Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. März 1987

Die Lage der Schöpfung nach dem Sündenfall

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Es geht ein allgemeines Weinen, soweit die stillen Sterne scheinen durch alle Adern der Natur.“ So hat ein Dichter des vorigen Jahrhunderts, Friedrich Schlegel, die Lage der Menschheit und der Erde beschrieben. „Es geht ein allgemeines Weinen, soweit die stillen Sterne scheinen durch alle Adern der Natur.“

Die Ursünde ist kein Ereignis, das auf dieser Erde folgenlos geblieben ist. Adam und Eva waren die ersten und die einzigen Menschen, die damals auf der Erde waren. In ihnen ist das ganze Menschengeschlecht von Gott abgefallen. Was sie für sich in leidvoller Weise heraufbeschworen haben, das haben sie als unheilvolles Erbe dem ganzen Menschengeschlecht hinterlassen. Was Adam getan hat, das tat er als juridisches Haupt des Menschengeschlechtes. Der Verlust der justitia originalis, der ursprünglichen Gerechtigkeit, war ein Ereignis, das nicht nur ihn angeht, sondern das die gesamte Menschheit, deren Stammvater er sein sollte, betraf. Aus der Ursünde ist die Erbsünde geworden.

Die Tatsache der Erbsünde, der Erbschuld, wird uns bezeugt vom heiligen Apostel Paulus im 5. Kapitel des Römerbriefes. Da heißt es in Vers 19: „So wie durch einen alle als Sünder hingestellt wurden, so sind auch alle durch einen gerecht gemacht worden.“ Der eine, der alle als Sünder hingestellt hat, das ist Adam, und der eine, der alle gerecht gemacht hat, ist Christus. Im Römerbrief 5,12-19 ist der Erbtod und die Erbsünde ausgelöscht. Auch wenn wir die Stelle 5,12 so verstehen, wie sie wohl zu verstehen ist: „Ex quo“, deswegen, weil alle gesündigt haben, und nicht „in quo“, wie die Vulgata übersetzt; also auch, wenn wir die Stelle so verstehen, bleibt noch genug Material, um sagen zu können: Die Kirche hat in legitimer Auslegung dessen, was Paulus lehrt, die Lehre von der Erbsünde entfaltet und auf dem Konzil von Trient gegen die Neuerer des 16. Jahrhunderts siegreich verteidigt.

Die Erbsünde besteht im Mangel der ursprünglichen Gerechtigkeit. Das ist ihr Wesen. Jahrhundertelang hat die ernste Theologie damit gerungen, das Wesen der Erbsünde zu erkennen. Es ging darum, ob die Erbsünde außer dem Verlust der heiligmachenden Gnade noch ein anderes Element in sich schließt, nämlich die Konkupiszenz. Aber es ist die mehrheitliche Meinung der besten Theologen, daß die Erbsünde im strengen Sinne beschränkt ist auf den Zustand der Gnadenlosigkeit, daß der Mensch also im Zustand der Sünde – denn Gnade nicht haben, die man haben sollte, ist eben Schuld und Sünde – daß der Mensch im Zustand der Gnadenlosigkeit in die Erde eintritt, das ist das Wesen der Erbsünde.

Freilich ist damit die Wirksamkeit der Erbsünde nicht voll beschrieben, denn außer dem Wesen gibt es Folgen der Erbsünde. Aber die Folgen treten eben nicht so in den inneren Bezirk der Erbsünde ein, daß man sie als ihr Wesen bezeichnen könnte. An diesem Unterschied festzuhalten, ist deswegen so wichtig, weil die Taufe zwar die Erbsünde tilgt, aber, wie wir gleich sehen werden, Folgen trotz der Taufe bestehen bleiben. „Verlust der ursprünglichen Gerechtigkeit,“ so hat schon im 12. Jahrhundert der heilige Anselm von Canterbury die Erbsünde beschrieben, und wir sind eigentlich darüber nicht wesentlich hinausgekommen.

Jeder Mensch, der in der Zeugungsreihe steht, jeder Mensch, der in der Generationenabfolge geboren wird, wird im Zustand der Behaftung mit Schuld, im Zustand der Gnadenlosigkeit, im Zustand der fehlenden Gottesfreundschaft geboren. Durch den leiblichen Zusammenhang mit Adam, der der Stammvater der Menschheit ist, wird die Erbsünde übertragen. Was Adam verloren hat, das hat er für alle seine Nachkommen – Maria die unbefleckt Empfangene ausgenommen – verloren. Auch sie hätte sich die Erbsünde zugezogen, weil auch sie eine Adamstochter ist, wenn sie nicht durch ein besonderes Gnadenprivileg Gottes davor bewahrt worden wäre. Das ist der Unterschied, aber alle anderen – Maria ausgenommen –, die durch Zeugung in dieses Leben treten, ziehen sich die Erbschuld, ziehen sich die Erbsünde zu.

Mit der Erbsünde verbunden sind viele unheilvolle Folgen. Denn Adam hat nicht nur die übernatürliche Gerechtigkeit verloren, er hat auch die außernatürlichen Gaben verloren und ist in seiner Natur verwundet worden. Also: In dem Augenblick, in dem die Freundschaft Gottes Adam entzogen wurde, in dem Augenblick, als er die heiligmachende Gnade verlor, da gingen auch all die herrlichen Gaben, die Gott ihm verliehen hatte, verloren: die Freiheit vom Irrtum, die Freiheit vom Leid, die Freiheit von Begierlichkeit, die Freiheit vom Tode. Alle diese herrlichen Gaben sind in Adam verlorengegangen, und alle diese Verluste trägt die Menschheit, die von Adam abstammt.

Das schmerzlichste Erbe, das psychologisch schmerzlichste Erbe der Erbsünde ist zweifellos die Konkupiszenz. Konkupiszenz ist die ungeordnete Begierlichkeit. Sie ist nicht etwa eingeschränkt auf das Begehren im Hinblick auf das 6. Gebot, sondern sie umfaßt jede ungeordnete Selbst- und Weltliebe im Menschen, natürlich besonders verwüstend im Bereich der Geschlechtlichkeit, aber nicht darauf beschränkt. Die ungerodnete Begierlichkeit ist insofern analog als Sünde zu bezeichnen, weil sie aus der Sünde stammt und zur Sünde reizt. Die ungeordnete Begierlichkeit liegt darin, daß der Mensch kein Einklang mehr ist, daß in ihm keine Harmonie mehr besteht, daß es das Fleisch wider den Geist gelüstet, daß die Triebe den Verstand zu überwältigen versuchen. „Ich spüre ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Geistes widerstreitet,“ schreibt der Apostel Paulus im 7. Kapitel des Römerbriefes. In diesem Kapitel hat er nämlich den Zustand des erbsündlichen Menschen, des mit der Konkupiszenz behafteten Menschen, beschrieben. „Ich tue nicht das, was ich will, das Gute, sondern ich tue das, was ich nicht will, das Böse,“ so schreibt er in diesem Kapitel. „O unglückseliger Mensch!“ Er meint damit die Zerrissenheit des Menschen, die darin besteht, daß der Mensch das Gute erkennt, aber nicht zum Vollbringen des Guten kommt. Er hat Freude am Guten, aber er schließt sich dem Bösen an. Er strebt nach den Sternen, und er wälzt sich im Schlamm. Das ist die Lage des konkupiszenten Menschen.

Weil der Mensch das Schicksal der Erde ist, teilt sie seine Lage. „Es geht ein allgemeines Weinen, so weit die stillen Sterne scheinen, durch alle Adern der Natur.“ Der Kosmos ist vom Menschen in seine Schuld hineingerissen worden. Seitdem die Erbsünde im Menschen ist, seitdem gibt es die Unfruchtbarkeit der Erde, seitdem gibt es Zerstörung, Katastrophen, seitdem widerstehen dem Menschen die Gesetze, seitdem ist die Arbeit des Menschen voll Mühe und voll Schweiß und voller Erfolglosigkeit. Der Mensch hat die Erde in die Erlösungsbedürftigkeit hineingerissen, in die er selbst gelangt ist. „Die Erde seufzt und liegt in Wehen,“ so schreibt der Apostel Paulus im 8. Kapitel des Römerbriefes. Ja, sie seufzt nach Erlösung wie der Mensch! Daß der Regen zu spät kommt, daß der Frost die Blüten zerstört, das gibt eine Ahnung davon, was der Mensch angerichtet hat, als er sich gegen Gott empörte.

Der Verlust der außernatürlichen Gaben, das sind Folgen der Erbsünde. Aber auch im natürlichen Bereich ist der Mensch verwundet – vulneratus in naturalibus. Sein Verstand ist geschwächt. Gewiß, er vermag Gott zu erkennen. Wenn er will, ist es ihm möglich, von der Schöpfung zum Schöpfer aufzusteigen. Aber es ist ihm doch in seinem natürlichen Seinsbewußtsein ein Schaden zugefügt worden; die Leichtigkeit, die Raschheit und die Gewißheit der Erkenntnis scheint ihm zu fehlen.

Das Wissen ist geschwächt. Der Mensch kann auch im gefallenen Zustand grundsätzlich das Gute wollen, er kann sich zum Guten wenden, es ist ihm nicht radikal unmöglich. Es ist nicht so, wie Luther sagt, daß der Mensch noch heute von Gott gerichtet wird, das ist eine der üblichen Übertreibungen dieses Mannes. Nein, der Mensch hat seine Willensfreiheit behalten, aber seine Freiheit ist gefährdet, sein Wille ist geschwächt – vulneratus in naturalibus.

Das sind die traurigen Folgen der Erbsünde. Die größten Geister der Menschheit haben über den Zustand der Erde nachgegrübelt, über Schuld und Sünde, über Gut und Böse. Der große lateinische Dichter Vergil hat das schöne Wort geschrieben: „Die Dinge haben ihre Tränen.“ Darin spricht sich eine Ahnung von dem Fluch, der über der Erde liegt, den der Mensch über die Erde gebracht hat durch seine Sünde, aus.

Das Geheimnis der Erbsünde ist von erschütternder Wucht. Man darf es nicht abschwächen, man darf es erst recht nicht leugnen, denn es ist im Glauben und in der Dogmengeschichte angelegt. Pelagius, der britische Mönch, leugnete im ganzen die Erbsünde, das ist die Irrlehre des Pelagianismus. Auch Zwingli behauptete, die Erbsünde wäre nur ein Gebrechen, also eine Art Krankheit, aber keine Sünde. Nein, man darf sie nicht abschwächen im Gedanken an die Kindlein, die auf die Welt kommen, die ja so liebenswürdig sind, allerdings auch gewöhnlich weinen, wenn sie geboren werden. Diese Kinder sind eben Geschöpfe, denen die Gnade fehlt. Sie bedürfen der Begnadung, sie bedürfen der Freundschaft Gottes. Die wird ihnen normalerweise erst und nur gewährt im Augenblick der Taufe. Deswegen, auch deswegen hat die Kirche immer die Kinder getauft, hat sie auch zur Taufe gedrängt, hat sie auf möglichst frühe Taufe gedrungen. Denn es ist eben von Bedeutung, ob man möglichst früh von der Erbsünde befreit wird oder ob sich der Zustand der Entblößung von der heiligmachenden Gnade länger hinzieht.

Die Kirche weiß, daß die Erbsünde durch die Konkupiszenz, die mit ihr verknüpft ist und die auch nach der Taufe bleibt – die Konkupiszenz bleibt nach der Taufe! –, den Menschn immer wieder geneigt macht für persönliche Sünden und daß diese persönlichen Sünden neue Verwüstungen im Menschen anrichten. Der Mensch wird durch jede Sünde schlechter, er wird durch jede Sünde verderbter. Jede Sünde verwundet ihn in noch unheilvollerer Weise, als es schon durch die Last der Erbsünde getan ist, und so häuft sich das Unheil und schwillt unabsehbar an.

Deswegen, meine lieben Freunde, wollen wir die Lehre von der Erbsünde ernst nehmen. Es gab einmal eine Zeit, in der die Erbsünde erbittert bekämpft wurde. Wir Älteren haben sie erlebt, es war jene Zeit, wo man vom Erbadel sprach und den Erbadel an die Stelle der Erbsünde setzen wollte. O nein, die Menschen mögen reden, was sie wollen, die Erbsünde bleibt eine Wirklichkeit, die Erde bleibt ein Tal der Tränen und die Folgen der Erbsünde sind jeden Tag von jedem Menschen zu spüren. „Mir jedenfalls,“ gesteht der große Mathematiker Pascal, „mir gingen die Augen auf, als ich das Dogma von der Erbsünde erkannte.“

 Wahrhaftig, die Welt kündet von einer gefallenen Menschheit und von einem verlorenen Gott. „Es geht ein allgemeines Weinen, so weit die stillen Sterne scheinen, durch alle Adern der Natur.“

Amen.

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