Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. Juni 1996

Der geschichtliche Opferbegriff

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das zentrale Geheimnis und der größte Schatz unseres Glaubens ist das eucharistische Opfersakrament. Man hat im Laufe der zweitausend Jahre der Kirchengeschichte diesem Geheimnis mannigfache Namen gegeben. Wir sprechen von der heiligen Messe, von der Eucharistiefeier, vom Meßopfer. Die zutreffendste Bezeichnung ist zweifellos jene, die das eucharistische Geheimnis zusammenfaßt in dem Wort „eucharistisches Opfersakrament“. Daß die heilige Messe ein Opfer ist, ist der Kirche immer bewußt gewesen. Wir finden schon in der ersten bekannten außerkanonischen Schrift, der Didache, aus dem Ende des 1. Jahrhunderts den Opfergedanken ausgesprochen. Aber es hat auch immer wieder Zeiten gegeben, in denen man den Opfercharakter des Meßopfers zu verschleiern oder zu eliminieren versuchte. Wir wollen uns heute und an den kommenden Sonntagen über das Meßopfer Gedanken machen. Wir müssen dabei einsetzen am heutigen Sonntag mit dem Begriff des Opfers.

Das deutsche Wort Opfer kann eine zweifache lateinische Wurzel haben. Es kann von offerre (opfern, darbieten) kommen, oder von operare (wirken). Wie immer die sprachliche Herleitung zu erklären ist, eines ist sicher: Opfern bedeutet, aus Liebe oder Anhänglichkeit etwas Wertvolles einem anderen darbieten, etwas Wertvolles um eines anderen willen preisgeben. Wir sagen, ein Elternpaar hat sich für die Kinder „geopfert“, wenn es in Kargheit und Armut gelebt hat, um den Kindern eine gute Ausbildung, ein Studium zu sichern. Wir sagen, ein Soldat, der ins Feld zieht, um das Vaterland zu verteidigen, und der seine Gesundheit und sein Leben aufs Spiel setzt, er „opfert“ sein Leben für das Vaterland. In einem besonderen Sinne freilich wird das Wort opfern auf unsere Beziehung zu Gott angewendet. Die Witwe, die der Herr am Tempeleingang beobachtete, hat ihr ganzes Vermögen, nämlich zwei Heller, zwei Pfennige in den Tempelkasten geworfen als Opfer für Gott. Oder Tobias, der Verbannte in Babylonien, setzte sein Leben aufs Spiel um Gottes willen, als er seine erschlagenen Brüder im Hause barg und des Nachts beerdigte. Also das ist das Entscheidende beim Opfern: Etwas Wertvolles aus Anhänglichkeit oder Liebe darbieten und preisgeben.

Besonders deutlich wurde die Hingabe beim Opfer, indem man den Opfergegenstand zerstörte. Warum ist das besonders deutlich? Weil man durch die Zerstörung der Opfergabe darauf verzichtete, sie jemals wieder zurückzunehmen. Was zerstört ist, das ist erledigt; und wer seine Opfergabe verbrannte, der hatte damit zu verstehen gegeben: Ich verzichte auf alle Besitzansprüche daran, ich verzichte auch auf die Chance, sie wieder an mich zu nehmen. Opfer im religiösen Sinne ist also die freiwillige Hingabe einer wertvollen Gabe, um Gott als den höchsten Herrn zu ehren. Opfer werden nur Gott dargebracht; denn Opfer sind die unüberbietbare Weise, wie man eine Verehrung vollziehen kann. Schon auf Erden suchen wir ja Menschen, die wir ehren wollen, durch Geschenke zu erfreuen; wir huldigen ihnen mit Geschenken. Um wieviel mehr ist diese Weise der Huldigung Gott angebracht!

Es gibt blutige und unblutige Opfer. Blutige Opfer sind jene, bei denen Blut fließt. Die Menschen und Völker haben Rinder, Schafe, Ziegen, Tauben geopfert, diese wurden am Altare getötet, ihr Blut wurde ausgeschüttet und auf diese Weise die Opfergeste deutlich gemacht. Unblutige Opfer waren entweder Speise oder Trank. Speiseopfer waren Getreide, Kuchen, Trankopfer waren gewöhnlich Weingaben, die man vor dem Altare ausschüttete.  In all diesen Fällen wurden die Opfergaben zerstört. Sie wurden in der Absicht zerstört, um allen Besitzrechten zu entsagen. Teilweise wurden die Opfergaben den Menschen nach der Opferung überantwortet. Man reichte Speiseopfer und Trankopfer Kranken; auch die Priester durften sich davon nehmen. Das ist keine Rückgängigmachung des Opfers, sondern nachdem die Opferung erfolgt ist, also das Opfer Gott dargebracht ist, überläßt Gott in seiner gnädigen Gesinnung, da er ja auf keine Gabe angewiesen ist, denen, die ihm dienen, einen Teil davon, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber noch einmal: Die Speise und der Trank, die Priester oder Arme genossen haben, sind durch die Opferung hindurchgegangen.

Die Opfer geschehen, um Gott zu loben, ihm zu danken, ihn zu bitten und die Vergebung der Sünden zu erwirken. Also Lob, Dank, Vertrauen, Schuldbewußtsein, das sind die Wurzeln des Opfers. Das Opfer ist also eigentlich nur die Sichtbarmachung einer inneren Haltung. Ohne die innere Haltung wäre ein Opfer eine Heuchelei. Die Opfer sollen ausdrücken, was im Menschen lebt, nämlich die Gesinnung des Lobes, des Dankes, des Vertrauens und der Reue. Dieser Zusammenklang von Äußerem und Innerem macht die Opfer so wertvoll. Der Mensch ist nun einmal so veranlagt, daß er das, was im Inneren lebt, nach außen kundgeben muß. Und die Opfer sind eine Kundgabe der Gesinnungen des Lobes, des Dankes, des Vertrauens und der Reue.

Opfer, meine lieben Christen, hat es vom Anfang der Menschheit gegeben. Wir wissen, daß Kain und Abel Opfer dargebracht haben. Im jüdischen Volke war das Opferwesen besonders ausgebildet. Es wurden im Tempel zu Jerusalem Früh- und Spätopfer, Morgen- und Abendopfer dargebracht, Rauchopfer, Speiseopfer, auch blutige Opfer, jeden Tag ein einjähriges, fehlerloses Lamm; am Sabbat wurden zwei fehlerlose Lämmer zusätzlich zu dem einen geopfert. Dadurch sollte Jahwe, Gott, als der Herr des Volkes anerkannt werden. Es sollte sein Zorn über das sündige Volk gestillt werden. Es sollte das Heil des Volkes sichergestellt werden. Auch die Heiden haben reichen Opferdienst betrieben. Freilich, sagt der Apostel Paulus, was sie opfern, das opfern sie den Dämonen und nicht dem wahren Gott, denn sie kannten den wahren Gott nicht. Was sie opfern, das opfern sie den Dämonen. Und sie haben sich wahrlich Mühe gegeben, Opfer zu bringen, nicht nur wie die Israeliten Speise- und Trankopfer, sowie Tiere, sondern sie haben Menschenopfer gebracht. Schon vom König der Moabiter wird berichtet, daß er, als die Israeliten seine Stadt belagerten, seinen Sohn, seinen erstgeborenen Sohn, auf den Mauern der Stadt schlachtete, um auf diese Weise Rettung zu finden. Die Phönizier verehrten den stierköpfigen Gott Moloch. Ihm hatte man ein Standbild aus Erz errichtet. Dieses Standbild aus Erz wurde glühend gemacht, und in dieses glühend gemachte Standbild warf man kleine Kinder hinein als Opfer für diesen schrecklichen Gott Moloch. Auch andere Völker haben Menschenopfer dargebracht, vor allem die Amerikaner. Es ist kein Idyll gewesen, meine lieben Christen, als die Spanier nach Amerika eindrangen, sondern bei den Azteken und Mayas, auch bei den Inkas waren Opfer von Menschen gang und gäbe. Man rechnet damit, daß jährlich zwanzigtausend Menschopfer dargebracht wurden. Auch bei den Germanen gab es Menschenopfer. Unsere Vorfahren haben nach dem Zeugnis des Tacitus Menschenopfer, vor allem Kriegsgefangene und Frauen, dargebracht. Die Semnonen und die Anhänger der Göttin Nerthus haben Menschenopfer dargebracht.

Das alles sind zweifellos schreckliche Verirrungen. Aber man kann sie verstehen. Die Menschen waren – anders als heute – vom Bewußtsein ihrer Schuld erfüllt. Sie wollten von der Schuld, die sie als drückende Last empfanden, frei werden. Sie wollten Gott gnädig stimmen; und so haben sie eben das Kostbarste und Wertvollste, das es auf Erden gibt, genommen und es ihren Göttern geopfert, oft auf grausame Weise. Bei den Amerikanern vollzog sich die Opferung so, daß dem Menschen, der geopfert werden sollte, die Brust aufgeschnitten wurde. Man riß das Herz heraus und drückte es auf den Lippen des Götzen aus. Auch Könige sind der Opferung nicht entgangen. Wenn man spürte, daß der Götze dem Volk zürnte, dann war man überzeugt, daß der König daran die Schuld trug; und so hat man zum sakralen Königsmord gegriffen. Man war der Meinung, daß seine Kraft sich verbraucht habe und daß er deswegen den Opfertod sterben müsse.

Gewiß, das sind Verirrungen gewesen, die wir verabscheuen und über deren Abschaffung wir glücklich sind. Aber es sind Verirrungen, die etwas von der Sehnsucht der Menschen verraten, von Schuld und Sünde frei zu werden. Die heidnischen Opfer offenbaren ein machtvolles Verlangen nach Freiheit von Schuld, nach Lösung von der Sünde.

Die jüdischen Opfer waren eine Vorbereitung auf das Opfer des Neuen Bundes, waren „vorbildliche“ Opfer. Vor allem die Opfer am Versöhnungstag und am Pascha. Am Versöhnungstage geschah folgendes: Der Hohepriester ließ sich einen Ziegenbock vorführen, legte seine Hände auf das Haupt des Ziegenbockes und übertrug so sinnbildlich die Sünden des Volkes auf das Tier. Dann wurde der Ziegenbock – der Sündenbock! – hinausgetrieben in die Wüste, wo er zugrundeging. So hoffte man, Vergebung der Sünden zu gewinnen. Und ähnlich war es am Pascha. Das Paschalamm wurde zum ersten Mal geschlachtet und geopfert in Ägypten, als der Würgengel vorüberging und die Häuser der Israeliten verschonte, an denen das Blut des Lammes zu sehen war. Das Blut des Lammes schützte sie, aber – wie Augustinus richtig sagt – nicht, weil es das Blut eines Tieres war, sondern weil es das Blut des Heilandes abbildete, weil es ein Vorbild, ein Vorentwurf jenes Opfers war, das allein die Sünden von den Menschen nehmen konnte. Und so hat denn der Brief an die Hebräer diese Wahrheit in eindrucksvolle Worte gefaßt. „Ohne Blutvergießen kommt keine Vergebung zustande.“ So war die Überzeugung im Alten Bunde. Und als alljährliche Erinnerung an die Sünden wurden Opfer von Stieren und Böcken dargebracht, aber sie waren unkräftig. Unmöglich nimmt Blut von Stieren und Böcken Sünden hinweg. Und weil diese Opfer unkräftig waren, deswegen mußte ein kräftigeres, ein einzig kräftiges Opfer herbeigebracht werden. „Darum spricht er (und wir wissen, wer damit gemeint ist) bei seinem Eintritt in die Welt: 'Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gewollt, aber einen Leib hast du mir bereitet. An Brand- und Sühneopfern hast du kein Wohlgefallen.' Da sprach ich (und wir wissen, wer „ich“ ist): 'Siehe, ich komme, o Gott, deinen Willen zu vollziehen.'“ Zuerst sagt er: „Schlacht- und Speiseopfer, Brand- und Sühneopfer hast du nicht gewollt und kein Wohlgefallen daran gefunden. Und doch sind dies gesetzliche, vom Gesetz vorgeschriebene Opfer. Dann aber sagt er weiter: „Siehe, ich komme, um deinen Willen zu vollziehen.“ Er hebt also das erste auf, um das zweite zu begründen.“

Amen.

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