Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. Januar 1992

Am Anfang war das Wort

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am Ende einer jeden heiligen Messe beten wir das sogenannte Schlußevangelium. Noch einmal geht der Priester auf die Evangelienseite, schlägt das Buch auf und betet den Anfang des Johannesevangeliums. Wir haben dieses Evangelium im Ohr und im Herzen. „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Die Bezeichnung „Wort“ ist nicht auf die Silben gemünzt, die aus unserem Munde kommen, sondern das Wort, von dem hier die Rede ist, ist unser Herr und Heiland Jesus Christus. Trotzdem bleibt es merkwürdig, fast befremdlich, daß man unseren Heiland als das Wort bezeichnet. Wie kommt es zu dieser Bezeichnung? Man muß, um sie zu verstehen, auf den griechischen Text, in dem ja das Neue Testament geschrieben ist, zurückgehen. Der griechische Ausdruck für das deutsche „Wort“ lautet logos. Es heißt also im griechischen Neuen Testament, das ich hier vor mir habe: „Am Anfang war der logos – en archä än ho logos, und der Logos war bei Gott – kai ho logos än pros theon – Und Gott war der Logos – kai theos än ho logos. Diese Bezeichnung logos hat der Evangelist Johannes nicht geschaffen; er hat sie vorgefunden und übernommen.

Das griechische Volk und das Diasporajudentum, also die Juden in Ägypten, in Kleinasien und anderswo, waren mit dem Worte und mit der Sache des Logos vertraut. Wenn der Grieche logos hörte, dann dachte er an Heraklit. Der Philosoph Heraklit hat den Logos als ein Zwischenwesen zwischen Gott und der Welt gedacht. Der Logos ist die feurige Urvernunft, die die Welt leitet und ordnet. Und die Juden dachten, wenn sie das Wort logos hörten, an Philo von Alexandrien, einen jüdischen Philosophen. Für ihn war logos das Mittelwesen zwischen dem absoluten, weltüberlegenen Gott und der Schöpfung. In diesem Mittelwesen sind die Ideen, nach denen die Welt geschaffen ist, enthalten. Also das Wort Logos, die Bezeichnung Logos, hat Johannes nicht geschaffen. Er hat sie übernommen aus seiner Umwelt, aber er hat sie umgeprägt. Und das ist es, was wir festhalten und gegen Fälschungen verirrter Theologen bekennen müssen. Er hat nicht eine religionsgeschichtliche Vorstellung einfach sich angeeignet; er hat den Begriff genommen, aber ihn mit einem neuen Inhalt gefüllt. Er hat die Hülse ergriffen, aber was er in sie hineingießt, das ist es, was total und radikal anders ist. Von diesem Logos werden vier Aussagen gemacht, die wir uns in Kürze vor Augen führen wollen.

Die erste lautet: „Im Anfang war der Logos.“ Was ist das für ein Anfang? Damit ist gemeint der Uranfang, die Ewigkeit Gottes. Im Anfang, bevor etwas geschaffen wurde, war der Logos. Der Logos ist also nicht der Ersterschaffene, sondern er ist derjenige, der vor der Schöpfung existierte, er ist präexistent. Er hat vor aller Zeit und vor aller Schöpfung gelebt. Im Anfang war der Logos.

Die zweite Aussage lautet: „Der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos.“ Der Logos, von dem hier die Rede ist, ist Gott zugewandt. Er hat seine Heimat in der Nähe Gottes, ja in Gott. Nicht bloß das. Diese Aussage wird noch überboten: Er war selber Gott. Er war nicht bloß bei Gott, womit seine Selbständigkeit gegenüber Gott angegeben wird, sondern er war selber Gott. Der Logos war Gott.

Die dritte Aussage lautet: „Alles ist durch ihn geworden, und ohne ihn ist nichts geworden von dem, was geworden ist. In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen; und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen.“ Der Logos ist der Schöpfungsträger. Alles ist durch den Logos geworden. Er ist nicht ohnmächtig, sondern allmächtig. Er hat die Welt geschaffen. Nichts ist ohne ihn geworden. Ohne Ausnahme stammt alles von ihm. Und dieser Logos ist Leben und Licht. Leben nicht in dem Sinne, daß er überhaupt lebendig ist, sondern daß er ewiges Leben, göttliches Leben in sich trägt. Und Licht, das bedeutet Heil, Fülle, Freude, Glück, Geborgenheit. In dem Logos ist nicht nur Licht, sondern das Licht ist auch Heil, Freude, Glück, Segen. Dieses Licht leuchtet in der Finsternis. Die Finsternis, sind die in der Gottferne verdunkelten Menschen. Finsternis, das ist die Gottesferne. Aber in diese Gottesferne leuchtet der Logos hinein, und er soll offenbar die Finsternis erhellen. Aber wie wir sehen, ist sein Scheinen, ist sein Erleuchten nicht erwünscht. Die Finsternis hat ihn nicht begriffen! Sie will von ihm nichts wissen, von dem Logos. Sie will das Licht nicht aufnehmen, sondern sie flieht vor dem Licht, die Finsternis.

Und da macht Gott einen anderen Versuch, einen neuen Ansatz. Er schickt einen Mann aus, der Zeugnis geben soll vom Licht. „Es trat ein Mann auf, abgesandt von Gott, sein Name war Johannes (natürlich Johannes der Täufer). Dieser kam zum Zeugnis, damit er Zeugnis ablege über das Licht, damit alle glaubten durch ihn. Jener war nicht das Licht, sondern daß er Zeugnis ablegte von dem Licht. Es war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht worden, und die Welt hat ihn nicht erkannt. Er kam in das Eigene, und die Eigenen nahmen ihn nicht auf. Welche ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“ Johannes der Täufer sollte und wollte dem Licht den Weg bahnen. Er war nicht das Licht, das wird hervorgehoben. Warum? Weil es zu der Zeit, in der Johannes sein Evangelium schrieb,  noch Täufergemeinden gab. Es gab Anhänger Johannes' des Täufers, die sich nicht zu Jesus bekehrt hatten, sondern die eigene Gemeinden bildeten und Johannes für den Messias hielten. Deswegen sagt der Evangelist: Er war nicht das Licht. Johannes der Täufer hat eine große Bedeutung. Er war von Gott gesandt, er war ein Prophet, aber er war nicht das Licht. Er sollte nur Zeugnis bringen von dem Licht. Also Johannes, der Evangelist, wendet sich gegen die Täufergemeinden, die nicht zu Jesus finden wollten, und setzt sich für den Täufer, für den richtig verstandenen Täufer ein als den Zeugen des Lichts.

Und von diesem Licht macht er jetzt kostbare Aussagen. Es war das wahre Licht, nicht ein Irrlicht. Es war ein universales Licht, d.h. es ist für jeden Menschen bestimmt, es erleuchtet jeden Menschen. Also nicht ein partikulares Licht, nicht eine partikulare Erlösungsfigur, sondern ein universales Licht, ein Erlöser für die ganze Welt und für alle Menschen. Es erleuchtet jeden Menschen, der in die Welt kommt. Aber das ist die Tragik dieser Erleuchtung: Sie geschieht nur der Möglichkeit und der Absicht nach, aber nicht dem Erfolg nach. Erschütternd, zu lesen: Er kam in den Kosmos, in die Welt, und der Kosmos ist durch ihn geworden, verdankt ihm also seine Existenz, aber der Kosmos hat ihn nicht erkannt. Er kam in sein Eigentum, und die Seinigen nahmen ihn nicht auf. Das ist die große Tragik des Logos, daß seine Sendung von vielen nicht angenommen wird. Selbst die, die ihm nahestehen, die ihm durch Erwählung zugehören, die Eigenen – idioi – nahmen ihn nicht auf. Nur bei einigen hat er Erfolg. Es ist also nicht alles verloren, der Logos stößt nicht überall auf Ablehnung, sondern es gibt auch solche, die ihn aufnehmen. Das sind die, die an seinen Namen glauben. Wenn man an Jesus glaubt, an den Namen Jesu glaubt, dann nimmt man ihn auf. Der Name Jesus ist eine Bezeichnung für sein Wesen und seine Bedeutung. Der Name Jesus, wie wir ja heute, am Feste des Namens Jesu, uns erinnern, ist der Inbegriff des Heiles. Und wer an den Namen Jesus glaubt, dem gibt Gott die Macht, ein Kind Gottes zu werden. Man ist also nicht schon ein Kind Gottes dadurch, daß man fleischlich geboren wird, sondern man wird ein Kind Gottes, indem man an den Namen Jesu glaubt. Kinder Gottes sind wir aus Gnade, nicht von Natur! Deswegen die Häufung von drei Ausdrücken: Die nicht aus dem Blute, nicht aus dem Verlangen des Fleisches, nicht aus dem Wollen des Mannes geboren sind. Das wird abgelehnt, diese naturhafte Kindschaft, sondern die Kindschaft, um die es hier geht, die erwirbt man nur durch den Glauben. Und denen, die an ihn glaubten, gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden.

Und schließlich die vierte und letzte Aussage: „Und der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet. Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des Einziggeborenen vom Vater, voll der Gnade und Wahrheit.“ Der Logos ist Fleisch geworden. Das ist natürlich das Weihnachtsgeheimnis. Deswegen wird dieser Text des Evangeliums in der dritten Weihnachtsmesse vorgelesen. Der Logos ist Fleisch geworden. Warum sagt der Evangelist nicht: Er ist ein Mensch geworden, sondern: Er ist Fleisch geworden? Er sagt deswegen, er ist Fleisch geworden, um die Hinfälligkeit des auf Erden erschienen Logos zu kennzeichnen, um die Schwäche, die Nichtigkeit der menschlichen Natur, die er angenommen hat, zu bezeichnen. Das ist eben der ungeheure Gegensatz zwischen dem Weltschöpfer, dem Logos, der jetzt in die Armseligkeit und Schwäche der menschlichen Natur hinabsteigt. Deswegen sagt er, er ist Fleisch geworden. Fleisch ist ein Ausdruck für die Schwäche des Menschen. „Und hat unter uns gezeltet“. Es heißt nicht „gewohnt“. Er hat gezeltet. Warum gebraucht er den Ausdruck: Er hat „gezeltet“? Aus zwei Gründen. Einmal, weil das Zelt keine dauernde Wohnung ist. Der Logos weilte nur vorübergehend auf der Erde. Er ist, nachdem er sein Werk vollbracht hatte, aus dieser Zeltwohnung wieder abgereist. Und zum anderen, weil das Zelt ein Sinnbild für die Gegenwart Gottes ist. In einem Zelte haben die Juden während der Wanderung die Gegenwart Gottes verehrt. Und wenn jetzt der Logos unter uns zeltet, dann ist er eben die Gegenwart Gottes. In ihm finden wir Gott. Nicht mehr im Tempel, dem Heiligtum der Juden, sondern in der Person Jesu Christi, da ist Gott anwesend.

Und von diesem Logos haben wir seine Herrlichkeit gesehen. Was heißt Herrlichkeit, das griechische Wort doxa? Herrlichkeit bedeutet die unverhüllte Majestät, der Lichtglanz Gottes. Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit, die er von seinem Vater nur haben kann, weil er der einziggeborene – eingeboren ist gleich einziggeboren – Sohn seines Vaters ist, voll der Gnade und Wahrheit. Gnade ist die erlösende Liebesgesinnung Gottes, Wahrheit ist die offenbare Wirklichkeit Gottes. Also die Liebesgesinnung Gottes und die offenbare Wirklichkeit Gottes haben wir gesehen. Der Evangelist Johannes ist ja Augenzeuge. Er hat mit dem Logos gelebt. Er ist mit ihm gewandert. Er hat an seiner Brust geruht beim letzten Abendmahl. Er ist unter dem Kreuz gestanden. „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des Einziggeborenen vom Vater, voll der Wahrheit und Gnade.“

Wenn wir diesen wunderbaren Text, meine lieben Freunde, jeden Tag beten dürfen – ich sage, es ist ein Geschenk, das uns die Kirche macht –, dann hat das selbstverständlich einen Sinn. Wenn die Kirche zum Abschluß der heiligen Messe nochmals ein Evangelium beten läßt, in dem von der ewigen und von der zeitlichen Geburt unseres Heilandes Jesus Christus die Rede ist, vom Logos, dann hat das natürlich eine Bedeutung in bezug auf das Geschehen, das wir gerade vollzogen haben. Weil wir nämlich die heilige Messe gefeiert haben, weil da der Sohn des ewigen Vaters vom Himmel herniedergestiegen ist auf unseren Altar, deswegen wird die doppelte Geburt Jesu noch einmal ausgesagt, die Geburt aus Gott vor aller Zeit und die Geburt aus Maria in der Zeit. Eben das hat sich in einer analogen Weise auf dem Altar vollzogen. Wir gehen vom Altar als diejenigen, die die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater gesehen haben, gesehen haben mit den Augen des Glaubens, voll der Wahrheit und Gnade.

Amen.

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