Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Januar 1991

Das Kreuz willig tragen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In der Samstagnummer der Mainzer Zeitung war berichtet von einer in Gonsenheim ansässigen Kartenlegerin. Ihre Termine sind ausgebucht. Die Menschen geben sich die Klinke in die Hand, um die Kartenlegerin zu befragen über ihre Zukunft. Die Menschen, viele Menschen wollen von einem Menschen wissen, wie die Zukunft aussieht. Diese „Künste“, die wir Gläubige als Aberglaube einstufen, mögen Zufallstreffer erzielen. Schließlich kann man aus der äußeren Erscheinung eines Menschen, aus der Weise, wie er sich gibt, wie er spricht, aber auch aus seinen Körpermerkmalen, einiges erkennen. Manchen sieht man ja die Krankheit an oder das wüste Leben. Man kann auch aus der Hand eines Menschen etwas herauslesen, denn der Charakter und die Seele drücken sich eben auch im Körperlichen aus. Aber Gott hat es in seiner Weisheit so angeordnet, daß die Zukunft ein verschlossenes Land für uns ist. Auch das neue Jahr ist für uns ein versiegeltes Buch, das allmählich von Gott geöffnet werden wird.

Dennoch sind wir nicht im Zweifel, was das neue Jahr bringen wird. Eines bringt es mit Sicherheit, nämlich das Kreuz. Es ist wohl niemand unter uns, der sich nicht gewappnet zeigen müßte, daß auch das kommende Jahr ein Kreuz, vielleicht ein schweres Kreuz für ihn bereithält. Niemand hat über das Kreuz, also über das von Gott verordnete Leid, besser geschrieben als der Verfasser der Nachfolge Christi, wahrscheinlich Thomas von Kempen, möglicherweise auch ein anderer. Es werden ja sieben verschiedene Verfasser genannt. Wir wissen es nicht, wer dieses Büchlein von der Nachfolge Christi verfaßt hat. Aber in diesem über 500 Jahre alten Büchlein ist die Lehre über das Kreuz in unübertrefflicher Weise wiedergegeben. Der Verfasser der Nachfolge Christi lehrt uns erstens: Das Kreuz ist für die Menschen gewöhnlich eine Last, deswegen klagt er. Dann zweitens: Das Kreuz gibt den Menschen eine Lehre, deswegen belehrt er uns. Und schließlich: Das Kreuz ist auch ein Trost, und deswegen will er uns trösten mit dem Kreuz. Also das Kreuz als Klage, das Kreuz als Lehre und das Kreuz als Trost legt uns Thomas von Kempen, wenn er der Verfasser ist, in diesem Büchlein dar.

Erstens, eine Klage über das Kreuz, und zwar ist das eine Klage, die allgemein angestimmt werden muß. „Jesus hat jetzt viele Jünger, die im himmlischen Reiche gern mit ihm herrschen möchten, aber wenige, die sein Kreuz auf Erden tragen wollen. Viele, die seinen Trost begehren, aber wenige, die in der Trübsal mit ihm aushalten wollen. Viele, die mit ihm essen und trinken möchten, aber wenige, die mit ihm fasten wollen. Alle möchten mit ihm Freude haben, aber wenige wollen für ihn leiden. Viele folgen Jesus nach bis zum Brotbrechen beim Abendmahl, aber wenige bis zum Trinken aus dem Leidenskelch. Viele rühmen die Wunder, die er getan hat, aber wenige teilen mit ihm die Schmach des Kreuzes. Viele lieben Jesus, solange sie nichts zu leiden haben, loben und preisen ihn, solange die Tröstungen von ihm ausgehen, aber wenn er sich verbirgt und sie auch nur eine kurze Weile allein läßt, da klagen sie gleich oder verlieren gar allen Mut.“ Das ist die Klage des Thomas von Kempen über die geringe Zahl der Liebhaber des Kreuzes. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns unter diese wenigen Liebhaber des Kreuzes einreihen. Auch wir lieben das Kreuz nicht oder zu wenig. Auch wir ersehnen Trost von unserem Heiland und keine Trockenheit. Auch wir wollen von ihm gehalten werden und nicht im Meer versinken müssen. Diese Klage ist also nur allzu berechtigt, und sie sollte uns zu Herzen gehen. Sie sollte uns bewegen, an die Brust zu klopfen und voll Reue zu sagen: Ja, Herr, ich habe dein Kreuz zu wenig geliebt. Ich bin nicht in die Schar deiner Kreuzträger eingetreten. Ich habe das Kreuz zu fliehen und abzuschütteln versucht.

Das zweite, was der Verfasser der Nachfolge Christi für uns bereit hält, ist eine Lehre, nämlich die Lehre, daß das Kreuz der königliche Weg zum Himmel ist. „Es ist für viele Ohren ein hartes Wort: 'Verleugne dich selbst, nimm dein Kreuz auf dich und folge Jesus nach!' Aber noch härter in ihren Ohren wird jenes letzte Wort sein, wenn sie es werden hören müssen: 'Weichet von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer!' Denn die jetzt das Wort vom Kreuze gerne hören und willig befolgen, die werden einst von dem Worte der ewigen Verdammung nichts zu fürchten haben. Das Zeichen des Kreuzes wird an dem Himmel glänzen, wenn der Herr wiederkommen wird, die Menschen zu richten. Warum sträubst du dich denn, das Kreuz auf deine Schultern zu nehmen, da doch der Weg des Kreuzes der Weg zum Himmelreich ist? Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Schutz vor den Feinden, im Kreuz ist Eingießung höchster Seligkeit, im Kreuz ist Seelenkraft, im Kreuz ist Geistesfreude, im Kreuz ist höchste Tugend, im Kreuz ist vollendete Heiligung zu finden.“ Man sieht, der Verfasser ringt mit Worten, um die Menschen von der Heilskraft des Kreuzes zu überzeugen. Es ist kein Heil der Seele, keine Hoffnung auf ewiges Leben außer im Kreuze! Es ist also noch niemand in den Himmel gekommen, der nicht Leid auf dieser Erde getragen hat. Und die am schnellsten und am sichersten in den Himmel gekommen sind, das sind jene, die das Leid am meisten umarmt und das Kreuz am bereitwilligsten auf ihre Schultern genommen haben. Es führt kein anderer Weg zur Seligkeit als der Weg des Kreuzes. Unser schlesischer Dichter Angelus Silesius hat das in die wunderbaren Verse gefaßt:

„Christ, flieh doch nicht das Kreuz!

Du mußt gekreuzigt sein.

Du gehst sonst nimmermehr

ins Himmelsreich hinein.“

Und der Herr hat es oft und oft gesagt, daß man sich erst mit ihm freuen kann, wenn man hier mit ihm gelitten hat. Der Apostel Paulus drückt es aus, wenn er sagt: „Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, und ihm möchte ich im Tode ähnlich werden, um so zur Auferstehung von den Toten zu gelangen.“ Es hängt das wohl mit der Glaubenslage zusammen, in der wir leben. Gott will, daß wir uns im Glauben ihm ausliefern, daß wir ja sagen zu dem Kreuz, das uns oft so unerklärlich erscheint, um dann durch diese Bewährung hindurch in die Freude seines Himmels aufgenommen zu werden.

Eine Klage, eine Lehre und schließlich drittens ein Trost des Kreuzes. Dieser Trost ist etwas ganz Köstliches. Da schreibt der Verfasser der Nachfolge Christi: „Wenn du dein Kreuz willig trägst, so wird dich das Kreuz hinwieder tragen und wird dich zum erwünschten Ziele hingeleiten, wo alles Leiden einmal sein Ende haben wird, was auf dieser Erde ja nicht geschieht.“

Also welchen Trost verheißt er? Wer das Kreuz willig trägt, den trägt das Kreuz. Ist das nicht paradox? Wie kann das Leid einen Menschen tragen? Es will doch getragen und ertragen werden. Wie kann denn das Leid einen Menschen seinerseits tragen? Wenn man darüber nachdenkt, erkennt man, daß dieser Satz sehr wohl wahr ist. Das Kreuz, das Gott auf unsere Schultern legt, kann eine geheime Segenskraft entfalten. Es kann z.B. verhindern, daß ein Mensch übermütig wird. Wer immer gesund ist, wem alles gelingt, wer niemals angefochten ist, wem die Liebe der Menschen zuströmt, wer überall Beifall findet, der wird wahrscheinlich ein sehr oberflächlicher Mensch sein; ein Mensch, der meint, es fliegt ihm alles zu. Und aus seiner Oberflächlichkeit kann er übermütig werden, über die Stränge schlagen. Das Kreuz verhütet diesen Übermut. Das Kreuz erinnert ihn an seine Begrenztheit. Das Kreuz ist wie ein Warnzeichen, das aufgerichtet ist.

Und so ist es auch mit vielen anderen Dingen. Menschen können ein Kreuz sein, Arbeitskollegen, Nachbarn, Familienangehörige, sie können ein Kreuz sein, ein schweres Kreuz. Aber wer dieses Kreuz auf sich nimmt, in dem blühen die schönsten Tugenden auf; der wird gütig und demütig und selbstlos und selbstvergessen. Ein solcher Mensch, der einen anderen auf seine Schultern nimmt, der wird ein Heiliger. Vor einigen Jahren war einmal ein Priester in Südtirol. Da begegnete er einem Mädchen von vielleicht zwölf Jahren, das einen großen dicken Bengel, einen Jungen, auf deM Rücken trug. Da sagte der Priester zu dem Mädchen: „Ja, ist das nicht eine schwere Last?“ „Herr Pfarrer“, sagte das Kind, „das ist keine Last, das ist mein Bruder!“ Keine Last – mein Bruder! Mein Jesus, mein Heiland! Das Kreuz, das mir der Herr auf die Schultern gelegt hat, mein Kreuz! Ein wunderbares Wort. „Trägst du das Kreuz, trägt dich das Kreuz. Und Kreuztragen müssen wir immer. Wenn du dein Kreuz unwillig trägst, so legst du auf dein Kreuz ein zweites Kreuz, machst dir die Bürde noch einmal so schwer und wirst sie am Ende dann doch noch tragen müssen. Wenn du ein Kreuz gewaltsam abschüttelst, so wirst du ohne Zweifel wieder ein anderes finden, und dies andere wird vielleicht schwerer sein als das vorige.“

Ich meine, meine lieben Freunde, das alles sind goldene Worte, Worte, die wir in unserem Leben oft und oft erfahren konnten, die uns aufrütteln können, daß wir den Weg im neuen Jahre so gehen, wie Gott ihn gegangen ist, als Kreuzträger, die sich in die endlose Schar jener einreihen, die dem Heiland das Kreuz nachgetragen haben. Das, meine ich, soll unser Vorsatz am ersten Tage des neuen Jahres sein, daß wir uns bemühen, das Kreuz, das Gott auf unsere Schultern legt, als ein Zeichen seiner Gnade und seiner Liebe zu empfangen; daß wir es nicht abschütteln wollen, sondern daß wir uns bemühen, mit diesem Kreuze auf die Ewigkeit hin zu leben.

Der geistvolle und sicher auch des Heiligen Geistes volle englische Kardinal Newman hat einmal ein wunderbares Gebet verfaßt. In diesem Gebete heißt es: „Führe du mildes Licht im Dunkel, das mich umgibt. Führe du mich hinan! Leite du meinen Fuß, sehe ich auch nicht weiter, wenn ich nur sehe jeden Schritt. Einst war ich weit zu beten, daß du mich führest, selbst wollte ich wählen, setzte mir stolz das eigene Ziel. Aber jetzt laß es vergessen sein. Du hast so lang mich behütet, wirst mich auch weiter führen über sumpfiges Moor, über Ströme und lauernde Klippen, bis vorüber die Nacht, und im Morgenlicht Engel mir winken. Ach, ich habe sie längst geliebt, nur vergessen für kurze Zeit.“

Amen.

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