Predigtreihe: Die Kirche (Teil 1)
28. November 1993
Die Sünde in der Kirche
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Sünde in der Welt des heiligen Gottes ist ein Geheimnis. Aber ein noch größeres Geheimnis ist die Sünde in der Kirche. Daß es in dem erlesenen Geschöpf Gottes, welches die Kirche ist, Sünde gibt, ist ein unaufhellbares Mysterium. Der Ermöglichungsgrund für die Sünde in der Kirche ist die menschliche Freiheit und die Vorsehung Gottes. Die Sünde in der Kirche und die Versuchung der Menschen in der Kirche haben ihre Parallele im Leben Jesu. Auch er wurde versucht, wie wir gesehen haben, und deswegen nimmt die Versuchung in der Kirche teil an dem Geheimnis der Selbstentäußerung Gottes in die menschliche Natur hinein und der Versuchung dieser menschlichen Natur durch den Satan.
Der Satan wollte schon das Vollbringen des Erlösungswerkes verhindern und er sucht jetzt seine Auswirkung zu vereiteln. Der Herr hat diesen Zusammenhang vorausgesehen und vorausgesagt. „Der Satan hat verlangt, auch zu sieben, wie man den Weizen siebt.“ Und in seinen Gleichnissen hat er beschrieben, daß es in der Kirche Gute und Böse geben wird. Das Ackerfeld trägt nicht nur Weizen, sondern auch Unkraut; unter den Fischen sind gute und schlechte; von den zehn Jungfrauen haben fünf kein Öl in ihren Krügen. Der Herr warnt seine Jünger vor Ehrsucht und Eifersucht, vor Herrschsucht und Machtsucht. Die Versuchungen, die den Herrn trafen, begegnen auch der Kirche. Er wurde versucht, seine göttliche Macht für irdische Zwecke einzusetzen – erste Versuchung. Er wurde versucht, durch ein irdisches Mittel, ein Schauwunder, nicht durch Tod und Kreuz die Menschen zu gewinnen – zweite Versuchung. Ihm wurden die Herrlichkeiten der Welt angeboten, wenn er niederfällt und Satan anbetet – dritte Versuchung.
Diese Versuchungen sind im Leben der Kirche immerdar vorhanden. Es gibt keine Zeit der Kirchengeschichte, in der sie nicht zu spüren wären. Das muß so sein! Denn die Kirche ist der Ort, wo das Böse am ernstesten und am wirksamsten bekämpft wird. Deswegen macht auch der Satan die größten Anstrengungen, die Kirche in die Selbstsucht, in die Selbstherrlichkeit, in die Weltlichkeit hineinzustürzen. Es wird ihm nie vollends gelingen, solange die Kirche um die Sünde weiß und die Sünde zu überwinden bestrebt ist.
Die Kirche hat tieferen Einblick in die Sünde als die anderen Menschen, weil sie sich an der Heiligkeit Gottes mißt, weil sie unter dem Gericht Gottes steht, weil sie einen Maßstab hat, den die außerhalb der Kirche Stehenden nicht besitzen.
Die Kirche führt den Kampf gegen die Sünde in vielfacher und vielfältiger Weise. Alle Glieder der Kirche sind aufgerufen, täglich zu beten: „Vergib uns unsere Schuld!“ Alle Angehörigen der Kirche, Hirten und Herde, müssen bei der heiligen Messe an die Brust schlagen und sagen: „Durch meine Schuld! Durch meine Schuld! Durch meine übergroße Schuld!“ Und wenn der Priester nach der heiligen Wandlung still betet, da erhebt er einmal seine Stimme und bittet um Verzeihung für uns Sünder: „Nobis quoque peccatoribus.“
Immerdar wird in der Kirche das Bußsakrament gespendet, und alle unterwerfen sich ihm, oder besser: Alle sind aufgefordert, sich ihm zu unterwerfen, Amtsträger wie Nicht-Amtsträger. Und es gehört zu den erschreckendsten Zeichen der Nachkonzilszeit, daß die Beichtpraxis zusammengebrochen ist.
Mein Freund, der Universitätsprofessor Schmitz, hat jetzt, nachdem er aus dem Amt geschieden ist, die Pfarrei Marienborn übernommen. Er sagte mir, er habe an den Samstagen fast überhaupt keine Beichten. Wie in Marienborn ist es in den meisten Pfarreien der deutschen Bistümer. Der Verlust des Bußsakramentes ist von ungeheurer Tragweite, weil die Kirche nicht mehr ihrer entscheidenden Aufgabe nachkommt, die Menschen von Sünden zu befreien. Wenn die Kirche aufhört, die Sünde zu bekämpfen, dann fällt sie von sich selbst ab, dann verrät sie ihr Wesen, dann verleugnet sie ihre Sendung. Denn das ist ihre erste Aufgabe: die Sünde zu überwinden, den Bösen niederzuwerfen, um das Kommen des Herrn zu bitten, nicht nur um das Kommen zum Endgerichte, sondern auch, um sie zu entsündigen und zu entsühnen. Die Kirche ist immer unterwegs als Pilgerin von der unheiligen Vergangenheit durch die bereute Gegenwart zur heiligen Zukunft. Sie ist nie am Ende auf diesem Wege. Erst wenn die Wiederkunft Christi stattfinden wird, dann wird sie am Ziele sein, aber bis dahin muß sie pilgern und sich unter das Gericht Gottes beugen und die Sünde bekämpfen.
Es ist ein phantastischer Gedanke, wenn man annehmen würde, die Kirche könne jemals mit diesem Kampf zu Ende sein. Daß es nicht so ist, wird ja der Kirche manchmal zum Vorwurf gemacht. 2000 Jahre, sagt man, ist die Kirche schon am Wirken, und immer noch gibt es Sünde. Meine lieben Freunde, der Kampf gegen die Sünde ist kein Vorgang, der einmal beginnt und dann zum Ende kommt. Die Heiligkeit und die Tugend vererben sich nicht wie ein Besitz, sondern der Kampf gegen die Sünde muß in jeder Generation, in jedem Menschen neu aufgenommen werden. Jede Generation und jeder Mensch müssen sich neu entscheiden für das Gute. Deswegen kann der Kampf der Kirche gegen die Sünde nicht aufhören.
Alle, alle sind aufgerufen, an diesem Kampfe teilzunehmen, Amtsträger und Nicht-Amtsträger. Alle sind auch dafür verantwortlich, ob die Kirche heilig oder ob sie sündig ist. Man soll nicht nur auf die Zeiten des 10. oder des 16. Jahrhunderts verweisen, mit dem Massenabfall und dem Versagen der Hirten, sondern an die Gegenwart denken; heute und jetzt ist ein jeder von uns verantwortlich, wie heilig oder wie unheilig die Kirche ist. Jeder muß immerfort die Ichsucht und die Selbstherrlichkeit im eigenen Inneren bekämpfen.
Freilich haben die Amtsträger eine besondere Aufgabe und auch eine besondere Verantwortung. Sie stehen für die Überwindung des Bösen und die Herausarbeitung der Heiligkeit für die Kirche; sie sind deren Repräsentanten, und man ist leicht geneigt, die Kirche nach ihren Amtsträgern zu beurteilen. Die Übelwollenden suchen in dem Versagen der Amtsträger eine Entschuldigung, um sich der Verkündigung der Kirche zu entledigen. Aber die Wahrheit ist unabhängig von der Heiligkeit oder Unheiligkeit der Verkündiger. Das hat seinerzeit schon der Herr den Juden, seinen Zeitgenossen, gesagt: „Was sie euch lehren, das haltet!“ Also die Lehre ist nicht tangiert, wenn derjenige, der sie verkündet, sich nicht nach ihr richtet. Aber freilich ist das Auseinanderklaffen von Lehre und Leben für viele Menschen ein Alibi, um der Botschaft den Gehorsam zu versagen. Nun sind in den letzten Jahren, meine lieben Freunde, viele – allzu viele – Fälle von Amtsträgern bekanntgeworden, die ihrem heiligen Auftrag ungetreu gewesen sind, die sich öffentlich in Sünde, häufig in peinliche Sünde, eingelassen haben. Vor einiger Zeit war im Fernsehen – so wurde mir berichtet – eine Sendung, in der von angeblich 400 Priestern in den USA die Rede war, die sich in geschlechtlicher Beziehung verfehlt haben, auch mit Kindern, Ministranten und Mädchen eingelassen haben. 400 versagende Priester sind 400 zu viele Versager. Jeder von ihnen verdient scharfen Tadel und strenge Strafe. Wir sind die letzten, die dieses Versagen entschuldigen wollen. Aber, meine lieben Freunde, es gibt manches zur Erklärung zu sagen.
Die erste Erklärung besteht darin, daß die Priester versuchlich sind wie alle übrigen Menschen. Sie haben genau dasselbe Erbe Adams in sich wie alle anderen. Sie spüren die Neigung zur Sünde wie jeder andere Mensch. Es gibt keine Ausnahme von der bösen Begierlichkeit, wenn man ein Amt durch die Weihe empfängt. Auch der Priester bleibt versuchlich.
Die zweite Erklärung: Der Teufel macht größere Anstrengungen, die Priester zu verführen als die übrigen Gläubigen, denn er weiß, daß, wenn er den Priester zu Fall bringt, sein Sturz viele andere nach sich zieht. Der Teufel ist schlau, und er kennt den Satz: „Ich will den Hirten schlagen, damit sich die Herde zerstreut.“ So sind also die Priester nicht weniger, sondern mehr Versuchungen ausgesetzt.
Die dritte Erklärung: Wir leben in einer permissiven Gesellschaft, wie es einmal der Kardinal Höffner genannt hat. Eine permissive Gesellschaft ist eine solche, in der fast alles erlaubt ist. Und diese Freizügigkeit, dieser Libertinismus, tobt sich in besonderer Weise auf dem geschlechtlichen Gebiete aus. Hier sind Verfehlungen, Perversitäten, Ungeheuerlichkeiten am laufenden Bande zu beobachten, von denen man früher ganz selten einmal hörte oder die man nur vom Hörensagen kannte. Es ist da geradezu ein Sog entstanden, sich geschlechtlich zu betätigen, möglichst früh, möglichst lange und möglichst ausgiebig. Ein regelrechter Zug zu geschlechtlicher Betätigung hat sich über unsere Gesellschaft ausgebreitet. Und ihm sind auch die Priester ausgesetzt. Sie sind Kinder ihrer Zeit. Sie leben in dieser Gesellschaft, in dieser sexualisierten Gesellschaft, und jeder, der sich daran nicht beteiligt, wird als dumm und rückständig angesehen. Kein Wunder, daß manche von ihnen diesem Sog erliegen und sich der Sünde überlassen. Die erwähnten 400 Fälle in den USA haben den Heiligen Vater alarmiert, und er hat seine Betrübnis oft ausgesprochen, als er auf seiner letzten Reise in Amerika war. In den USA selbst ist man über diese Fälle tief betroffen. Allerdings sucht man auch nach Erklärungen. Die New-York-Post, eine amerikanische Zeitung, schreibt dazu: „Catholic priests are no less heir to the temptations und human frailties of all men. Some fall, and it should neither surprise nor scandalize anyone. There are about 56.000 Catholic priests in the United States. The Vatican estimates about 400 are implicated in sex scandals. That's a failure rate of 0.7 percent. By way of comparison, JESUS CHRIST chose 12 apostles, among them one who did not stay the course. His 'failure rate'was 8 percent.“ Also hier versucht man einen Vergleich zu ziehen zwischen unserem Herrn Jesus Christus und seinen Aposteln und der gegenwärtigen Kirche. Unter den 12 Aposteln war einer, der versagte, das ist eben eine Fehlerrate von 8 Prozent, während von 56.000 amerikanischen Priestern 400 in solche Skandale verwickelt sind, das wären nur 0,7 Prozent. Ich weiß nicht, ob der Versuch tauglich ist, die Menschen zu beruhigen, denn ein jeder Fall ist einer zu viel.
Wenn wir nach Erklärungen für die tief bedauerlichen Fehltritte von Priestern suchen, muß ich noch eine vierte anführen, nämlich: Wenn ein Priester der Suggestion des Geschlechtlichen erliegt, dann hat das in der Regel einen viel tiefer liegenden Grund als nur die Sogkraft, die nun einmal dieser furchtbare Trieb im Menschen hat. Der letzte Grund für das Versagen ist bei vielen Priestern der Verlust des Glaubens! Wer nicht mehr glaubt an Gott, an das Geheimnis seines Priestertums, an das Glück, die heilige Messe zu feiern, der sucht seine Befriedigung anderswo, der will in irdischen Werten seine Freude finden, die er in der Religion nicht mehr findet.
Vor wenigen Wochen, meine lieben Freunde, sprach ich in der Vorlesung auf der Universität vor Studenten davon, daß das größte Glück des Priesters sei, die heilige Messe zu feiern. Die Antwort war ein Gelächter. Ich wurde ausgelacht! So sind die Verhältnisse! Und sie erklären zu ihrem Teil, warum heute relativ viele Priester sich verfehlen, in schwere Sünde fallen und dann ihre heilige Aufgabe im Dienste Gottes verraten. Die größten Gaben sind oft mit den höchsten Gefahren verbunden. Das gilt auch für das Priestertum. Weil das Priestertum der Kirche eine so hohe, subtile Angelegenheit ist, deswegen ist auch die Möglichkeit des Absturzes so naheliegend. Corruptio optimi pessima: Wenn das Gute, wenn das Beste verdirbt, dann ist der Fall am schlimmsten.
In dieser Stunde, meine lieben Freunde, wo die Not der Kirche, die aus tausend Wunden blutet, uns ans Herz greift, wollen wir uns besinnen, daß nicht die Kirche daran schuld ist, wenn Priester und Laien versagen. Hunderte und Tausende Fälle von Verfehlungen der Amtsträger und der Nicht-Amtsträger beweisen nichts gegen die Kirche. Nur ein Fall wäre beweisend, nämlich wenn jemand schlecht wird, weil er der Kirche folgt und weil er die Kirche liebt. Wenn es aber Hunderte und Tausende von Christen gibt, die sich gegen die Gebote der Kirche und gegen die Lehre der Kirche dem Bösen überlassen, dann ist nicht die Kirche daran schuld, sondern dann ist die Kirche eine mißhandelte und geschändete Mutter, und eine Mutter verläßt man nicht, wenn sie krank ist und betrübt wird von ihren eigenen Kindern.
In dieser Stunde wollen wir unseren Glauben an die Kirche und unsere Liebe zur Kirche erneuern. Sie ist und bleibt die Stiftung Christi, auch wenn noch so viele dieser heiligen Mutter ins Gesicht schlagen. Sie ist und bleibt die einzige Arche des Heiles, auch wenn noch so viele es vergessen.
Die Kirche bedarf unserer Treue und unserer Liebe in dieser Stunde. Wir wollen nicht nachlassen, dieser Mutter zu dienen und sie zu trösten, soweit es an uns ist. Womit denn trösten? Wir wollen sie trösten durch unsere Tugenden, indem wir sie mit unserer Persönlichkeit schmücken, indem wir uns auszeichnen durch ein strenges, beherrschtes und im Dienste Gottes verbrachtes Leben.
Programme entwerfen, Kritik üben, das bringt die Kirche nicht weiter. Wohl aber sie zu zieren mit einem heiligmäßigen Leben, das fördert die Kirche, und das überzeugt die Menschen, die zur Kirche finden sollen. Wenn wir das tun, dann werden wir uns beweisen als das, was wir sind: ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliger Stamm, ein zu eigen erworbenes Volk, das die Wundertaten dessen verkünden soll, der uns berufen hat.
Amen.