasser getaucht, untergetaucht und kam dann natürlich wieder aus dem Wasser hervor. Diese Zeremonie nimmt Paulus zum Anlaß, uns zu erklären, was in der Taufe geschieht. Wir werden durch das Untertauchen mit Christus gekreuzigt; wir sterben den Tod mit Christus. Der alte Mensch, der Mensch der Sünde, der Mensch ohne Christus ist erledigt durch das Untertauchen, und durch das Auftauchen nehmen wir teil an seiner Auferstehung. Die Kräfte der Auferstehung gehen durch das Taufgeschehen auf uns über. Das Schicksal Christi verbreitet sich auf uns. Wir werden teilhaft seines ruhmreichen Todes und seiner glorreichen Auferstehung. Durch das, was an Christus geschehen ist, werden auch wir geheiligt, erlöst, gerettet. Gewiß steht bei uns die Auferstehung noch aus, aber die Kräfte, die zu dieser Auferstehung führen, sind in uns, und sie werden, wenn es an der Zeit ist, hervorbrechen und das an uns bewirken, was an Jesus schon offensichtlich geschehen ist.

Schließlich kommt auch noch die Wendung in diesem Zusammenhang vor: Mit Christus. Etwa im Epheserbrief: „Gott, der reich ist an Erbarmen, hat in seiner übergroßen Liebe, mit der er uns geliebt, uns, die wir im Sündentod waren, lebendig gemacht mit Christus.“ Er hat uns lebendig gemacht mit Christus. „Er hat uns mitauferweckt und mitversetzt in den Himmel in Christus Jesus.“ Hier greift Paulus natürlich der Zukunft vor, wenn er sagt: mitauferweckt und mitversetzt in den Himmel. Das ist das, was wir erwarten. Aber es ist eine Erwartung, die uns in der Hoffnung mit Gewißheit geschenkt ist, und deswegen kann er schon im Perfekt sprechen: „Er hat uns mitauferweckt und mitversetzt in den Himmel in Christus Jesus.“

Sie sehen an diesen Wendungen, meine lieben Freunde, welche ungeheure Bedeutung diese Formeln bei Paulus haben. Um noch eine allerletzte zu erwähnen aus dem 2. Korintherbrief: „Wer in Christus ist, ist ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ Schöner kann man, glaube ich, nicht sprechen. Der alte Mensch vor Christus, ohne Christus ist gestorben; der neue Mensch in Christus und mit Christus ist geboren worden. Wer in Christus ist, ist ein neues Geschöpf. Es ist gewissermaßen eine Neuschöpfung, eine Wiedergeburt erfolgt. So spricht ja auch der Apostel Johannes davon, daß man wiedergeboren wird durch die Taufe und den Glauben an Christus.

Eine dritte Weise, wie Paulus von dem Zusammenhang zwischen Christus und den Christen spricht, ist die Wendung: Christus ist das Haupt seines Leibes. So heißt es im Kolosserbrief 1.18: „Christus ist das Haupt seines Leibes.“ Das ist natürlich wieder ein Bild. So wie im menschlichen Leibe das Haupt das Zentrum der Intelligenz und des Wollens des Menschen ist, wie die Sinne im Haupt vereinigt sind, so ähnlich-unähnlich ist Christus das Haupt seiner Kirche. Das heißt: Die Leitung, die Führung, die Lenkung, die Kraft geht von Christus aus. Wenn er das Haupt des Leibes ist, dann ist alles, was im Leibe ist, seiner Kraft unterworfen, wird von ihm gelenkt und wird von ihm geführt. Wir haben, als wir von der Kirche sprachen, ausführlich über diesen Zusammenhang geredet, so daß wir uns heute bei diesen wenigen Andeutungen bescheiden können. Christus ist das Haupt des Leibes, d. h. er lenkt den Leib mit seiner Kraft, er führt ihn zu seinem Ziel.

Eine vierte Gruppe von Aussagen endlich, in denen unsere Beziehung zu Christus beschrieben wird, geht davon aus, daß wir Christus angezogen haben. „Ihr seid alle Kinder Gottes durch den Glauben an Christus Jesus. Ihr alle, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. Jetzt gilt nicht mehr Jude und Grieche, Sklave und Freier, Mann und Weib – ihr alle seid ja einer in Christus Jesus.“ Ihr habt Christus angezogen, das ist die entscheidende Wendung. Wie kommt Paulus zu einer solchen Aussage? Christus wird gewissermaßen als ein Kleid vorgestellt, als ein Kleid, das uns übergestülpt wurde. Und da geht er wieder auf die Taufe zurück. Das Taufwasser umhüllt ja den Menschen. Wenn der Mensch untergetaucht wird bei der Taufe, dann umfängt ihn von allen Seiten, von oben und unten das Taufwasser, und dieses Wasser ist gewissermaßen ein Gewand, ja, es ist das Gewand Christi. Das Taufwasser wird zu einem Bild für Christus. Wer getauft ist, hat Christus angezogen, d. h. ist mit ihm verbunden, ist mit ihm eins geworden; er hat Christus in sich aufgenommen.

Ich gebe zu, meine lieben Freunde, daß diese Aussagen nicht leicht zu begreifen sind. Dazu studiert man ja Theologie 5-6 Jahre, damit man sie versteht und anderen erklären kann. Aber eines ist sicher: Paulus spricht nicht nur in Bildern. Was er hier aussagt, das sind Wirklichkeitsaussagen. Das sind nicht nur irgendwelche Symbole für hinter aller Erkenntnis liegende Wahrheiten, sondern hier wird Wirklichkeit ausgesagt, die durch das Geschehen in Glaube und Taufe an uns geschehen ist. Christus ist durch Glaube und Taufe unser Herr geworden, aber ein Herr, der nicht von außen gebietet, sondern ein Herr, der von innen unsere Lebenskraft, unser Existenzgrund geworden ist. Christus lebt in uns wirklich und wahrhaftig durch seinen Heiligen Geist. Die ungeschaffene Gnade, also der Heilige Geist, lebt in uns. Und weil es derselbe Geist ist, der in Christus und in den Christen lebt, deswegen gehören Christus und die Christen zusammen; deswegen sind sie gewissermaßen einer geworden. „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir.“ Die Gegenwart des Heiligen Geistes ist eine wirkliche Gegenwart und eine wirksame Gegenwart. Wer im Geiste lebt, der soll auch im Geiste wandeln. Das Leben im Geiste ist uns aufgetragen jeden Tag.

Die Wirklichkeit der Verbindung mit Jesus wird hervorgebracht durch die Taufe und durch den Glauben. Die Heilige Schrift trennt nicht den Anteil, der jeweils dem Glauben oder der Taufe zukommt, sondern sie spricht so, daß einmal die Gemeinschaft mit Christus nur durch die Taufe, das andere Mal nur durch den Glauben hervorgebracht wird. Wenn wir beides versöhnen wollen – und das müssen wir, denn die Schrift widerspricht sich nicht –, wenn wir beides versöhnen wollen, müssen wir sagen: Wir ergreifen im Glauben den Christus, der im Sakrament gegenwärtig und wirksam ist. Die beiden Sakramente, die hier an erster Stelle zu erwähnen sind, sind Taufe und Eucharistie. Durch die Taufe wird der Mensch eucharistiefähig; durch die Eucharistie wird die Christusgemeinschaft, die in der Taufe begründet ist, gefestigt. In der Taufe ziehen wir Christus an, in der Eucharistie nehmen wir Christus auf, wirklich, wahrhaft und wesentlich.

Wenn es so ist, daß Christus in uns lebt und daß wir in Christus leben, daß Christus unser Existenzgrund und unser Wirkgrund geworden ist, dann verstehen wir, wenn Paulus im Philipperbrief schreibt: „Ihn möchte ich erkennen, die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seines Leidens. Und ihm möchte ich im Tode ähnlich werden, um so zur Auferstehung von den Toten zu gelangen.“ Das wollen wir ihm nachsprechen, meine lieben Freunde. Das wollen wir uns zu eigen machen: Ihn möchte ich erkennen, die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinem Leiden.

Amen.

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