Predigtreihe: Jesus, der Messias (Teil 1)
9. November 1997
Das Sendungsbewußtsein Jesu
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Eine entscheidende Frage, die wir an Jesus Christus richten müssen, lautet: „Was hältst du von dir selbst?“ Das Selbstbewußtsein eines Menschen ist für die Bewertung und die Beurteilung seiner Person ausschlaggebend. Denn entweder es stimmt, dann deckt es sich mit dem objektiven Befund; oder es stimmt nicht, dann ist der Betreffende einem Irrtum oder einer Täuschung erlegen. Lassen Sie sich dieses klare Entweder – Oder nicht vernebeln! Lassen Sie sich nichts vormachen! Es kommt alles darauf an, ob Jesus der von Gott gesandte Offenbarer ist oder nicht. Wir wollen nicht eine Religion wie andere haben. Wir wollen die absolute Religion besitzen, die der Sohn des himmlischen Vaters uns gebracht hat.
Daß Jesus ein besonderes Sendungsbewußtsein in sich trug, unterliegt keinem Zweifel. Er hat oft und oft sich als den vom Vater Gesandten bezeichnet. 25 mal im Johannesevangelium spricht Jesus von sich selbst als von dem, den der Vater gesandt hat. Der Vater ist selbstverständlich Gott, der himmlische Vater. Jesus sagt nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums: Ich bin nicht von mir selbst gekommen und von mir selbst ausgegangen. Ich bin nicht ein selbsternannter Offenbarer (so besagt das), sondern der Vater im Himmel hat mich gesandt. Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu erfüllen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern ich habe geredet und verkündet, was der Vater mir zu reden und zu verkünden geboten hat.
Da versucht man, einen Gegensatz zu konstruieren zwischen dem Johannesevangelium und den drei anderen Evangelien. Ja, sagt man, bei Johannes, da ist das Sendungsbewußtsein ausgesprochen, aber das ist eben aus einer späteren Zeit. Die synoptischen Evangelien (also Matthäus, Markus und Lukas) sprechen das nicht aus. O doch! Wenn Jesus predigend durch die Lande zieht, dann sagt er: Dazu bin ich ausgegangen, dazu bin ich gekommen! Und wenn er seine Aufgabe beschreibt, deretwegen er unterwegs ist, dann sagt er: Ich bin gekommen, nicht das Gesetz aufzuheben, sondern es zu erfüllen. Ich bin gekommen, nicht Gerechte zu berufen, sondern Sünder. In den Menschensohn-Worten hebt er hervor, daß der Menschensohn gekommen ist, sein Leben als Lösegeld für die vielen zu geben. Auch in den synoptischen Evangelien steht also das Leben Jesu unter dem Auftrag des Vaters. Daher kommt die Zielklarheit seines Wollens, daher die Entschiedenheit seines Tuns; daher auch die Fremdheit auf Erden und die Distanz gegenüber der Welt. Weil er dem Vater angehört, deswegen hat er eine Heimatsehnsucht. „Wie lange noch soll ich bei euch bleiben, wie lange noch euch ertragen?“, so bricht es einmal aus ihm hervor. Jesus hatte ein übermenschliches Selbst- und Sendungsbewußtsein. Er wußte sich vom Vater im Himmel gesandt auf diese Erde. „Ein Feuer auf die Erde zu werfen, bin ich gekommen, und was will ich anders, als daß es entflammt wäre!“
Aber schließt dieses Sendungsbewußtsein auch ein, daß er der Messias war? Ein evangelischer Theologe, William Wrede, hat einmal ein Buch geschrieben: „Das Messiasgeheimnis in den Evangelien“. Darin vertritt er die These, Jesus habe sich gar nicht als den Messias verstanden, sondern die Gemeinde habe ihn nach seinem Tode zum Messias erhöht. Sie habe ihm die Messiaswürde übertragen, die er selbst gar nicht in Anspruch genommen habe. Ich würde den William Wrede nicht erwähnen, wenn er nicht im katholischen Bereich Nachsprecher gefunden hätte, die ähnliches oder dasselbe sagen. Ist Jesus der Messias gewesen oder nicht? Hat er sich als den Messias verstanden oder nicht? Das ist die entscheidende Alternative.
Das ganze Auftreten Jesu, die Begeisterung, die er zeitweise erweckte, das Aufsehen, das er hervorrief, der Haß, der ihn traf, die Ablehnung, die er erfuhr, die Spannung, die über seinem ganzen Leben und Wirken lag, läßt sich nur erklären, wenn er in Anspruch genommen hat, der Messias zu sein. Seine Jünger haben ihn als den Messias verstanden, wenn auch mitunter mit einer falschen Messiasauffassung; denn wie könnten die beiden Söhne des Zebedäus sonst sagen: „Herr, wenn du in dein Reich kommst, sag, daß einer zur Rechten und einer zur Linken sitzen darf“? Das Volk hat ihn als einen Propheten angesehen, aber auch als mehr als einen Propheten. „Was ist denn das für einer, daß ihm sogar der Wind und die Wellen gehorchen?“ So sagen die Menschen nach der Stillung des Seesturmes. Und bei seinen Wundern bricht das Volk in die Worte aus: „So etwas haben wir überhaupt noch nicht gesehen.“ Die Menschen haben die Einzigartigkeit der Erscheinung Jesu gespürt. Sein Einzug in Jerusalem war ein messianisches Ereignis. „Hosanna dem Sohne Davids!“ Das war eine Bezeichnung für den Messias. Der Messias mußte aus dem Stamme Davids kommen; und wer jetzt gefeiert wurde als der Sohn Davids, der war der Messias. Jesus hat das nicht abgelehnt; er hat die Huldigung angenommen. Wenn er nicht der Messias gewesen wäre, wenn er sich nicht als der Messias verstanden hätte, dann hätte er sich dagegen wehren müssen. Dann hätte er sagen müssen: „Ihr habt unrecht.“ Nein, er hat sich die Huldigung gefallen lassen. Und er hat auch mit genügender Bestimmtheit sich als den Messias bekannt allen denen gegenüber, die ein Recht hatten, von ihm Auskunft zu verlangen. Das war zunächst Johannes der Täufer. Er war im Gefängnis, und es scheint – so kann man jedenfalls die Frage deuten –, daß er unsicher geworden war in bezug auf das Auftreten Jesu. Vielleicht hatte er es sich anders vorgestellt. Und so fragte er durch seine Jünger, die er zu Jesus schickte: „Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Der Kommende, das ist niemand anderes als der Messias; denn der Täufer hatte ja davon gesprochen, daß einer nach ihm kommen werde, dem die Schuhriemen zu lösen er nicht würdig sei. Und was antwortet Jesus? „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird Heilsbotschaft verkündet, und Heil dem, der sich an mir nicht ärgert!“ Was ist das für eine Antwort? Das ist eine aus dem Weissagungsschatz des Alten Testamentes genommene Antwort. So hatte nämlich der Prophet Isaias den Messias geschildert, wenn er kommt, daß er mit seiner Wundermacht die Kranken heilt und die Tauben mit dem Gehör versieht. Wer also jetzt sagt, daß das alles in ihm in Erfüllung gegangen ist, der erklärt damit: Ich bin der Messias. In der Einsamkeit von Cäsarea Philippi fragt Jesus die Jünger, für wen die Leute ihn halten. Und da kommen die verschiedenen Ansichten zutage: Die einen meinen, er wäre Elias, andere halten ihn für Jeremias oder einen der Propheten. Und dann stellt Jesus die Frage: „Für wen aber haltet ihr mich?“ Da bekennt Petrus im Namen des Jüngerkreises: „Du bist der Christus!“ Das ist das griechische Wort für das hebräische Maschiach – Messias. „Du bist der Messias!“ So bekennt Petrus. Und der Herr nimmt dieses Bekenntnis an. Ja, er zeichnet den Petrus aus. Weil er dieses Bekenntnis abgelegt hat, deswegen macht er ihn zum Felsenmann, deswegen gibt er ihm die Schlüssel des Himmelreiches.
Eine letzte Bezeugung seiner Messiaswürde hat er geleistet im Angesichte des Todes. Sein Prozeß war ein messianischer Prozeß. Er wurde angeklagt, weil er in Anspruch nahm, der Messias zu sein. Der Hohepriester Kaiphas fragte ihn im Prozeß: „Bist du Christus, der Sohn des Hochgelobten?“ Die höchste jüdische Autorität heischte von ihm Auskunft über sein Selbstbewußtsein, über sein Würdebewußtsein, über sein Sendungsbewußtsein. „Bist du der Christus, der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“ Klar und entschieden kommt die Antwort: „Ich bin es.“ Im Angesichte des Todes hat Jesus sich zum Messiasbewußtsein bekannt, hat er seine Messiaswürde bekundet. Im Angesichte des Todes ist er keinen Deut von seinem Anspruch, der Messias zu sein, abgewichen.
Nun gibt es aber – und darauf weist der protestantische Autor Wrede hin – eine Reihe von Stellen in den Evangelien, wo Jesus den Dämonen, die ihn erkennen, verbietet, ihn bekannt zu machen, wo er den Jüngern sagt, sie sollten nicht darüber sprechen, daß er der Messias sei. Aha, sagt Wrede, da sieht man es. Die Gemeinde hat hier zu erklären versucht, warum die Messianität Jesu (die sie bekannte) im Leben Jesu keine Rolle gespielt hat; sie wollte die (angebliche) Tatsache vertuschen, daß Jesus sich nicht als den Messias verstanden hat. Sie hat deswegen diese Schweigegebote in das Evangelium eingefügt. O nein, meine lieben Freunde, die Reserve und die Vorsicht, die Jesus gegenüber dem Titel des Messias angewendet hat, hat einen ganz anderen Grund. Es gab nämlich damals eine vorherrschende, politisch-nationale Messiasauffassung. Das Volk stellte sich den Messias vor als den politischen Befreier, und zwar als den Befreier von der römischen Besatzung. Die Menschen der damaligen Zeit waren der Meinung, daß der Messias in einem wunderbaren Aufschwung das Volk zum Aufstand aufrufen werde gegen die Besatzungsmacht, daß er die Feinde vernichten und die Weltherrschaft Israels begründen werde. Eine solche Messiasauffassung hatte Jesus allerdings nicht. Er wollte nicht ein politisch-nationaler, sondern ein religiöser Messias sein. Deswegen weist er alles ab, was in die Richtung des Politisch-Nationalen geht. Bei der Steuerfrage sagt er: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ Er läßt sich nicht provozieren. Als die Massen ihn nach der Brotvermehrung zum König machen wollen, da entzieht er sich ihnen. Er will kein Brotkönig sein, denn er gibt eine unvergängliche Speise.
Jesus hat die irdischen, weltlichen Messiaserwartungen entschieden abgelehnt. Da kommt ein Mann zu ihm und bittet: „Sage meinem Bruder, er solle das Erbe mit mir teilen!“ „Mensch“, fährt Jesus ihn an, „Mensch, wer hat mich zum Erbteiler über euch gesetzt?“ Er mischt sich nicht in irdische Geschäfte, in Vermögensangelegenheiten ein. Jesus hat die falsche Messiaswürde, die falsche Messiasauffassung abgelehnt, um der richtigen den Weg zu bereiten. Und er hat es deswegen vorgezogen, sich häufiger mit einem ganz anderen Wort zu bezeichnen als Messias, nämlich mit dem Wort Menschensohn. 70 mal in den Evangelien nennt er sich selbst den Menschensohn. Was ist das für eine Bezeichnung – der Menschensohn? Woher kommt sie? Nicht aus dem Mandäismus, wie protestantische Forscher behaupten, sondern die Bezeichnung als Menschensohn stammt aus dem Alten Testament, aus dem 7. Kapitel des Buches des Propheten Daniel. Da hat Daniel eine Vision. Er sieht einen Menschensohn, der vor Gott geführt wird. Gott überträgt ihm die Herrschaft, die ewige Herrschaft, die niemals enden wird. Das ist die Vorstellung, die Jesus auf sich bezogen hat. Er ist der Menschensohn nach Dan 7. Und das ist eine Hoheitsvorstellung, nicht eine Niedrigkeitsanschauung, der Menschensohn ist einer, der Herrschaft und Macht und Gewalt besitzt. Und dazu hat er sich bekannt im Angesicht des Todes, in seinem Prozesse: „Ihr werdet den Menschensohn sehen mit den Wolken des Himmels kommen.“
Freilich verbindet er dieses Menschensohn-Ideal mit dem leidenden Gottesknecht bei Isaias, im Buche der Reden des Isaias. Der Menschensohn ist gekommen, zu leiden. Er muß beschimpft, er muß verspottet, er muß gekreuzigt werden. Der Menschensohn ist gekommen, sein Leben als Lösegeld für die vielen hinzugeben. Das ist die Messiasauffassung, die Jesus gehabt hat. Er ist der Messias, aber er ist der Messias nach den Vorstellungen Gottes und nicht nach den Meinungen der Menschen. Er ist der Menschensohn, der von Gott gesandte Menschensohn, der einst in Macht und Herrlichkeit wiederkommen wird. Aber er ist auch der zertretene Wurm, der die Schuld und die Sünde der Welt auf sich nimmt und am Kreuze verblutet.
Wir haben also keinen Anlaß, meine lieben Freunde, am Selbst- und Sendungsbewußtsein unseres Heilandes zu zweifeln. Er hat sich als den Messias Gottes verstanden. Er hat das Bekenntnis des Petrus angenommen: „Du bist der Messias, der Sohn des Hochgelobten!“ Er hat ihm geantwortet: „Wahrhaftig, nicht Fleisch und Blut hat dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist.“
Amen.