24. Mai 1992
Die Unkeuschheit als Wurzelsünde
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In der vergangenen Woche ging eine Meldung durch die Zeitung: Nur noch 18% der Katholiken haben Verständnis für die gottgeweihte Ehelosigkeit des katholischen Priesters. Ein Soziologieprofessor empfahl der katholischen Kirche, ihre sittlichen Normen in bezug auf die geschlechtliche Sittlichkeit zu ändern. Das sei der Grund für die hohe Zahl von Kirchenaustritten, 143.000 im Jahre 1990. Gegen diese Zahlen und Ratschläge steht das Evangelium, steht die Heilige Schrift. „Wisset ihr nicht, daß ihr Tempel Gottes seid, daß der Geist Gottes in euch wohnt? Kein Unreiner und Unzüchtiger wird Christi Reich erben. Ein jeder wisse seine Frau in Heiligkeit zu besitzen, nicht in ausgelassener Lust wie die Heiden.“ Die christlichen Normen über die Sittlichkeit sind nicht von der Kirche verfaßt. Sie haben Gott zum Urheber. Wenn die Kirche sie verkündet, dann bleibt sie ihrem Herrn treu; und wenn sie sie ändern würde, fiele sie von ihrem Herrn ab. Sie wäre dann vielleicht ein raffiniert arbeitender religiöser Verein, aber sie wäre nicht mehr die Kirche Christi. Das ist eben der Unterschied zwischen einer Säule und Grundfeste der Wahrheit, wie es die katholische Kirche ist, und den davon getrennten religiösen Gemeinschaften, daß die eine bei dem bleibt, was Gott ihr zuspricht, und daß die anderen nach dem Begehren und den Wünschen der Menschen fragen und danach ihre Verkündigung ausrichten.
Gott hat den Geschlechtstrieb mit der damit verbundenen Lust in den Menschen hineingesetzt, damit die Art erhalten wird. Der Geschlechtstrieb ist ein Lebenstrieb. Er ist hingerichtet auf die Weckung von Leben. Er ist kein Lusttrieb, sondern die Lust ist die Beigabe der Ausrichtung des Triebes auf das Leben. Die einzige legitime Erfüllung dieses Lebenstriebes erfolgt in der gültigen Ehe. Die Bedeutung dieses Gegenstandes ergibt sich daraus, daß der Zweck ein so hoher ist. Die Art soll erhalten werden, die Familie soll geschaffen werden als Pflanzschule der Gesellschaft, der Kirche und des Staates. Sein Gewicht ergibt sich auch daraus, daß die individuellen und sozialen Folgen der Verletzung dieses Triebes von schrecklicher Gewalt sind. Kein Trieb im Menschen verdunkelt den Verstand, mindert die Herrschaft der Vernunft so stark wie dieser. Deswegen ist jede außerhalb der Ehe direkt gewollte sexuelle Lust eine schwere Sünde.
Die Sünden gegen die Keuschheit sind mannigfacher Art. Es sind solche, die sich innerhalb des natürlichen Gebrauches der Geschlechtskraft halten, und solche, die dagegen verstoßen. Innerhalb des natürlichen Gebrauches der Geschlechtskraft verbleibt die außereheliche Unzucht. Wir alle wissen, wie häufig dieses Laster ist. Man rechnet in der Bundesrepublik Deutschland täglich mit 1 Million Ehebrüchen. Gegen die Natur ist der geschlechtliche Trieb, wenn er sich auf das gleiche Geschlecht richtet oder gar, wie es auch vorkummt, auf Tiere. Wir haben einmal in der Universität einen Vortrag des deutschen Generalkonsuls in Istanbul gehört. Er berichtete uns von Türken, die sich Eselinnen halten. Keine Schändlichkeit ist auf diesem Gebiete groß genug, um nicht von Menschen begangen zu werden. Der Mensch ist außerordentlich erfinderisch in der Verletzung der heiligen Gesetze Gottes. Deswegen ist es notwendig, meine lieben Freunde, auf die Folgen zu schauen. Aus den Folgen kann man Abscheu vor der Verletzung der Keuschheit gewinnen, und die Folgen sind verheerend.
Zunächst die individuellen Folgen. Die Verletzung der Keuschheit macht den Menschen unempfänglich für das Geistige. Er ist nämlich dauernd damit beschäftigt, seinem Trieb zu dienen. Er wird unbeständig und übereilt und unlustig, wenn er die Erfüllung dieses Triebes nicht findet. Er wird gleichgültig gegen die wahre Ehre, gegen Hab und Gut. Im Jahre 1930 wurde ein Film aufgeführt, der heute noch zu sehen ist: „Der blaue Engel“. Dieser Film zeigt einen braven Gymnasiallehrer, wie er den Reizen einer Frau verfällt, wie er von Stufe zu Stufe sinkt, gedemütigt wird, sein Amt verliert, als Bajazzo in einem Tingeltangel auftritt und schließlich nach der Untreue seiner Frau an gebrochenem Herzen stirbt. Dieser Film ist ein erschütterndes Beispiel dafür, wie es einem Menschen ergeht, der der Leidenschaft nicht widersteht.
Weitere Folgen des Mißbrauchs des Geschlechtstriebes sind Auflehnung gegen die Autorität, Trotz gegen die Kirche, die die Normen der geschlechtlichen Sittlichkeit verkündet, ja Abfall vom Glauben, Irrglaube, Unglaube. Der König Heinrich VIII. von England verfaßte in seiner guten Zeit eine Schrift, in der er die sieben Sakramente gegen Luther verteidigt. Er bekam vom Papst den Titel „Defensor fidei“, Verteidiger des Glaubens, verliehen. Aber dann wendete er sich zum Schlechten, fiel vom Glauben ab und zog sein ganzes Königreich in den Abfall hinein. Was war der Grund? Der Grund war die Unkeuschheit. Er war ein Ehebrecher; und weil die Kirche seinen Wünschen nicht zu Willen war, deswegen erhob er sich gegen diese Kirche und führte England in das Schisma und schließlich in die Häresie.
In den Jahrzehnten, meine lieben Freunde, in denen ich als Seelsorger tätig bin, habe ich immer wieder die verheerenden Folgen der Unkeuschheit, auch in bezug au den Glauben, erlebt. Wenn junge Menschen spüren, daß ihren unerleuchteten Wünschen sich der Glaube entgegenstellt, die Verkündigung der Kirche, die Sittenlehre, dann beginnen sie lau zu werden im Empfang der Sakramente, im Besuch des Gottesdienstes; dann fehlen sie immer öfter bei den Gruppenstunden, sie hören auf zu beten, es verfinstert sich ihr Sinn, und schließlich werden sie ganz abständig. Der französische Schriftsteller und Staatsmann Chateaubriand hatte einmal eine Gesellschaft von Künstlern und Gelehrten bei sich. Und wie es so üblich ist, wurde in dieser Gesellschaft gelästert über Gott und Kirche und Religion. Da sagte Chateaubriand zu seinen Gästen: „Nicht wahr, meine Herren, wenn Sie keusch wären, dann würden Sie alle gläubige Katholiken sein?!“ Daraufhin schwiegen seine Gäste betreten oder lächelten unsicher.
Die sozialen Folgen der Verletzung der heiligen Gesetze Gottes über dem Leibe sind ebenso erschreckend. Häufig sind Krankheiten eine Auswirkung der Verletzung der Lebensgesetze. Ich habe einen erschütternden Fall erlebt, meine lieben Freunde, den ich nicht vergessen konnte. Einst hielt ich einem jungen Priester die Predigt zu seiner Primiz. Einige Jahre später besuchte mich unser Bischof Lehmann und bat mich, den jungen Mann zu beerdigen. Ja, war er gestorben? Er war gestorben, wie es offiziell hieß, an einer untypischen Lungenentzündung. Aber an einer Lungenentzündung stirbt man heute nicht mehr. Der wahre Grund war die Krankheit, die man Aids nennt. Wir wissen, wie man zu dieser Krankheit kommt. Die Verletzung der Lebensgesetze Gottes zerreißt Familienbande, zertümmert die Treue in den Familien, verletzt die Seele des anderen Gatten. So viele Ehescheidungen gehen auf Ehebrüche, auf Verletzung der ehelichen Treue, zurück. Die Folge sind die getrennten Gatten, die in Elend und in Kummer leben, sind aber auch die Kinder, die verlassen sind, die zwar einen Vater haben und eine Mutter, aber keine Eltern. Die Scheidungswaisen, wie man sie nennt, sind die Opfer dieser Zerrüttung der Familien, oft mit schweren seelischen Schäden infolge der Konflikte und der Begleitumstände der Scheidungen.
Alle diese erschreckenden Folgen, meine lieben Freunde, sind geeignet, uns mit Hochachtung vor den Gesetzen Gottes in bezug auf die geschlechtliche Sittlickeit zu erfüllen, sind aber auch geeignet, uns die notwendigen Hilfsmittel in die Hand nehmen zu lassen, um die Keuschheit zu bewahren. Es sind ihrer fünf. Das erste und wichtigste Mittel ist die Beherrschung. Man muß Herr sein über seine Triebe. In jedem Menschen steigen häßliche Wünsche und böse Absichten auf. Aber man muß über die Herr werden, man muß sie beherrschen. Man muß beherrscht leben in jeder Hinsicht. Man ist nicht nur auf einem Gebiete unbeherrscht, man muß beherrscht sein im Reden, im Essen, im Trinken, im Rauchen; man muß in jeder Hinsicht beherrscht sein, wenn man auf dem Gebiete des Geschlechtlichen beherrscht sein will. Der römische Feldherr Scipio Africanus, der Besieger Hannibals, hatte auf seinem Monument den Spruch stehen: „Sein schönster Sieg war die besiegte Lust“. Scipio Africanus war ein hervorragend beherrschter Mann, der von seinen Soldaten deswegen verehrt wurde. Als er in Spanien den Feldzug führte, brachte man ihm nach der Einnahme Cartagena eine wunderschöne spanische Jungfrau. Der Feldherr hatte nichts anderes zu tun, als daß er diese Jungfrau ihrem Vater und ihrem Verlobten unversehrt zurückschickte. Sein schönster Sieg war die besiegte Lust.
Das zweite Hilfsmittel ist das Meiden der Gelegenheit. Man muß sich vor Orten, Beschäftigungen, Gesellschaften und Menschen hüten, in denen Gefahren für die Keuschheit zu finden sind. Das beginnt mit der Lektüre; man muß wissen, was man liest. Das beginnt bei den Filmen; man muß wissen, was man sich ansieht. Das beginnt bei Gesprächen; man muß wissen, zu wem man sich hinsetzt. Der Freiherr vom Stein, also der Mann, der hier vor unserem Rathaus ein Denkmal gesetzt bekommen hat, war einmal am Hofe des Großherzogs von Weimar, des Gönners von Goethe. Da wurden schlüpfrige Geschichten erzählt, auch vom Großherzog. Der Freiherr vom Stein saß mit finsterer Miene da. Da sagte der Großherzog zu ihm: „Sie werden ja doch wohl auch nicht wie der keusche Josef gelebt haben?“ Da gab ihm der Freiherr vom Stein zur Antwort: „Ich habe immer sittsam gelebt und bedauere es sehr, daß ein Fürst vor seinen jungen Offizieren derartige schlüpfrige Gespräche führt.“ Man muß die Gelegenheit meiden, wenn man die heiligen Gesetze Gottes über der Keuschheit beachten will.
Ein dritter Punkt ist unablässige Arbeit. Arbeit besitzt therapeutischen Wert. Auch in bezug auf die Bewahrung der Keuschheit gilt: Müßigkeit ist aller Laster Anfang. Wir sollen uns müde arbeiten, auch durch körperliche Arbeit. Ich habe immer den Seminaristen empfohlen, entweder körperlich zu arbeiten oder wenigstens ausgiebig Sport zu treiben, um sich auch körperlich zu betätigen und zu ermüden. Unablässige Arbeit ist ein Hilfsmittel für die Erhaltung der Keuschheit.
Das vierte Mittel ist das andauernde Gebet. Wer nicht um die Gaben Gottes betet, dem werden sie auch nicht gegeben. Die Gaben Gottes wollen erbetet sein. Unter den Gebeten, die für die Keuschheit besonders hilfreich und nützlich sind, ist das Gebet zur Mutter Gottes, der reinsten Jungfrau, der keuschesten Jungfrau, der unversehrten Jungfrau, der unbefleckten Jungfrau an der Spitze. Sie haben vielleicht gehört von der alten deutschen Sage von Tannhäuser. Er ist im Zauberberg bei der Frau Venus und fühlt sich von dem Leben im Zauberberg ganz krank und siech und verlangt fort, aber sie läßt ihn nicht gehen. „Herr Ritter, wollt Ihr Urlaub haben? Ich will Euch keinen geben“, sagt die Frau Venus. Sie lügt, er habe ihr ewige Treue geschworen: „Ihr habt mir einen Eid geschworen, Ihr wollt nie von mir wanken.“ Er leugnet das und spricht von den ernsten Gedanken von Schuld und Strafe, die durch seine Seele ziehen. Sie versucht ihm solche angeblichen Torheiten auszureden: „Ihr sagt viel von der Hölle Glut. Habe es doch nie empfunden. Die Welt an meinem roten Mund, der lacht euch zu allen Stunden!“ Da überkommt es ihn mit Bitterkeit: „Mein Leben, das ist morgen krank, ich mag nicht länger bleiben.“ Dann erkennt er auch die wahre Natur der Verführerin und schleudert ihr die Worte ins Gesicht: „Frau Venus, edle Fraue zart, Ihr seid eine Teufeline.“ Trotzdem fühlt er, daß der Bann ihrer Zauberkünste noch nicht gebrochen ist. Und da erinnert er sich einer anderen Frau, jener, die der Schlange den Kopf zertrat. Er kniet nieder und betet: „Maria, Mutter, reine Magd, nun hilf mir von dem Weibe!“ Ich hatte in der Schule einen Lehrer, der als sehr harter Mann bekannt war. Er unterrichtete auch Sport und verlangte viel von seinen Schülern. Wir wußten gar nicht, daß er katholisch war, weil er offensichtlich religiös nicht praktizierte. Aber eines Tages machte er eine Äußerung, die ich nie vergessen habe. Er sagte: „Jungs, ich habe in meiner Jugend Maria verehrt, und ich bin damit keusch durch meine Jugend gegangen.“ Das Wort dieses rauhen, harten Mannes habe ich nie vergessen.
Schließlich das fünfte Mittel ist die regelmäßige Beichte. Sie alle wissen, meine lieben Freunde, daß der Empfang des Bußsakramentes in unserer Kirche zusammengebrochen ist, nicht weil die Leute nicht mehr beichten wollen, sondern weil der Klerus es ihnen abgewöhnt hat. Die Verdrängung der Sünde und der Verlust der Reinigung im Bußsakrament sind vielleicht etwas vom Schrecklichsten, was sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren in unserer Kirche zugetragen hat. Lassen Sie sich von der falschen, verführerischen These: „Wir sind ja alle gut und kommen in den Himmel“ nicht beeinflussen! Beichten Sie treu, wahrhaftig, aufrichtig! Beichten Sie regelmäßig! Beichten Sie schonungslos gegen sich selber! Wer sich selbst nicht schont, den wird Gott schonen. Und die Beichte ist ein vorzügliches Hilfsmittel, um aus dem Schlamm der Sünde wieder befreit zu werden, um aber auch die Keuschheit zu bewahren, weil man schon auf die feinen Ausschläge des Gewissens gegen die Keuschheit – etwa in der Schamhaftigkeit – achtet. Die Beichte erzieht dazu, auch die scheinbar geringfügigen Verfehlungen ernst zu nehmen.
So ist es also, meine lieben Freunde. Wir wollen festhalten an den heiligen Gesetzen Gottes über der Ehe, über dem außerehelichen Verhalten. Diese Gesetze sind Lebensgesetze. Es besteht kein Zweifel, daß sie richtig sind, auch wenn sie schwer zu verwirklichen sind. Das Richtige ist meistens schwer. Lassen wir uns nicht irremachen, leben wir vielmehr mit der Kirche! „Durchglühe mir Herz und Nieren mit dem Feuer des Heiligen Geistes, auf daß ich keuschen Leibes dir dienen und mit reinem Herzen dir gefallen möge!“
Amen.