12. Oktober 2003
Das Lebensbild des religiösen Menschen
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der Mensch der Gegenwart ist geprägt durch Technik und Wissenschaft. In dieser Welt der Technik und der Wissenschaft hat auch der religiöse Mensch seine Stelle. Es fragt sich, ob er zur Gegenwart eine eigene, eine besondere Beziehung hat, denn er scheint irgendwie übermenschlich, überzeitlich zu sein. Der religiöse Mensch scheint weniger an die Gegenwart verhaftet als der motorisierte oder der technisierte oder der Computer-Mensch. Es ist tatsächlich im religiösen Menschen ein überzeitliches Moment festzustellen. Er hat es vielleicht leichter als andere Menschen, sich selbst treu zu bleiben. Aber freilich, überzeitlich ist nur Gott; überzeitlich ist kein Mensch. Deswegen wollen wir heute zwei Fragen stellen, nämlich
1. Wie wirkt die Gegenwart auf den religiösen Menschen? Wie wird er von der Gegenwart bestimmt?
2. Wie wirkt der religiöse Mensch auf die Gegenwart? Welche Kräfte hat er, um auf sie zu wirken?
Die erste Frage lautet: Wie wird der religiöse Mensch von der Gegenwart bestimmt? Zunächst einmal die Vorfrage: Wer ist denn ein religiöser Mensch? Ist es der Mensch, der oft in die Kirche geht, der viel betet, der religiöse Studien betreibt? Das alles sind Anzeichen des religiösen Menschen. Aber das eigentliche Kennzeichen des religiösen Menschen besteht darin, daß er eine besondere, lebendige, persönliche Beziehung zu Gott hat. Der religiöse Mensch ist jener Mensch, der eine lebendige, religiöse Beziehung zu Gott besitzt. Dabei sind drei Typen zu unterscheiden, nämlich der Gottsucher, der Gottesknecht und der Gottesfreund. Der erste Typ des religiösen Menschen ist der Gottsucher. Es ist der Mensch, der nicht loskommt von Gott, der hinter den Erscheinungen der Welt Gottes Wirken aufzudecken versucht. Es ist der Mensch, der keine Ruhe findet um seinen Gott, unruhevoll umhergetrieben auch von Ängsten und Zweifeln um seinen Gott, der ständig fragt: Wo ist denn mein Gott? Ich kann ihn nicht sehen, ich kann ihn nicht finden, ich kann ihn nicht glauben, ich kann ihn nicht lieben, und ich muß doch zu ihm. Das ist der Gottsucher. Der zweite Typ ist der Gottesknecht. Das ist der Mensch, der Gott gehörig ist, der sich als Werkzeug Gottes weiß, ein Gottesbote, ein Gottesprophet oder auch nur ein Spielball Gottes. Aber was immer mit ihm geschieht, er spricht in allen Lagen: Es geschehe dein Wille. Der dritte Typ des religiösen Menschen ist der Gottesfreund. Er steht in einer großen Nähe zu Gott. Ihm ist Gott vertraut geworden. Der Gottesfreund weiß sich geborgen in der Vorsehung Gottes.
Diese drei Typen sind unter den Menschen verteilt. Es gibt Gottsucher, es gibt Gottesknechte, es gibt Gottesfreunde. Aber zu irgendeinem dieser Typen gehört jeder Mensch, und wir fragen jetzt nun: Wie wirkt die Gegenwart auf diesen religiösen Menschen? Wie wird er von der Gegenwart bestimmt?
Die erste Wirkung ist darin gelegen, daß der religiöse Mensch hat unterscheiden lernen zwischen Ewigem und Vergänglichem. Der religiöse Mensch ist innerlich abgelöst von den vergänglichen Dingen dieser Welt. Er weiß, daß das Göttliche nirgends in reiner Ausprägung zu finden ist, auch nicht in der Kirche, daß es überall gemischt ist mit Menschlichem und allzu Menschlichem. Das ist die Erfahrung, die erschütternde Erfahrung, die der religiöse Mensch in der Gegenwart macht, daß er sich also innerlich lösen muß von den Geschöpfen, weil er weiß, sie sind nicht das Absolute, sie sind nicht das Endgültige, sie sind nicht das innerlich Beglückende.
Die zweite Bestimmung, die der religiöse Mensch von der Gegenwart empfängt, besteht darin, daß er sich aufgerufen weiß, nicht die Welt zu verneinen, nicht die Welt zu fliehen, sondern in der Welt den Sinn der Welt zu suchen. Er ist aufgerufen, den Sinn der Welt zu suchen, den göttlichen Willen zu erkennen und ihn zu verwirklichen. Er weiß sich dazu bestimmt, der göttlichen Vorsehung nachzuspüren, auf ihre Intentionen einzugehen und nach ihrem Willen zu handeln. Der religiöse Mensch der Gegenwart ist dazu bestimmt, der Bote Gottes in dieser Welt zu sein.
Er sieht aber auch drittens das Widergöttliche. Er sieht überall die Mischung von Göttlichem und Widergöttlichem. Er erkennt die allmenschliche Verflochtenheit in Wahn und Schuld. Er sieht sich selbst in seiner Erbärmlichkeit. Er ist wahrhaftig gegen sich selbst geworden. Er kann sich nichts vormachen. Er weiß, er ist ein Sünder, und er bleibt ein Sünder. Er tritt deswegen stets mit zagendem Herzen vor Gott.
Die vierte Bestimmung, die der Mensch der Gegenwart empfängt, liegt darin, daß er sich als einen dienenden Menschen weiß. Er ist nicht gekommen, zu herrschen, sondern zu dienen. Er weiß um seine Verantwortung; er weiß um seine Aufgabe. Er ist für etwas anderes da als für sein eigenes Behagen, für seinen eigenen Nutzen oder auch nur für seine eigene Geltung. Nein, der Mensch der Gegenwart hat einen Dienstberuf, und diesen Dienstberuf muß er erfüllen, und nur so kann er ein wahrhaft religiöser Mensch sein.
Der Mensch der Gegenwart ist fünftens dadurch bestimmt, daß er nichts von sich hält. Er weiß: Ich bin nichts, es sei denn, daß Gott mich zu etwas macht. Er hält nichts von sich, und er verlangt nichts für sich. Er weiß, daß er ein liebender Mensch sein muß, und das heißt eben, über sich hinausgehen; das heißt, zu einem anderen hingehen und sich selbst verschenken, andere bejahen, andere beschenken, an anderen teilnehmen, ohne zu herrschen. Die Mnschen sehnen sich nach keinem anderen Typ des Menschen als nach dem liebenden Menschen. Wenn die Botschaft Gottes in der Gegenwart ankommen soll, dann nur durch liebende Menschen. Nur durch die Liebe kann ihnen die Botschaft Gottes glaubwürdig erscheinen. Das sind die fünf Bestimmungen, die der Mensch der Gegenwart, die der religiöse Mensch der Gegenwart von dieser Gegenwart empfängt.
Nun die zweite Frage: Wir wirkt der Mensch in der Gegenwart? Wie wirkt der religiöse Mensch in der Gegenwart? Er muß ja wirken, er muß notwendig Zeugnis geben. Sein Inneres treibt ihn dazu. Gott wird immer beurteilt nach seinen Bekennern, nach seinen Gläubigen, nach seinen Priestern, und so weiß er die Verantwortung, die auf ihm liegt für die Ehre Gottes, für das Ansehen der Kirche, für das Vorankommen des Reiches Gottes. Er kann deswegen nicht verzichten auf Wirken; er muß ein tätiger, er muß ein aktiver Mensch sein.
Er kann aber nur wirken als Beauftragter Gottes, das heißt in unbedingtem Gehorsam. In unbedingtem Gehorsam gegen den Willen Gottes erfüllt er seinen Auftrag. Gottes Wille aber ist die aufbauende, die heilende, die erlösende, die schenkende Liebe. Nur als ein bereitwilliger, als eon opferwilliger, als ein sich hingebender Mensch kann er in dieser Welt der Gegenwart wirken – mit dem Einsatz seiner selbst. Er kann sich nicht sparen, sonder er muß immer ganz dabei sein; entweder ganz oder gar nicht. Mit halbem und mit Dreivierteleinsatz ist nichts gewonnen. Er muß stets sein ganzes Ich, seine ganze Persönlichkeit einbringen. Er ist also nicht sparsam mit seinen Kräften; er zahlt immer und überall den ganzen Preis, den Preis seines Ich.
Der religiöse Mensch der Gegenwart hat drei wesentliche Kräfte, die ihm bei seinem Wirken zur Verfügung stehen, nämlich die Kraft seiner Persönlichkeit, die Kraft seiner Gottähnlichkeit und die Kraft seiner Gottverbundenheit. Die erste Kraft, die ihm zur Verfügung steht, ist die Kraft seiner Persönlichkeit. Nicht mit Apparaten, nicht mit Einrichtungen, nicht mit Kartotheken, nicht mit Computern wird das Reich Gottes vorangebracht. Leben entsteht nur aus Lebendigem, und wo keine lebendige Persönlichkeit ist, da nutzen alle äußeren Einrichtungen nichts. An solchen fehlt es ja unserer Kirche in Deutschland immer noch nicht. Wir haben viele Einrichtungen, wir haben viele Apparate, wir haben viele Stellen, Sekretariate und Zentralstellen. Wenn diese Stellen nicht ausgefüllt werden von lebendigen Persönlichkeiten, nutzt der ganze Aufbau nichts. Die Persönlichkeit allein vermag bleibende Wirkungen hervorzubringen. Man kann Druckschriften verteilen, das ist ja nicht überflüssig. Man kann Menschen einladen zu Vorträgen, und auch das muß ja sein. Aber wenn hinter all dem nicht die lebendige Persönlichkeit steht, dann ist all dieser Aufwand umsonst. Leben – ich sage es noch einmal – Leben entsteht nur aus Lebendigem. Die Persönlichkeit wirkt durch sich selbst. Sie wirkt schon durch ihr Dasein. Die Persönlichkeit entzündet die Welt, und das allein ist hilfreich. Nicht mit brennenden Kerzen in den Händen entzünden wir die Welt, sondern mit brennenden Herzen.
Die Kraft der Persönlichkeit wird gesteigert durch die Kraft der Gottähnlichkeit. Der religiöse Mensch, der etwa wirken will und soll, muß Gott ähnlich sein. Es besteht auf dem Grunde der heutigen Skepsis eine heiße Sehnsucht nach dem Erweis des göttlichen Daseins und der göttlichen Macht. Die Menschen möchten Gott schauen, sie möchten ihn berühren, sie möchten ihm begegnen. Aber Gott erscheint nicht im Sturmwind und auch nicht in Feuerflammen, sondern er erscheint nur im guten, im religiösen, im heiligen Menschen. Und wenn die Menschen einen solchen Menschen finden und sehen, dann eilen sie zu ihm, dann drängen sie zu ihm, dann fliehen sie zu ihm. Die Gottähnlichkeit also ist es, was anzieht, und der religiöse Mensch hat die stärkste Gottähnlichkeit. Er hat Eigenschaften, die ahnen lassen, wie Gott ist: Er ist rein und treu, er ist groß und vornehm, er ist tapfer und stark, er ist gütig und selbstlos. Diese Eigenschaften lassen uns ahnen, wie Gott sein muß. Diese Gottähnlichkeit ist es, die die Kraft seines Wirkens ausmacht. In dieser Richtung, so sagen sich die Menschen, muß das Wesen Gottes liegen.
Die dritte Kraft des religiösen Menschen ist seine Gottverbundenheit. Gott neigt sich ja dem Menschen, der ihn sucht. Er läßt sich ja finden, und er kehrt bei dem religiösen Menschen ein, er nimmt bei ihm Wohnung. Es gibt eine seinshafte, jawohl, eine seinshafte Verbindung des religiösen Menschen mit Gott, wir nennen sie die heiligmachende Gnade oder auch die ungeschaffene Gnade. Diese Gottverbundenheit ist vielleicht die stärkste Kraft des religiösen Menschen, diese unmittelbare Gegenwärtigkeit Gottes in der Seele. Der gottverbundene Mensch vermag andere Menschen zu dieser Verbindung zu führen. Wer mit einem solchen Menschen in Berührung tritt, der kommt in die Seinsnähe Gottes, und das ist ja das Entscheidende, daß wir die Menschen zu Gott führen, daß wir sie mit Gott in Verbindung bringen, daß wir in ihnen das Feuer des Heiligen Geistes entzünden durch die Gegenwart Gottes. Und so ist eigentlich das Entscheidende beim religiösen Menschen, daß er ein innerlicher, ein gottverbundener, ein gottähnlicher Mensch ist. Er wirkt mehr durch sein Sein als durch sein Tun. Er wirkt mehr durch innerliche Läuterung und Sammlung als durch blendende organisatorische Erfolge. Er wirkt mehr durch heiliges Leiden als durch Siegesfanfaren. Er wirkt mehr durch die Stille des inneren Werdens als durch die Öffentlichkeit seines Programmes. Er wirkt mehr durch sein bloßes Dasein als durch sein Tun.
Daß wir, meine lieben Freunde, solche Menschen werden, Menschen, die von Gott ergriffen sind und dadurch fähig sind, andere zu ergreifen, das ist der Sinn dieser Überlegungen. Daß wir Gott uns nahen und daß wir Gott finden und daß wir diesen Fund anderen vermitteln, das ist unsere entscheidende Aufgabe.
Amen.