19. Mai 1997
Der Geist lebt in der Kirche
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Vor einer Reihe von Jahren erschien in einer religiösen Zeitschrift ein Pfingstartikel. Er war in der Form eines Gebetes an den Heiligen Geist gehalten. In diesem Artikel hieß es unter anderem: „Wo bist du, großer Geist? Warum bist du verstummt? Warum hast du deine Kirche verlassen?“ Und der Artikel erinnerte daran, daß er einmal im Sturm gekommen war und mit Feuerzungen, daß er die Jünger mit der Kraft, Zeugnis zu legen und Kranke zu heilen, ausgerüstet hatte, daß er aus Fischern Helden, aus kleinen Männern des Volkes Führer der jungen Christenheit machte. „Wo bist du, o großer Geist? Warum bist du verstummt?“
Viele haben damals diesen Artikel belobigt und gesagt: Jawohl, so ist es! Der Geist ist in der Kirche erloschen. Die Kraft der Gebete ist nicht laut genug, um ihn auf uns herabzurufen. Wenige aber tadelten den Artikel. Sie sagten, er sei mehr aus der Haltung der Juden geschrieben als der Christen, die sich Gott nur in der Macht und in der Herrlichkeit vorstellen können. Sie vergäßen, daß Gottes Geist über Menschenmaß hinausgeht, daß Gott gesagt hat: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege“. Der Urheber dieses Artikels, so warf man ihm vor, habe verkannt, daß Gott nicht nur im Sturme kommen könne, sondern auch im leisen Säuseln des Windes, wenn es ihm beliebe, oder im Schweigen der Stille, wenn es ihm so gefiele.
Wiederum, meine lieben Freunde, ist Pfingsten geworden. Und wiederum verkündet die Kirche den Geist, der das Weltall durchherrscht, den Schöpfergeist, der alles neu gestalten kann, wo immer ihm Einlaß gewährt wird. Wir alle, die wir hier versammelt sind, wissen, daß viele Hemmnisse von außen und von innen dem Wirken des Geistes in seiner Kirche entgegenstehen. Der Kommunismus ist zusammengebrochen, aber die Kommunisten sind nicht ausgestorben. Der Islam wird von Tag zu Tag stärker und gefährlicher, bedroht die Christengemeinden in den islamischen Staaten, sucht sie zu dezimieren, zum Abfall zu bewegen oder auch mit Gewalt zu seinem Religionssystem zu bekehren. Der atheistische Liberalismus hat in unseren Breiten, in Europa und in Amerika, weithin die Herrschaft angetreten. In Ländern, die einstmals christlich waren, wie Italien und Frankreich und Spanien, ist die Freimaurerei eine ungeheure Gefahr, vor allem in den sozialistischen Parteien dieser Länder. Dazu kommt der uns allen bekannte innere Zusammenbruch in unserer Kirche. Kein Geringerer als der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Seper, hat das furchtbare Wort gesprochen: „Die Krise der Kirche ist eine Krise der Bischöfe.“ Wir wissen, wie wahr dieses Wort ist, wie viele Bischöfe versagen vor ihrem heiligen Amte, wie nicht wenige auch sittlich versagt haben. Ich erinnere an den ersten schwarzen Erzbischof in den Vereinigten Staaten, der nach kurzer Zeit von seinem Amt entfernt werden mußte, weil er sich mit Frauen abgegeben hatte. Ich erinnere an den Bischof von Basel, der zurücktreten mußte, weil er sich nicht beherrschen konnte. Wir wissen, wie viele Priester aus unserem Abendmahlssaale geflohen sind und immer noch fliehen. Das Rinnsal läuft immer noch aus! Es hat nicht nur Massenabfälle nach dem Konzil gegeben, sondern auch heute noch sind immer wieder Abfälle von Priestern festzustellen.
Unter den Christen ist vielfach Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und Unglaube zu beobachten. Viele einst Gläubige haben die Überzeugung von der Wahrheit des Christentums verloren. Sie glauben nicht mehr an die Vorsehung Gottes, die die Welt und die Kirche lenkt. Sie sind gleichgültig geworden; wir brauchen uns nur die Zahlen der Kirchenbesucher, den ständigen Rückgang, und die Zahlen der Austritte, die immer noch hoch ist, vor Augen zu führen. Ein Theologiestudent schrieb mir einmal: „Ich habe die Kirche nur in ständigem Niedergang erlebt.“ So ist es; es ist wahr. Und trotzdem glauben wir an den Heiligen Geist, bekennen den Schöpfergeist, halten uns an die Verheißung Christi, der da sagt: „Ich werde euch einen anderen Tröster senden, den Geist der Wahrheit, der euch in alle Wahrheit einführen wird und der euch leiten wird bis ans Ende der Zeiten.“
Es ist der Reif gekommen über unsere Kirche, meine lieben Freunde. Aber er hat nicht alle Blüten vernichtet. Wenn ich im Herbst im Garten die verdorrten Zweige abschneide, dann kann ich oft beobachten, wie schon wieder die jungen Triebe für das nächste Jahr aus dem Boden schießen. So ist es auch in unserer Kirche. Wir brauchen nichts von den beklagenswerten Erscheinungen zurückzunehmen, die wir eben angesprochen haben, aber wir können auch auf Hoffnungszeichen blicken. Die erste und grundlegende Hoffnung ist die Wahrheit der Verheißung Christi, daß die Kirche nicht überwunden werden wird. Die Kirche ist indefektibel; das heißt: Sie wird als Heilsanstalt, die Christus gegründet hat, bis ans Ende der Zeiten bestehen, und zwar mit ihrer Verfassung, mit ihrer Lehre und mit ihrem Kult. Da mag der Herr Vorgrimler aus Münster noch so oft sagen, daß Christus keine Kirche gestiftet habe und daß das Priestertum im 4. Jahrhundert entstanden sei – die Kirche wird ihre Stiftung immer von Christus herleiten, und sie wird das Priestertum immer als eine Stiftung Jesu Christi festhalten.
Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten manchmal gebangt. Wir haben gesagt: Wenn wir wenigstens einen Bischof hätten, der wie ein Prophet aufsteht und spricht. Wir haben ihn! Er ist gekommen aus der Bonifatiusstadt Fulda. Wir haben einen solchen prophetischen Bischof. Wir dürfen dankbar sein, daß der Geist ihn erweckt hat. Die Priesterseminare sind zum großen Teil leergebrannt. Aber es gibt auch neue Priesterseminare, die sich vor dem Andrang derer, die eintreten wollen, kaum retten können. Tatsächlich gibt es neue Gemeinschaften, wie die Legionäre Christi oder die Priester von Christus, dem König, die in einer ergreifenden Weise einen Frühling erleben. Und was soll ich sagen von unseren braven und tapferen Laien? Sie haben sich ja in den vergangenen Jahrzehnten viel besser bewährt als der Klerus und als die Theologen. Sie haben den Glauben festgehalten und weitergetragen. Sie haben sich nicht orientierungslos machen lassen, nicht erschüttern lassen von den Aufstellungen wildgewordener Theologen.
Wenn Sie am Freitagvormittag einmal in die Innenstadt von Mainz kommen, dann empfehle ich Ihnen: Gehen Sie vor das Bischofshaus, vor das Wohnhaus des Bischofs Lehmann. Da stehen an jedem Freitag junge Männer und Frauen und kämpfen für den Austritt aus der Schwangerschaftsberatung mit Plakaten und mit einem Grabstein, den sie aufgestellt haben. Sie fürchten sich nicht vor Spott und Hohn und vor den verletzenden Blicken der Kleriker, die vorbeigehen. „Beraten ja“, so steht auf ihren Schildern, „bescheinigen nein!“
Es gibt ohne Zweifel auch heute unter den jüngsten Priestern eine Anzahl, die das unechte Getue, den hilflosen Leerlauf in der Kirche ablehnen und nach dem echten und genuinen Glauben und Glaubenszeugnis suchen. Es gibt auch heute unter den Theologen Kräfte, die sich der Zersetzung durch die Falschlehrer entgegenstellen. Soeben ist ein klarer Aufsatz aus der Feder des Alttestamentlers Josef Scharbert in München erschienen. Scharbert hat zum Gegenstand seiner Untersuchung die Unzuchtsklauseln im Matthäusevangelium gemacht. Diese Unzuchtsklauseln werden ja von den Falschlehrern benutzt, um zu sagen: Ja, man soll die Ehe nicht scheiden, aber aus bestimmten Gründen kann man sie scheiden; und selbstverständlich kann man nachher sich wieder verheiraten. So steht ja bei Matthäus geschrieben: „Jeder, der seine Frau entläßt, außer bei Unzucht, der bricht die Ehe.“ Außer bei Unzucht! Mein Freund Josef Scharbert hat nun nachgewiesen, und zwar aus dem ursprünglichen hebräischen Text, daß diese Unzuchtsklauseln so zu verstehen sind, daß die Ehe aufgelöst werden muß, die keine Ehe ist; daß eine Scheinehe aufgelöst werden muß, also eine Verbindung, die den Schein einer Ehe hatte, aber es nicht war, weil die beiden sich hätten gar nicht gültig verheiraten können. Das ist eine Entdeckung von phänomenaler Bedeutung. Man sieht aus diesem Beispiel, daß nicht alles verloren ist, daß die Wahrheit auch in einzelnen Theologen sieghaft ihr Haupt erhebt. Wir müssen eben warten! Die Gebete und die Opfer der vielen Kleinen werden nicht vergeblich sein. Wir müssen Geduld haben. Gottes Mühlen mahlen anders als die unsrigen. Wir können weder mit Gebet noch mit Sühne Gott zwingen, er bleibt der souveräne Herr, und er hat seine Stunde. Auch Maria mußte sich sagen lassen: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Aber sie wird kommen. Wenn die Zahl der Opfer und Gebete voll ist, wenn die Leiden schier unerträglich sind, wenn die Gefahr besteht, daß auch die Guten verlorengehen, dann wird Gott mit dem Schlüssel auf den Tisch klopfen und sagen: „Jetzt wird Schluß gemacht, meine Herren!“
Amen.