13. März 2005
Glauben und leben nach der Offenbarung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Bis vor einigen Jahren nahm man sich, wenn man eine größere Reise im Automobil antrat, eine Karte mit, und man richtete sich nach der Karte bzw. nach den Wegweisern, die am Rande der Straßen stehen. Seit einigen Jahren gibt es eine wunderbare Erfindung, nämlich man kann sich ein Gerät in das Automobil einbauen lassen, das einen zu dem Ziel lotst. Dieses Gerät spricht zu uns und gibt uns die Wege an, die wir einschlagen müssen, um zum Ziel zu gelangen. Diese Hilfsmittel sind ein Gleichnis für das, was wir heute zum Thema unserer Überlegungen machen wollen, nämlich glauben und leben. Der Glaube soll das Leben bestimmen, und das Leben soll vom Glauben geführt sein. Nicht unser kleiner, dürftiger Verstand soll unsere Lebensäußerungen beherrschen, sondern derjenige, der weiter sieht und tiefer denkt, nämlich unser Gott und Herr. Er soll unser Leben führen, er soll uns zum Ziele bringen mit seinen Weisungen. Hier geht es ja um das Höchste, was dem Menschen aufgegeben ist, nämlich Gott und die Welt, die Lebensaufgabe des Menschen und sein Ewigkeitsziel.
Wir sind, um diesen Aufgaben gewachsen zu sein, nicht auf unseren eigenen Verstand angewiesen. Gott selber geht uns an die Hand; Gott selber redet zu uns. Gott spricht zu uns und zeigt uns die Wahrheit und die Wirklichkeit. Er zeigt uns die Wege und das Leben. Gott spricht zu uns – ein gewaltiger Gedanke. Es hätte ja auch anders sein können. Die Berge und die Pflanzen verherrlichen Gott, aber sie kennen den nicht, den sie verherrlichen. Die Wogen des Meeres und die Fische verherrlichen Gott, aber sie kennen ihn nicht, der ihnen die Aufgabe der Verherrlichung gegeben hat. Der Mensch aber soll den kennen, den er verherrlichen soll, und deswegen hat sich Gott ihm geoffenbart. Er hat sich ihm gezeigt, um dem Menschen das Ziel und den Sinn seines Lebens klarzumachen, und zwar geschieht diese Kundgabe Gottes in dreifacher Weise. Sie geschieht einmal durch die Natur, durch die Werke Gottes in der Natur; sie geschieht zum anderen durch das Wort in der übernatürlichen Offenbarung, und sie geschieht drittens in der Herrlichkeit, der Glorie des Himmels, wenn wir Gott einmal schauen werden.
Die erste Weise der Kundgabe ist die natürliche Offenbarung. Gott spricht durch die Natur zu uns. Die funkelnden Sterne am nächtlichen Himmel, die bald wieder zu erlebende blühende Frühlingspracht, die wallenden Wogen des Meeres und die ruhigen Gipfel der Berge erzählen uns von Gott. Ein Dichter hat das in die schönen Worte gefasst: „Die ganze Welt ist wie ein Buch, darin uns aufgeschrieben in bunten Zeilen manch ein Spruch, wie Gott uns treu geblieben.“ Die Welt ist ein Bilderbuch Gottes; sie ist eine Fußspur Gottes. Wenn wir jetzt im Schnee eine Fußspur entdeckt haben, dann wissen wir: Hier ist ein Mensch gegangen. Und ähnlich-unähnlich können wir aus der Natur auf Gott schließen. Es sind die Spuren seiner Macht, seiner Weisheit und seiner Güte, die wir hier sehen und durch die wir ihn selbst finden.
Das Kunstwerk preist seinen Künstler, und die Schöpfung preist ihren Schöpfer. Das Erste Vatikanische Konzil hat diese Wahrheit in unübertrefflichen Worten ausgesprochen: „Der alleinige, wahre Gott hat in seiner Güte und allmächtigen Kraft, jedoch zugleich aus völlig freiem Entschluß im Beginn der Zeit das Doppelreich der Schöpfung aus nichts hervorgebracht, das geistige und das körperliche, die Engel nämlich und das Weltall. Und zuletzt hat er den Menschen aus Geist und Leib gebildet, der daher beiden Reichen angehört. Gott schuf all das nicht zur Erhöhung seiner eigenen Glückseligkeit, auch nicht, um etwa dadurch erst seine Vollkommenheit zu erlangen, sondern um sie zu offenbaren durch all das Gute, das er den Geschöpfen verleiht.“ Wahrhaftig, so ist es, wie das Erste Vatikanische Konzil erklärt. Gott hat alles zu seiner Ehre geschaffen, und im Psalm 18 wird mit unübertrefflicher Freude das Schöpfungswerk gepriesen: „Die Himmel preisen das Werk seiner Hände, das Firmament erzählt von seiner Größe. Eine Nacht kündet es der anderen, und ein Tag kündet es dem anderen, die Herrlichkeit und Größe Gottes. In alle Welt erklingt sein Wort, in jedes Ohr, in jede Zunge.“
Wie sind die Atheisten arm, die nicht an die Schöpfung glauben! Sie sind ohne Antwort auf die Frage, woher das All gekommen ist. Sie sagen, es war immer da. Woher wissen sie das? Die Atheisten sind Arme, die sich nicht in der Welt auskennen. Der Glaube gibt die Antwort: Nein, das All ist nicht immer da gewesen; es hat einen Schöpfer, Gott hat es geschaffen. Und das ist eine Antwort, eine befriedigende Antwort, denn Gott ist so geartet, dass er das All schaffen konnte.
Es gibt also eine natürliche Offenbarung im äußeren Bereich. Es gibt aber auch eine natürliche Offenbarung im inneren Bereich, nämlich im Gewissen. Jeder Mensch trägt in sich eine geheimnisvolle Stimme, die ihm sagt: Das Gute ist zu tun, das Böse ist zu meiden. Das ist in jedem Menschen vorhanden. Er mag es zu ersticken versuchen, er mag es zu übertönen versuchen, die Stimme des Gewissens lässt sich in keinem Menschen auslöschen. Gestern war in der Mainzer Zeitung zu lesen von einer Berliner Frau, die, als die Rote Armee in Berlin einrückte, von Russen vergewaltigt wurde, wie Hunderttausende ostdeutscher Frauen. Sie hat dann eine Reise nach Cuxhaven angetreten und dort das Kind abtreiben lassen. Heute noch, sagt sie, trägt sie an diesen erschütternden Erlebnissen, der Vergewaltigung und der Beseitigung der Frucht der Vergewaltigung. Das Gewissen lässt sich nicht auslöschen. Und wo ein Gewissen ist, das ein Gesetz ins menschliche Herz gräbt, da muss ein Gesetzgeber sein. Kein Gesetz ohne Gesetzgeber. Und dieser Gesetzgeber ist niemand anderes als Gott. Er hat ein Gesetz in das Herz des Menschen geschrieben, und dieses Gesetz muss der Mensch befolgen, wenn es nicht zum Ankläger gegen ihn werden soll. Im „Tasso“ von Goethe stehen die ergreifenden Verse: „Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu ergreifen ist und was zu fliehen.“ Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu ergreifen ist und was zu fliehen.
Diese doppelte Offenbarung in der Welt und im Herzen des Menschen nennen wir „natürliche“ Offenbarung. „Natürlich“ deswegen, weil eben Gott durch die Natur zu uns spricht und weil wir diese Offenbarung auch verstehen können mit dem natürlichen Licht unseres Verstandes. Jeder ist fähig, aus diesen Offenbarungen Gottes Gott zu erkennen.
Freilich ist der Mensch schwach und durch die Erbsünde geschwächt. So erklärt sich, dass die natürliche Offenbarung von den Menschen verschieden gedeutet wird. Zwar gibt es kein Volk, das Gott nicht kennt, aber die Gottesbilder, die sich der Mensch geschaffen hat, sind von Irrtum durchmischt. Es gibt deswegen so viele Religionen, die eine Mischung von Wahrheit und Irrtum enthalten. Die Naturreligionen sind keine klare Erkenntnis Gottes. Es mengt sich Irrtum unter die Wahrheit. Die Menschen haben die verschiedensten Vorstellungen von Gott und natürlich auch die verschiedensten Formen der Gottesverehrung. Sie mögen zugeben, dass es ein höheres Wesen gibt, aber sie kennen Gott nicht, wie er wirklich ist. Deswegen hat Gott noch einen zweiten Weg beschritten, um von sich kundzugeben, nämlich die übernatürliche Offenbarung. „Es hat Gott in seiner Weisheit und Güte gefallen“, sagt das Erste Vatikanische Konzil, „auf dem übernatürlichen Wege sich selbst und die ewigen Ratschlüsse seines Willens dem Menschengeschlechte zu offenbaren.“
Es gibt eine übernatürliche Offenbarung. Wie geschieht sie? Sie geschieht erstens durch die Boten Gottes. Gott hat zu Menschen gesprochen. Wir entnehmen ja schon dem ersten Buch der Heiligen Schrift, der Genesis, wie Gott zu den ersten Menschen geredet hat. Er hat ihnen ein Gebot gegeben. Er hat sie getadelt und gestraft, als sie das Gebot übertraten. Es ist nicht so, wie uns gewisse Paläontologen weismachen wollen, dass Adam und Eva Wilde oder Halbwilde gewesen seien. Das waren Menschen genauso wie wir heute, und sie waren durchaus fähig, Gott zu erkennen und von Gott angesprochen zu werden. Danach hat Gott noch zu vielen anderen gesprochen, zu den Patriarchen Abraham, Isaak, Jakob, Joseph; er hat gesprochen zu den Propheten. Die Propheten wurden von ihm gesandt, um Botschaften auszurichten an sein Volk und an die ganze Menschheit. Isaias und Jeremias, die Fürsten der Propheten vor allem, sie traten vor das Volk hin und sagten: „So spricht der Herr.“ Durch sie hat er gesprochen.
Meine lieben Freunde, es ist kein echter Einwand, wenn man fragt: Warum hat Gott nicht allen Menschen eine übernatürliche Offenbarung zuteil werden lassen? Er tat es deswegen nicht, weil die übernatürliche Offenbarung von solcher Hoheit und von solcher Würde ist, dass nicht jeder geeignet war, eine solche Offenbarung zu empfangen. Es mussten auserwählte Werkzeuge sein, wie Gott zum Beispiel von Jeremias sagt: „Ich habe dich vom Mutterschoße an berufen.“ Es mussten auserwählte Werkzeuge Gottes sein, denen er seine übernatürliche Offenbarung anvertraute. Und diese Offenbarung hat er nicht auf einmal gegeben, sonder nach und nach in weiser Vorbereitung, in Stufen, die allmählich zu dem vollen Licht der Offenbarung hinführten, das uns dann geworden ist, und das ist die zweite Weise der übernatürlichen Offenbarung, durch seinen Sohn. Als die Fülle der Zeit gekommen war, hat Gott nicht mehr durch Propheten geredet, sondern durch seinen Sohn. „Auf vielfache und mannigfaltige Weise hat Gott einst zu den Propheten und durch die Propheten geredet, aber zuletzt, in diesen letzten Tagen hat er zu uns gesprochen durch seinen Sohn.“ Jesus Christus ist der Höhepunkt, ist der Gipfel der Offenbarungen Gottes, denn er ist das fleischgewordene, lebendige Wort Gottes selbst. Von dem Propheten Johannes wird gesagt: „Er war nicht das Licht, er sollte nur Zeugnis geben vom Licht.“ Von Jesus aber heißt es: „Er war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet.“ Und sein Selbstzeugnis gehet ebenso dahin: „Ich bin das Licht der Welt. Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Ich bin gekommen, das Gesetz und die Propheten zu erfüllen.“
In Jesus von Nazareth wollte Gott alles zusammenfassen. Da hat die ganze Offenbarung ihren Höhepunkt gefunden. Alle andere, die vor ihm kamen, waren Vorläufer, und alle, die nach ihm kommen, sind seine Boten, aber er allein ist es, der Eingeborene vom Vater, der uns Kunde vom Vater gebracht hat, weil er im Schoße des Vaters ruht.
Der Heilige Geist führt uns in das volle Verständnis der Offenbarung ein, und die Kirche sorgt dafür, dass diese Offenbarung nicht untergeht. Ach, meine lieben Freunde, ich kenne alle die Vorwürfe gegen die Kirche, ich kenne sie noch besser als Ihr, und ich sage heute noch mit voller Überzeugung: Diese Kirche ist das von Gott gestiftete Organ, um seine Offenbarung durch alle Zeiten zu tragen. Schauen Sie sich die anderen, auch die anderen christlichen Religionen an. Sie alle biegen die Wahrheit, sie alle verschleißen die Wahrheit, sie alle mildern sie ab. Allein die Kirche steht unerschüttert und unerschütterlich, treu bis zum letzten Tage; denn der Heilige Geist ist ihre Kraft, und diese Kraft wankt nicht.
Die übernatürliche Offenbarung war aus einem doppelten Grunde notwendig, einmal, weil die natürliche Offenbarung von den Menschen nicht richtig erkannt wurde. Das Bilderbuch der Schöpfung wird von den Menschen nicht richtig gedeutet. Viele verwechseln ihre eigenen Gedanken mit Gottes Wort. Und zweitens ist die Offenbarung notwendig geworden, damit uns Gott mehr sagt, als was wir aus der Schöpfung entnehmen können. Die Schöpfung sagt uns viel, und was sie sagt, ist wahr, aber sie sagt uns nicht alles. Was Gott in seinem Innersten ist, das sagt uns nur die übernatürliche Offenbarung. Jetzt werden uns die Geheimnisse Gottes kund, die wir aus der Naturoffenbarung niemals entnehmen können. Jetzt erst sind wir fähig, ins Innere Gottes einzudringen. Und er gibt uns eine eigene Kraft, um diese Offenbarung anzunehmen. Diese Kraft heißen wir Glauben. Um die Schöpfung als Bilderbuch Gottes zu verstehen, braucht es nur den Verstand. Aber um die Offenbarung, die aus dem Munde Christi kommt, anzunehmen, braucht es den Glauben. Und so gibt er uns eine eigene Kraft, diese Offenbarung anzunehmen, festzuhalten und nach ihr zu leben.
Die dritte Weise, meine lieben Freunde, wie uns Gott sich kundtut, ist die himmlische Glorie. Wenn einmal das irdische Leben zu Ende sein wird, wenn wir, wie wir hoffen, in die Herrlichkeit Gottes eingehen werden, dann wird uns Gott in einer Weise offenbar werden, wie es selbst in der übernatürlichen Offenbarung nicht der Fall sein kann. Wir würden gewissermaßen verbrennen, wenn uns Gott sich hier so zeigte, wie er uns in der Glorie begegnen wird. Hier sind unsere Augen noch gehalten, hier ist unser Erkennen Stückwerk, also nicht das Ganze. Hier schauen wir wie durch einen Spiegel, wie Paulus sagt. Das heißt also nicht die Wirklichkeit selbst, sondern nur das Schattenbild gewissermaßen. Erst in der Ewigkeit wird uns die Herrlichkeit Gottes in vollem Umfang, soweit das Menschen möglich ist, offenbar werden. Dann kommt das Vollkommene, dann hört das Stückwerk auf, dann werden wir Gott erkennen, wie wir selbst erkannt sind. Wir werden ihn schauen von Angesicht zu Angesicht. Dann sind keine Lücken und ist kein Dunkel mehr, kein Fragen und kein sehnendes Hoffen. Dann wird aus dem Glauben das Schauen und aus dem Hoffen das Besitzen. Dann bleibt auch noch die Liebe. Und in dieser Liebe werden wir zu Gott sprechen, wie Gott zu uns redet. Wie ein Vater zu seinen Kindern, so wird Gott zu uns reden, und dann werden keine Rätsel mehr sein.
Amen.