Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Beherrschung der Sinne (Teil 6)

12. November 1995

Segen und Gefahren der menschlichen Leidenschaft

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Mensch besitzt ein doppeltes Erkenntnis- und Strebevermögen, ein geistiges und ein sinnenhaftes oder sinnliches. Das geistige Strebevermögen nennen wir Willen; es wird angeregt durch den Verstand. Das sinnliche oder sinnenhafte Strebevermögen nennen wir Begehren, und es wird angeregt durch sinnliche Vorstellungen. Eine besonders starke Weise des sinnlichen Begehrens trägt den Namen Leidenschaft. Die Leidenschaft ist eine heftige Erregung des sinnlichen Begehrens, die angeregt wird durch eine sinnliche Vorstellung von einem Gut oder einem Übel. Die menschliche Natur ist von Gott mit der Fähigkeit, leidenschaftlich zu reagieren, ausgestattet. Die Leidenschaft ist also nichts Böses, solange sie vom menschlichen Willen und Verstand beherrscht wird. Sie kann sogar etwas Gutes sein, wenn sie nämlich in den Dienst des Verstandes und des Willens tritt. Der Wert der Leidenschaft richtet sich nach der Beziehung zu dem Willen. Wenn die Leidenschaft dem vom erleuchteten Verstand geleiteten Willen folgt, dann ist sie gut, wenn sie dem vom Verstand geleiteten Willen widerspricht, dann ist sie schlecht.

Unser Herr und Heiland war eine leidenschaftliche Natur. Wir sehen ihn, wie er die Käufer und Verkäufer in hoher Empörung aus dem Tempel treibt. „Der Eifer für dein Haus verzehrt mich“, dieses Wort kam dabei den Jüngern ins Gedächtnis. Der Herr war kein antriebsschwacher und kein gemütsschwacher Mensch, sondern ein antriebsstarker und ein gemütvoller Mensch. Er liebte den Johannes mehr als die übrigen Apostel; er weinte beim Tode seines Freundes Lazarus und war tief erschüttert, als er an seinem Grabe stand; er begann zu zittern und zu zagen, als er am Ölberg den grausamen Tod vor Augen sah. Der Herr hat mit der menschlichen Natur auch die menschlichen Leidenschaften angenommen. Auch die Heiligen waren oft leidenschaftliche Naturen. Es ist nicht wahr, wenn man meint, jemand, der antriebsschwach sei, habe bessere Veranlagung, heilig zu werden als ein anderer, der von starken inneren Spannungen bewegt ist. Nein, die Leidenschaften könen die Fittiche sein, die einen Menschen zu einem großen Menschen machen. Es kommt nur darauf an, wie sie eingesetzt und wie sie verwendet werden. Die Qualität, die sittliche Qualität der Leidenschaften hängt ab von ihrer Beziehung zum Willen.

Sie können nun dem Willen vorausgehen oder ihm nachfolgen. Wenn sie dem Willen vorausgehen, beeinträchtigen sie den Willen, die Willensfreiheit und manchmal auch die Überlegung. Wenn sie ihm nachfolgen, können sie entweder natürliche Folgerungen des Willens sein, oder sie können vom Willen selbst angeregt werden. Natürliche Folgen des Willens sind Erscheinungen, die wir an unserem Körper beobachten: Wenn wir Furcht haben, dann empfinden wir, wie das Herz schneller klopft; wenn wir erregt sind, dann keucht der Atem; wenn wir erschreckt sind, dann werden wir bleich. Heftige Erregungen unseres Inneren zeichnen sich also im Körper ab. Plötzliche Freude und unerwartetes Leid können den Tod herbeiführen. Auf dem Friedhof meiner Geburtsstadt ist ein Grabstein zu sehen, auf dem stehen die Worte: „Er kommt, er kommt – wie freu ich mich!“ Wie sind diese Worte auf den Grabstein gelangt? Es handelt sich bei der Verstorbenen um die Gattin eines Offiziers. Er war 4 Jahre lang im Ersten Weltkrieg fern der Heimat gewesen und jetzt hatte er angekündigt, daß er nach Hause komme. Die Frau war in äußerster Erregung und Freude ob des Widersehens. Und als er kam, eilte sie ihm entgegen und rief: „Er kommt, er kommt – wie freu ich mich!“ und brach dabei tot zusammen.

Die Leidenschaften sollen in den Dienst unseres guten Willens treten. Wenn sie sich nämlich vom Willen lösen, dann werden sie zu einer großen Gefahr. Sie vermögen die festesten Grundsätze umzuwerfen, sie verwirren den Geist, sie geben dem Menschen schlechte Gesinnungen und rastlose Tätigkeiten im Hinblick auf das Böse ein. Wir alle wissen, was es um einem Menschen ist, der ein leidenschaftlicher Spieler ist. Er findet keine Ruhe, bis er wieder am Spieltisch sitzt und dort sein Vermögen und manchmal sein ganzes Hab und Gut, sein Glück und seinen Beruf verspielt. Leidenschaften können einen Menschen zum gesundheitlichen Ruin treiben. Die Leidenschaft des Trinkens, auch die Leidenschaft des Essens, die Leidenschaft der Drogen können einen Menschen zugrunde richten. Die mehr auf das Geistige gerichteten Leidenschaften, wie Geltungsdrang, Karrierestreben, Ehrgeiz, können ebenfalls einen Menschen zerfressen und seine besten Gesinnungen zerstören. Ein ehrgeiziger Mensch ist selten ein guter Kamerad. Wer nur an seine Karriere denkt, der arbeitet mit den Ellenbogen und drängt die anderen beiseite; die Leidenschaft treibt ihn voran. Und was soll ich sagen von der Leidenschaft, die zum anderen Geschlecht treibt? Wir alle wissen, welche furchtbare Gefahr in dieser Leidenschaft verborgen liegt. „So taumle ich von Begierde zum Genuß, und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde“, so bekennt Faust in der großen Dichtung von Goethe. Die Leidenschaft verblendet, die Leidenschaft macht blind. Sie läßt den Menschen nicht mehr vollen Gebrauch von seinem Verstande machen. Sie reißt ihn fort und überspült die Kraft seines Willens.

Anders aber ist es, wenn die Leidenschaft in den Dienst des Willens tritt. Da vermag sie den Menschen zu stärken, seinen Willen zu kräftigen. Wenn die Leidenschaft dem Willen zur Verfügung steht, dann entwirft er großartige Pläne und findet die Kraft, sie durchzuführen; dann vermag er die Widerstände gegen seine Pläne zu überwinden; dann werden ihm hohe Gesinnungen eingegeben, und er entwickelt einen Scharfsinn und eine Kraft des Geistes, die er davor nicht hatte. Wir sprechen von einem leidenschaftlichen Musiker. Das ist eben jemand, der gleichsam besessen ist von seiner Kunst und sie zur höchsten Vollendung führt durch unermüdliches Üben und ständige Praxis. Wir kennen leidenschaftliche Ärzte, die beinahe alles vergessen über dem Dienst an den Kranken. Es gibt die leidenschaftliche Suche nach der Wahrheit. Dem Diener Christi sollte ein leidenschaftliches Verlangen nach Rettung der Seelen zu eigen sein. „Gib mir Seelen, Herr, alles andere nimm von mir“, hat der heilige Ignatius gebetet. Das war die Leidenschaft für das Reich Gottes, das war jener Eifer, der dem Heiland zugeschrieben wurde, als er die Wechsler und Verkäufer aus dem Tempel trieb. „Der Eifer für dein Haus verzehrt mich.“

Diese Leidenschaft, die dem Willen nachfolgt, die vom Willen hervorgerufen wird, die mit dem guten Willen zusammenstimmt, ist es, die wir in uns erwecken sollen. Kraftvoll und mutig, allen Hindernissen zum Trotz, furchtlos und tapfer sollen wir den Auftrag, den wir von Gott empfangen haben, durchführen. Die Leidenschaften sind uns dabei eine ganz gewichtige Hilfe.

Freilich ist die Harmonie zwischen Verstand und Wille und Begehrungsvermögen und Leidenschaft nicht mehr gewahrt wie im Zustand vor der Erbsünde. Seit der Erbsünde treten diese Faktoren leicht auseinander. Der Wille und die Leidenschaft können sich gegenseitig bekämpfen und stören, der Verstand kann von der Leidenschaft überwältigt werden; deswegen muß die Leidenschaft geordnet werden. Sie wird geordnet durch Beschäftigung und Einschränkung. Die erste Weise, wie wir die Leidenschaft in unseren Dienst zwingen, ist angemessene, geordnete, rastlose Beschäftigung. Wir müssen unsere Phantasie und unsere Körperkräfte dem Willen unterordnen und für geeignete Ziele in den Dienst nehmen. „Müßiggang ist aller Laster Anfang.“ Die Heilige Schrift verurteilt wenige Laster so sehr wie die Trägheit. Im Buch der Sprüche heißt es einmal: „Am Acker des Faulen kam ich vorüber und am Weinberg des Toren. Siehe, ganz aufgegangen war er in Disteln, obenauf war er ganz mit Unkraut bedeckt, seine Mauer war eingestürzt. Ich sah und habe es beherzigt, ich blickte hin und ließ es zur Lehre mir werden.“ Also angemessene, geordnete Beschäftigung vermag uns vor den Gefahren der Leidenschaft zu bewahren, ist geeignet, die Leidenschaft dem Willen unterzuordnen und in seinen Dienst zu nehmen.

Das zweite Bild ist die Einschränkung. Also, was wir an den letzten Sonntagen schon mehrfach bedacht haben, Abtötung und Überwindung sind notwendig. An erster Stelle muß die Phantasie beherrscht werden; wir müssen dafür sorgen, daß wir nur gute Sinnesbilder in uns aufnehmen, denn Schlechtes, was durch die Sinne in unsere Seele eindringt, vermag dort Verwüstungen hervorzurufen. Sodann müssen wir dafür sorgen, daß die Leidenschaft sich nicht bei jeder Kleinigkeit regt. Man darf nicht überspannt sein, man darf nicht die Mücke zum Pferde machen, sondern man muß beherrscht bleiben und die Leidenschaft da einsetzen, wo sie angemessen ist. Wer sich bei jeder Kleinigkeit aufregt und außer sich gerät, der hat die Leidenschaft nicht richtig in seinen Dienst genommen. Es muß eine Proportion zwischen Anlaß und Auswirkung bestehen. Und schließlich dürfen wir die Leidenschaft auch nicht zu lange festhalten. Wir müssen dafür sorgen, daß, nachdem die Tat vollbracht ist, nachdem das Werk errichtet ist, der Mensch sich wieder in einen gewissen Mittelzustand zurückbewegt und auf diese Weise seinen inneren Ausgleich findet. Bei allem darf der Blick nach oben nicht fehlen. Das Maß der Gnade wird bestimmt durch das Maß unseres Vertrauens. Gott gibt uns soviel, wie wir ihm vertrauen. Wir können ihn nicht mehr enttäuschen, als wenn wir ihm nicht vertrauen. Der Kampf um den rechten Gebrauch der Leidenschaften wird uns in diesem Leben bis zum Ende nicht abgenommen werden. Aber wenn wir die Leidenschaft in unseren Dienst zwingen, wenn wir die Herrschaft über sie gewinnen, dann werden wir über unsere Schwäche hinausgehoben und den wahren Frieden im Dienste Gottes finden.

Amen

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt