7. März 1993
Über Jesus Christus als den metaphysischen Gottessohn
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Was die Jünger mit Jesus erfahren haben und was wir von ihm aus der Heiligen Schrift erfassen können, geht über alles hinaus, was Menschenmaß, ja was alle Maße in dieser Welt betrifft. Diese Gestalt ist, wie einmal Lavater gesagt hat, unerfindlich. So erhaben dieses Leben ist, es ist redlich gelebt worden und blieb doch für die Jünger und erst recht für die Volksmassen ein Rätsel. Aber die Schriftsteller des Neuen Testamentes sind davon überzeugt, daß Jesus der wesensgleiche Sohn des himmlischen Vaters ist, daß er der Träger des einen göttlichen Wesens ist, daß es sich bei seinem Gottverhältnis nicht um eine moralische, sondern um eine metaphysische Gottessohnschaft handelt. Diesen Begriff muß ich zu Anfang erklären, damit wir verstehen, worum es geht.
Moralische Gottessohnschaft besteht darin, daß jemand in der Gesinnung sich verhält wie ein Kind Gottes, daß er also Gott vertraut, daß er seinen Willen tut, daß er ihn liebt. Ein solches Verhältnis eines Menschen zu Gott nennt man moralische Gottessohnschaft, weil es im Willen, in der Sittlichkeit seine Grundlage hat. Die metaphysische Gottessohnschaft dagegen ist eine Sohnschaft im Sein. Wer metaphysisch der Sohn Gottes ist, der ist der wirkliche, natürliche, der aus dem Wesen des Vaters stammende Sohn Gottes. Und diese Gottessohnschaft wird von Jesus von Nazareth ausgesagt. Wer von ihm nur eine moralische Gottessohnschaft aussagen würde, der würde Falschmünzerei betreiben, der würde an Jesus vorbeireden und der würde die Zeugnisse der neutestamentlichen Schriftsteller verfälschen.
Das Alte Testament spricht nicht so deutlich wie das Neue. Auch im Alten Testament ist von dem kommenden Erlöser die Rede, und zwar in Ausdrücken, die seine Würde, ja, ich meine, seine göttliche Würde bezeugen. „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, die Herrschaft ruht auf seinen Schultern, Wunder von Ratgeber lautet sein Name, Starker Gott.“ So das Zeugnis aus dem Buche des Propheten Isaias. Oder ein anderes Zeugnis aus dem Buch des Propheten Daniel: „Während ich noch die Nachtgesichte hatte, kam plötzlich einer, der aussah wie ein Menschensohn, von den Wolken des Himmels. Als er bei dem Hochbetagten angelangt war, führte man ihn vor denselben. Ihm ward nun Herrschaft, Ehre und Reich verliehen, ihm müssen alle Völker, Nationen und Rassen dienen, seine Herrschaft wird ewig dauern und nie vergehen, niemals wird sein Reich zerstört werden!“ Dieses Zeugnis des Propheten Daniel spricht von einem Menschensohn, dem Eigenschaften zugeschrieben werden, wie ewige Dauer seiner Herrschaft, die zu einem Menschen nicht passen. Was immer nun das Alte Testament von dem zu erwartenden Erlöser sagt, die Zeitgenossen Jesu erwarteten einen Menschen als Messias, nicht den wahren Gottessohn. Und es war deswegen für sie eine Überraschung, daß Gott die Erlösung in einer anderen Weise vollzog, als sie annahmen.
Das Neue Testament ist sich einig: Der erschienene Erlöser und Messias Jesus Christus ist der eingeborene, d.h. der einziggeborene Sohn Gottes. Wie verschieden auch die Zeugnisse der Evangelien sein mögen, darin kommen sie alle überein. Die Zeugnisse der Schriftsteller des Neuen Testamentes sind verschieden. Der Heilige Geist hat sich ihrer als Werkzeug bedient, und der Heilige Geist achtet die Eigenart der Schriftsteller. Sie wählten also aus, was ihnen von Wort und Werk Jesu bedeutsam erschien, und sie haben ihren je eignenen Sprachschatz und ihre je eigene Ausdrucksweise, mit der sie das, was sie erlebt hatten mit Jesus, wiedergaben. Es gibt daher Unterschiede bestehen zwischen den ersten drei Evangelien, den sogenannten Synoptikern, und dem Johannesevangelium, zwischen Paulus und Jakobus, aber diese Unterschiede werden niemals so groß, daß sie zu einem Widerspruch führen. Jeder der neutestamentlichen Schriftsteller stellt Christus in seiner Weise, die Wirklichkeit zu erfassen, und nach seinem Vermögen dar. Aber sie alle kommen darin überein, daß die Wirklichkeit Jesu Menschenmaß übersteigt.
Die ersten drei Evangelisten schildern Jesus als den geheimnisvollen Menschen, als den erwarteten Messias, als den Davids- und Abrahamssohn, der das Reich Gottes verkündet. Er hat Kranke geheilt, er hat Sünden vergeben, er ist gestorben am Kreuze und auferstanden von den Toten. Paulus schildert Jesus vor allem als die personhafte himmlische Macht- und Lichtgestalt. Für ihn ist Christus der erhöhte Herr, der vom Himmel in sein Leben machtvoll eingreift und es durchwirkt.
Das deutlichste, das am meisten entfaltete Christuszeugnis stammt von Johannes, dem Lieblingsjünger. Er schildert Jesus so, wie er ihn hätte sehen müssen, wenn er schon damals, zur Zeit des irdischen Lebens Jesu, mit der Kraft des Heiligen Geistes ausgerüstet gewesen wäre, wie es seit dem Pfingstfest der Fall war, d.h. er schildert Jesus so, wie er wirklich war, aber wie die Jünger ihn nicht verstanden haben, bevor ihnen der Heilige Geist die Augen für das volle Wesen Jesu geöffnet hat.
Die Wirklichkeit Jesu war, wie die Evangelisten oft betonen, den Jüngern rätselhaft. Als sie seine Predigten hörten, da gerieten die Zuhörer in Staunen und sagten: Ist das nicht der Zimmermann? Woher hat er denn das? Sind nicht seine Schwestern hier bei uns? Und sie wurden irre an ihm. Als er über den See wandelte, da schrien sie auf und gerieten vor Staunen ganz außer sich, denn sie waren noch nicht zu der Einsicht gelangt, weil ihr Herz verhärtet war. Als er den stummen Besessenen heilte, brachen die Massen in den Ruf aus: So etwas haben wir überhaupt noch nicht gesehen!
Es war also ein erschütternder Eindruck, der von Jesus ausging, und die Massen waren aufgewühlt von dem, was sie erlebten. Aber sie stießen zu dem vollen Geheimnis Christi nicht durch. Gerade das ist ein Beweis dafür, daß die Gestalt Jesu von den Evangelisten nicht geschaffen, nicht aus den Sehnsüchten ihres Inneren erzeugt wurde, sondern daß die Gestalt Jesu von ihnen entgegengenommen wurde, daß sie also aufzeichneten, was sie erfahren, was sie erlebt hatten, und nicht, was ihnen Phantasien oder Illusionen oder Wünsche eingaben.
Das sieht man besonders deutlich bei Paulus und Johannes. Wenn es nach Paulus gegangen wäre, nach seiner religiösen Überzeugung, die er als Pharisäer erworben hatte, dann hätte er den Rettergott als einen starken, mächtigen Herrn, der seine Feinde zerschmettert, dargestellt. Er hat aber einen ganz anderen Gott erlebt, und man spürt seinen Briefen an, wie er mit dieser von außen sich aufdrängenden Gotteswirklichkeit ringt, weil in seinem Inneren eine andere Gottesvorstellung sich emporringen möchte. So schreibt er zum Beispiel, er schäme sich des Evangeliums nicht. Diese Wendung ist verräterisch, denn darin zeigt er, daß etwas in ihm ist, was dazu neigt, sich zu schämen. Oder an einer anderen Stelle schreibt er, daß das Kreuz den Juden ein Anstoß und den Heiden ein Spott ist. Man lacht über den gekreuzigten Gott, und Paulus spürt offenbar die Versuchung, in dieses Lachen miteinzustimmen. Er mußte sich wehren gegen die Gottesvorstellung in seinem Inneren, um die Gotteswirklichkeit entgegenzunehmen, die er von außen erfahren hatte. Der gekreuzigte, der zum Tode verurteilte, der hingerichtete Gott, das war für ihn eine Wirklichkeit, die er zeitlebens Mühe hatte, mit seinen traditionellen Vorstellungen zu vereinbaren.
Ähnlich ist es bei Johannes. Johannes war von Natur aus ein Mann mit einer gewaltigen Liebeskraft, aber ohne Güte. Er hatte eine starke Liebe zu den Sachen, aber nicht zu den Menschen. Er war eine unduldsame, eine fanatische Natur. Das sieht man an seinem scharfen Urteil über die Juden und über Judas. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er seine ursprünglich gnostische Auffassung von der Welt und von Gott auch in Jesus Christus eingetragen. Was ist die gnostische Welt- und Gottesauffassung? Nach dem Gnostizismus ist die Welt eingeteilt in Göttliches und Dämonisches, in Licht und Finsternis, in Haß und Liebe, in Männliches und Weibliches, und zwar sind das metaphysische Grundformen der Wirklichkeit. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er den Messias als eine ungestüme, kämpferische Persönlichkeit dargestellt, die die Feinde zu Boden wirft. Aber er mußte eine andere Wirklichkeit erleben, und so ist sein Evangelium entstanden. Er führt uns tiefer als jeder andere in die Wirklichkeit Gottes hinein, er schließt uns das Verständnis Jesu umfassender auf als die ersten drei Evangelisten.
Wenn Jesus schon seinen vertrauten Jüngern rätselhaft war, dann natürlich erst recht den ihm fernstehenden Volksmassen. Diese erwarteten einen irdischen Messias, der das jüdische Volk zur Höhe führt, der die Römer aus dem Lande jagt, also einen politischen Messias. Was nun Jesus ihnen brachte, was er predigte, die Botschaft von Gott und den Menschen, vom Reich und von der Welt, das paßte nicht in ihre Vorstellung, das schlug allem ins Gesicht, was sie erwarteten. So waren sie enttäuscht von Jesus und gereizt gegen Jesus, so waren sie empört, und ihre Empörung wurde zum Anstoß, und der Anstoß wurde zum Haß. Sie verschlossen sich gegen die Botschaft Jesu, weil sie allem widersprach, was die Sehnsüchte ihres Herzens erträumten. Die Gestalt Jesu war ihnen widerwärtig, weil sie ihrer Eigenmacht, ihrem Eigenwillen, ihrer Selbstherrlichkeit widersprach.
Jesus hätte also nicht durch größere Vorsicht oder durch mehr Geschicklichkeit den Haß vermeiden können. Die Ablehnung. die ihm widerfuhr, war keine Zufallserscheinung, sondern sie war notwendig in dem Zusammenstoß zwischen seinem Wesen und der Feindseligkeit der Welt gegeben. Jesus selbst wußte darum, daß er in dieser Welt fremd war. Er sagte einmal den Jüngern: „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann.“ Das bedeutet nicht, meine lieben Freunde, daß Jesus keine Wohnung oder keine Lagerstätte gehabt hätte. Wir wissen ja, daß er in Kapharnaum in einem Hause einkehrte. Nein, das bedeutet seine wesenhafte Fremdheit in dieser Welt, die im argen liegt. In dieser Welt ist er unzeitgemäß. Er ist dem selbstherrlichen, dem eigenwilligen Menschen immer unzeitgemäß, und deswegen erhebt sich gegen ihn der Widerstand. In diesem Widerstand schließen sich auch erbitterte Feinde zusammen. Wir wissen, daß der Jude Herodes und der Heide Pilatus, die vorher grimmige Widersacher waren, sich angesichts des gefangenen Jesus in Freundschaft vereinigten. Alle innerweltlichen Gegensätze verlieren angesichts des Hauptgegensatzes zwischen Gottes Anspruch und menschlicher Eigenherrlichkeit an Gewicht.
Da begreifen wir auch für unsere Gegenwart, daß sich politisch ganz fernstehende Kräfte wie Liberalismus und Kommunismus zusammenschließen im Haß gegen die genuine Stiftung Jesu Christi, gegen seine Kirche. Angesichts dieses zentralen Gegensatzes verlieren alle anderen Verschiedenheiten ihre Bedeutung. Der Mensch sucht immer wieder sein Gottesbild oder besser sein Götzenbild gegen den wahren, in Christus erschienenen Gott zu setzen.
Daß der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Marokko zum Islam übergetreten ist, das ist ein Zeichen dafür, daß auch heute noch dieses Ärgernis gegen Christus am Werke ist. Der Gott, den der Islam verkündet, ist diesem Manne offenbar einleuchtender gewesen als der Gott des Christentums. Er stellt weniger Anforderungen an das menschliche Denken und an das menschliche Handeln. Er paßt besser zu den Gottesvorstellungen, die der Mensch aus seinem Inneren erzeugt.
Jesus selbst hat das Geheimnis der Ablehnung, auf die er stößt und auf die seine Jünger stoßen, in die Worte gefaßt: „Wenn die Welt euch haßt, so wisset, daß sie mich vor euch gehaßt hat. Wenn ihr von der Welt wäret, würde die Welt das Ihrige lieben. Weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt erwählt habe, darum haßt euch die Welt. Es muß das Wort erfüllt werden: Sie haben mich ohne Grund gehaßt!“
Amen.