25. Dezember 1992
Das Geheimnis der Geburt des Herrn
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, in heiliger Weihnachtsfreude Versammelte!
„Tiefes Schweigen hielt alles umfangen. Die Nacht hatte in ihrem Lauf die Mitte ihres Weges erreicht, da kam, o Herr, aus dem Himmel, vom Königsthrone herab, dein allmächtiges Wort.“ Ein Text aus dem Buche der Weisheit, 18. Kapitel, 14. und 15. Vers. „Tiefes Schweigen hielt alles umfangen. Die Nacht hatte in ihrem Lauf die Mitte ihres Weges erreicht, da kam, o Herr, aus dem Himmel, vom Königsthrone herab, dein allmächtiges Wort.“ In diesem Text ist von zwei Dingen die Rede, von dem Worte Gottes und von seinem Kommen zu den Menschen. Das Wort, von dem hier die Rede ist, ist die deutsche Übersetzung des griechischen Begriffes logos. Das besagt natürlich nicht das flüchtige Menschenwort, das aus dem Munde kommt, sondern es besagt das ewige Wort Gottes, den ewigen Gottessohn, den eingeborenen Sohn Gottes, der vor aller Zeit war. Von ihm aber heißt es jetzt, daß er gekommen ist, daß er in die Zeit gekommen ist, daß er auf der Erde erschienen ist. Es ist also zwischen der ewigen Existenz des Wortes Gottes und seinem zeitlichen Erscheinen zu unterscheiden. Und damit wir beides begreifen, seine himmlische Geburt aus dem ewigen Vater und seine irdische Geburt aus einer Mutter, wollen wir jeweils fünf Fragen stellen und auf diese eine Antwort versuchen. Wir wollen uns zuerst mit der himmlischen Geburt des Gottessohnes befassen.
Die erste Frage lautet: Wann ist die himmlische Geburt geschehen? Auf diese Frage kann man nur antworten: Sie ist geschehen, als es noch gar keine Zeit gab, und sie hält an in der Zeit und in Ewigkeit. „Im Anfang“, heißt es im Johannesprolog, „war das Wort bei Gott“. Das ist der Anfang aller Anfänge, das ist die zeitlose Ewigkeit. Das ist eine Wirklichkeit, die mit dem Nacheinander und dem Ablauf von Augenblicken nichts zu tun hat. Dieser Anfang ist vor allem irdischen Anfang. Es ist die zeitlose Ewigkeit, die in dem Psalmwort anklingt: „Heute – heute! Es ist das ewige Heute – habe ich dich gezeugt.“ Oder wenn der Herr im Johannesevangelium sagt: „Ehe Abraham ward, bin ich.“ Oder wenn es im Weisheitsbuch heißt: „Der Herr besaß mich am Anfang seiner Wege, von Ewigkeit her bin ich bei ihm.“ Wo geschah die himmlische Geburt? Auch das ist eine Frage, über die Gott nur lächeln kann. Denn die ewige Geburt des Sohnes Gottes geschah im Vater, und der Vater ist mit räumlichen Kategorien, mit Ausdehnungsbegriffen nicht zu fassen. Das Wort war bei Gott. Die ewige Geburt geschieht in der Wirklichkeit Gottes, und diese ist erhaben über jeden Raum und über jede Ausdehnung. Von wem geschah die himmlische Geburt? Nun, sie geschah aus dem Vater. Der Vater war das Prinzip der himmlischen Geburt. Er ist der ursprungslose Ursprung des Sohnes. Er selbst ist ursprungslos, aber der Sohn hat seinen Ursprung im Vater. Im Glaubensbekenntnis sprechen wir diese Wahrheit aus: „Gott von Gott, Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott.“ Gott ist das Prinzip des Hervorgehens des Sohnes aus dem Wesen des Vaters. Wie geschah die himmlische Geburt? Sie geschah durch Zeugung. „Gezeugt, nicht geschaffen.“ Nun dürfen wir uns diesen Begriff Zeugung nicht nach irdischen Vorstellungen zurechtmachen. Das Wort Zeugung ist von den Vätern des Konzils von Nizäa gewählt worden im Gegensatz zum Schaffen. Die Zeugung sollte ausdrücken, daß ein wesensgleiches Wesen aus dem Vater hervorgegangen ist, nicht etwas, was nur ein Geschöpf ist und deswegen höchstens in ganz entfernter Weise dem Vater ähnlich sein kann. Die Zeugung ist also von allen geschlechtlichen Vorstellungen völlig freizuhalten. Sie besagt den Hervorgang des wesensgleichen Sohnes aus dem Vater. Deswegen sprechen wir von Zeugung als Basis der Geburt, der himmlischen Geburt, als der Sohn Gottes, als wahrer Gott, als Licht vom Lichte. Nicht ein zweiter Gott, wie es die Arianer wollten, eine deuteros theos, nein, ein Gott von gleicher Würde, gleicher Majestät und gleicher Anbetungswürdigkeit wie der Vater.
Die himmlische Geburt steht freilich nicht im Mittelpunkt des Weihnachtsfestes. Sie ist nur seine Voraussetzung. Weil es einen präexistenten Gottessohn gibt, deswegen konnte er auf Erden erscheinen. Wir müssen uns an Weihnachten vordringlich der irdischen Geburt zuwenden. Und auch hier wollen wir mit fünf Fragen versuchen, in das Geheimnis dieses Geschehens einzudringen. Wann ward er geboren? In der Fülle der Zeit. Als die Zeit, die Gott in seiner Vorsehung vorgesehen hatte, abgelaufen war, als die Zeit voll war, da ist der Sohn Gottes geboren worden. Um aber keinen Zweifel daran zu lassen, daß diese Geburt, diese irdische Geburt, ein geschichtlicher Vorgang ist, deswegen verknüpft das Evangelium sie mit geschichtlichen Tatsachen. Er ward geboren unter dem Kaiser Augustus. Das ist ein alter Bekannter. Von Augustus wissen wir sehr viel. Wir kennen seinen Großonkel Gaius Julius Cäsar, der ihn adoptiert hatte. Wir wissen, daß er von 31 v.Chr. bis 14 n.Chr. regiert hat. Wir kennen seine Lebensbeschreibungen. Augustus stellt also eine historische Persönlichkeit dar. Und eben in dieser Zeit ward der Gottessohn geboren. Wo ward er geboren? Er ward geboren in Bethlehem. Nun gibt es aber in Palästina zwei Städte mit Namen Bethlehem, so wie es in Deutschland zwei Orte mit dem Namen Frankfurt gibt. Und deswegen fügt der Evangelist hinzu: „In Bethlehem im Stamme Juda.“ Also nicht in Bethlehem im Stamme Zabulon, ganz im Norden, sondern in Bethelehm im Stamme Juda, acht Kilometer südlich von Jerusalem. Es wird genau angegeben, wo die Geburtstätte Jesu ist. Und selbstverständlich haben die Christen sie von Anfang an heilig gehalten. Justin der Martyrer, der um 155 sein Leben für Christus geopfert hat und der aus Palästina stammte, gibt uns von der Verehrung der Geburtsgrotte Kunde. Und nicht nur er, auch ein heidnischer Kaiser, Hadrian, der von 117 bis 138 regierte, hat dafür gesorgt, daß die Geburtsstätte nicht vergessen wurde. Er wollte das Gedächtnis an Jesu Geburt tilgen, und deswegen errichtete er über der Geburtsgrotte ein Heiligtum des heidnischen Gottes Adonis. Aber gerade damit hat er – wunderbares Spiel der Vorsehung – dafür gesorgt, daß die Geburtsstätte nicht vergessen werden konnte. Und Kaiser Konstantin hat dann, nachdem das Christentum aus den Katakomben stieg, eine Basilika über der Geburtsgrotte errichten lassen, deren Reste noch heute zu bestaunen sind.
Von wem ward der Gottessohn geboren? O, wir wissen es: aus der Jungfrau Maria. Sie hat dem Gottessohn Einlaß in diese Welt gewährt. Aus ihr hat er die Menschennatur angenommen. Maria ist eine geschichtliche Persönlichkeit. Wir kennen ihre Heimat Nazareth, wir wissen von ihren Verwandten, von ihrer Base Elisabeth. Maria konnte von den Christen nie mehr vergessen werden, denn ihre prophetische Voraussage mußte sich erfüllen: „Von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter.“ Wie wurde die irdische Geburt des Gottessohnes bewerkstelligt? „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten.“ Die Empfängnis des Gottessohnes im Schoße Mariens ist ein Wunder göttlicher Allmacht. Was sonst das männliche Prinzip bewirkt, das hat Gott, natürlich jenseits aller geschlechtlichen Vorstellungen, bewirkt. Das ist eben der Unterschied der Jungfrauengeburt, die wir bekennen, zu den Geburten von Göttersöhnen in den Mythen. Dort, in den Mythen, naht sich ein Gott in Gestalt eines Stieres oder eines Einhorns einer Jungfrau und führt dann den Zeugungsakt durch. Nein, „die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten, und deswegen wird das Heilige, das aus dir geboren wird, Sohn Gottes genannt werden.“ Die Mythen sind ungeschichtlich, die Geburt des Gottessohnes aus der Jungfrau Maria ist Geschichte. Ein unbegreifliches Wunder der Allmacht Gottes hat sich hier zugetragen.
Als was wurde der Gottessohn geboren? Als ein Mensch. Im Äußeren erfunden wie ein Mensch. Er hat es nicht für einen Mißbrauch gehalten, seine göttliche Natur zu verbergen, sondern er hat eine menschliche Natur angenommen und ward im Äußeren erfunden wie ein Mensch, ein voller und ganzer Mensch – mit einer einzigen Ausnahme: Die Daseinskraft, die Bestandskraft dieses Menschen ist der Logos selbst. Das Ich dieses Menschen ist der göttliche Logos. Er hat sich diese Menschennatur mit solcher Kraft, mit solcher Gewalt angeeignet, daß er der Selbststand dieser Menschennatur geworden ist. In Christus ist also das Geheimnis der hypostatischen Union wirksam, d.h. der personalen Vereinigung. In ihm sind zwei Naturen, die göttliche, die er nicht verloren hat, und die menschliche, die er angenommen hat. Er blieb, was er war, aber er nahm an, was er noch nicht hatte. Er, der Reiche, ist um unseretwillen arm geworden, damit wir durch seine Armut reich würden. Als Gott nur konnte er uns erlösen, aber als Mensch nur konnte er die Erlösung durch Leiden bewirken. Also mußte er als Gottmensch auf dieser Erde erscheinen.
Das ist also die irdische Geburt unseres Gottes und Heilandes. Wenn die Religionsgeschichte uns von scheinbar ähnlichen Vorgängen berichtet, wie Göttersöhne geboren werden, dann besteht zwischen diesen Erzählungen und dem Bericht der Evangelien ein grundstürzender Unterschied. Denn in diesen Mythen wirkt sich nichts anderes aus als das Werden und Vergehen in der Natur, das ständige „Stirb und werde!“ Es lösen sich ab Entstehung, Wachstum, Welken und Tod. Und das eben drücken die Mythen aus. Dagegen im menschgewordenen Gottessohn steht eine von Gott gestaltete Geschichte vor uns, in der Gott unser Heil wirken wollte.
Wenn es so ist, meine lieben Freunde, dann bleiben für uns zwei Folgerungen, nämlich erstens: Transeamus usque Bethlehem – Laßt uns nach Bethlehem gehen und sehen, was da geschehen ist. Es gibt keinen anderen Ort des Heiles als Bethlehem. Es gibt keinen anderen Namen, in dem uns Heil geworden ist, als den Namen dessen, der in Bethlehem von der Jungfrau geboren ward. Er ist unsere Hoffnung, unser Friede und unsere Versöhnung. Transeamus usque Bethlehem - Laßt uns mit den Hirten nach Bethelehem gehen. Und was wollen wir da zweitens tun? Flectamus genua – Laßt uns die Knie beugen! Denn der da im Stalle liegt, im Futtertrog der Tiere, das ist derselbe, der die Spiralnebel lenkt. Es ist der Sohn Gottes, wahrer Gott vom wahren Gott, verhüllt in irdischer Gestalt, aber deswegen nicht weniger wahr der Lenker der Geschichte und der Herr der Gestirne. „Sie knieten nieder vor ihm und beteten ihn an“, so heißt es von den Weisen. Das ist es, was wir tun müssen. Alles andere ist Getue, das nicht auf die Dauer standhält. Wer Jesus nicht als den menschgewordenen Gottessohn bekennt, der mag soviel reden wie er will, er hat um ihn herumgeredet.
Es kam einmal ein Kunstgelehrter nach Kopenhagen. In der Frauenkirche dieser Stadt steht die berühmte Jesusstatue, die der dänische Bildhauer Thorwaldsen geschaffen hat. Der Kunstgelehrte stand vor der Statue und sagte: „Ich kann ihr nichts Besonderes abgewinnen.“ Da sagte sein Begleiter: „Sie dürfen nicht stehenbleiben, Sie müssen niederknien!“ So muß man nach Bethlehem gehen. Man darf dort nicht stehenbleiben, man muß niederknien. Und wenn man niederkniet, demütig und gläubig und glaubenswillig, dann erschließt sich einem das Geheimnis von Bethlehem.
Amen.