Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Tod, Fegefeuer, Hölle und Himmel (Teil 3)

21. Oktober 1990

Das besondere Gericht

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Ich habe gelegentlich schreckliche Angst davor, daß es nach dem Tode weitergehen könnte.“ Ein Wort des bekannten Schriftstellers Johannes Mario Simmel. Simmel hat Bücher geschrieben, die bis jetzt in 50 Millionen Exemplaren verbreitet sind. Und dieser Mann hat das Wort gesagt: „Ich habe gelegentlich schreckliche Angst davor, daß es nach dem Tode weitergehen könnte.“

Die Furcht vor dem, was nach dem Tode kommt, ist berechtigt. Denn nach dem Tode kommt das Gericht, das besondere Gericht, im Unterscheid vom allgemeinen, vom Weltgericht, das noch aussteht. Es gibt ein persönliches Gericht über den Einzelmenschen, und dieses Gericht schließt sich unmittelbar an den Augenblick an, wo die Seele den Leib verläßt. In einer irrtumsfreien Weise offenbart Gott dem Menschen seinen religiös-sittlichen Zustand, seine Beziehung zu Gott. In dieser Offenbarung erkennt der Mensch sein ewiges Schicksal. Die Entscheidung über ihn wird nicht mühsam gesucht und gefunden, sondern enthüllt. Diesen Vorgang nennt man das Einzelgericht oder das besondere Gericht.

Die Kirche hat das besondere Gericht in ihren Glaubensentscheidungen ausgesagt, z.B. auf dem Konzil von Lyon im Jahre 1274 und auf dem Konzil von Florenz 1439, vor allem aber in der Konstitution „Benedictus deus“ von Papst Benedikt XII. im Jahre 1336. Mit dieser päpstlichen Entscheidung hat es eine besondere Bewandtnis. Der Vorgänger dieses Papstes, Johannes XXII., hatte nämlich in einer Predigt die Behauptung aufgestellt, die Seelen der Auserwählten würden erst nach der Wiederkunft Christi und nach dem Weltgericht die Gottesschau erlangen. Gegen diese Lehre erhoben sich die Dominikaner und die Franziskaner, und der Papst ließ sich überzeugen und stellte eine Verbesserung seiner falschen Aussage, die er, wie gesagt, gemacht hatte, in einer Predigt in Aussicht. Aber bevor er dazu kam, starb er. Erst sein Nachfolger hat die herkömmliche Lehre der Kirche in der Konstitution „Benedictus deus“ in die Worte gefaßt: „Mit apostolischer Vollmacht bestimmen Wir diesen für immer geltenden Lehrentscheid: Nach allgemeiner Anordnung Gottes waren, sind und werden sein im Himmel die Seelen aller Heiligen, die aus dieser Welt vor dem Leiden unseres Herrn Jesus Christus hinweggegangen sind, und die Seelen der heiligen Apostel, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen und der anderen Gläubigen, die nach Empfang der heiligen Taufe Christi gestorben sind und in denen beim Tod nichts zu reinigen war oder nichts zu reinigen sein wird oder die nach dem Tode gereinigt worden sind, wenn etwas in ihnen war, was zu reinigen war oder in Zukunft sein wird, und die Seelen der Kinder, die durch dieselbe Taufe Christi schon wiedergeboren sind oder die jemals getauft werden, wenn sie nach der Taufe vor dem Gebrauch des freien Willens sterben. Diese also sind, waren und werden sein im Himmel sofort nach ihrem Tode oder nach der Reinigung bei jenen, die einer solchen Reinigung bedurften, und zwar auch vor der Wiedervereinigung mit ihrem Leibe und vor dem allgemeinen Gericht nach der Auffahrung unseres Heilandes Jesus Christus, unseres Herrn, in den Himmel.“

Diese Lehre der Kirche ist auch im römischen Katechismus enthalten. „In dem Augenblick des Hinscheidens kommt die Seele vor Gottes Gericht“, so heißt es dort. Im Glaubensbekenntnis Papst Pauls VI. wird ebenfalls vom besonderen Gericht gesprochen. Diese kirchlichen Lehräußerungen sind nur der Widerhall der Lehre der Heiligen Schrift. Denken wir an das Gleichnis von den Talenten. Da ist die Rede von Männern, die verschiedene Talente bekamen und mit ihnen arbeiten sollten. Wenn der Herr kommt, um Rechenschaft von ihnen zu fordern, werden sie sofort entweder belohnt oder bestraft. Auch im Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus erhält der Böse sofort seine Strafe und der Gute sogleich seinen Lohn. Die Tatsache des besonderen Gerichtes ist also ein Bestandteil des kirchlichen Glaubens. Auch die Kirchenväter haben trotz mancher Unsicherheiten diese Lehre ausgesprochen. Etwa der heilige Cyprian, wenn er sagt, daß die endgültige Wohnung sofort nach dem Tode bestimmt wird.

Das Gericht vollzieht sich durch eine himmlische Erleuchtung. Gott zeigt dem Menschen in untrüglicher Weise seinen religiös-sittlichen Zustand, seine Verbundenheit oder Unverbundenheit mit Gott, und darin ist der Mensch gerichtet. Ja, man kann in gewissem Sinne sagen, der Mensch richtet sich selbst. Er erkennt sich als den, der er in Wahrheit ist. Die Heilige Schrift spricht in Bildern vom Gericht. Sie erwähnt ein Gerichtsbuch, in dem alles eingetragen ist aus Erdentagen. Sie spricht von einer Waage, auf der die guten und bösen Taten des Menschen gewogen werden. Sie spricht vom Richterstuhl, auf dem Jesus Platz nimmt und die Menschen, die gut waren, auf die rechte Seite und diejenigen, die böse waren, auf die linke Seite stellt. Das alles sind Bilder mit Wahrheitsgehalt. Aber sie sind natürlich keine adäquaten Aussagen für das, was sich eigentlich beim Gericht vollzieht, weil das Gericht genauso ein undurchdringliches Geheimnis ist wie Gott selbst; denn Gott ist der Richter. Dann wird also im Menschen alles, was er sich verheimlicht hat, zutage gebracht. Dann werden seine Motive durchforscht, die Antriebe, die Beweggründe, aus denen er gehandelt hat. Jede Einzelheit seines Lebens steht vor ihm, auch das aus allen Einzelheiten zusammengewobene Ganze. Da wird sich der Mensch nichts mehr vormachen, sondern da sieht er sich, wie er wirklich ist, in seiner Gottverbundenheit oder in seiner Gottferne.

Das persönliche Gericht ist die Krönung der Selbstgerichte, die der Mensch im Laufe seines Lebens über sich vollzieht oder auch nicht vollzieht. Während des irdischen Lebens richtet sich der Mensch durch den Spruch seines Gewissens. Das Gewissen soll ja der Herold Gottes sein in der Seele. Je nachdem, ob das Gewissen anklagt oder freispricht, meldet sich Gottes Stimme im Herzen des Menschen, falls der Mensch ein recht gebildetes Gewissen hat, wenn er sich bei der Bildung seines Gewissens an das von Gott aufgestellte Lehramt gehalten hat. Es ist lächerlich und albern, das Gewissen gegen das Lehramt der Kirche ins Feld zu führen, denn dafür ist ja das Lehramt bestellt, daß es die Gewissen informiert; deswegen gibt es ein Lehramt, damit wir wissen können, wie wir gewissenhaft handeln sollen.

Das besondere Gericht ist auch die Krönung jener Selbstgerichte, die wir im Bußsakrament über uns ergehen lassen. Im Bußsakrament richtet sich der Mensch insofern selbst, als er sich anklagen soll, anklagen dessen, was er getan oder unterlassen hat. Gleichzeitig richtet im Bußsakrament der himmlische Vater den Menschen, und zwar durch den Dienst des Priesters. Der Priester nimmt die Rolle des himmlischen Vaters wahr, und der Pönitent, der Büßer, schlüpft in gewisser Hinsicht in die Rolle Christi, über den ja im Tode, im Kreuzestode, ein Gericht ergangen ist. Alle diese Gerichte des Gewissens und des Bußsakramentes sind nur Vorläufer jenes Gerichtes, das sich im Tode über jeden einzelnen vollziehen wird. Der Maßstab dieses besonderen Gerichtes ist die Wahrheit und die Liebe Gottes. Er ist also gleichzeitig objektiv und personal. Die personhafte Wahrheit und Liebe ist der Maßstab des Gerichtes. Das Maß, in dem sich der Mensch während des Erdenlebens dieser Wahrheit und Liebe ausgeliefert hat, entscheidet über sein zukünftiges Schicksal. Wenn er sich der Wahrheit und der Liebe entzogen hat, dann wird er eine kümmerliche und schreckliche Existenzform finden, es ist dies die Hölle. Wenn er sich dagegen der Wahrheit und Liebe ausgeliefert hat, dann wird er in jenen Zustand eingehen, den wir den Himmel nennen.

Die Sicht auf sich selbst ist auch gleichzeitig die Beurteilung seiner selbst. Wenn der Mensch sich selbst erkennt, dann wird er automatisch auch das Urteil über sich selbst sprechen müssen. Er wird von Gott dazu gezwungen, ein Selbstgericht an sich zu vollziehen, und dieses Selbstgericht weist ihm sein zukünftiges Schicksal zu. Dieses Selbstgericht wird augenblicklich vollstreckt. Es wird nicht aufgeschoben, es wird nicht verzögert, sondern dieses Selbstgericht ist von solcher Art, daß sein Vollzug mit seiner Vollstreckung zusammenfällt. Natürlich vollzieht sich diese Vollstreckung zunächst nur an der Seele. Der Leib ist ja im Tode zugrunde gegangen. Und weil der Leib zerfallen ist, ist die Seele jetzt allein existent. Die Existenzweise der Seele ist absolut sicher, auch wenn wir aus der Erfahrung kein Beispiel haben, um sie uns verdeutlichen zu können. Durch ein Eingreifen Gottes vermag die Seele auch ohne den Leib zu existieren, ja ein Leben zu entfalten und sich zu betätigen. Sie vermag ähnlich wie die leibfreien Geister, die immer bei Gott existieren, die Engel, in einer Weise zu existieren, die unserer Erfahrung entzogen ist. Aber an dieser Seele wird das Gericht augenblicklich vollstreckt.

Im Bereich des Protestantismus ist die sogenannte Ganztod-Hypothese entstanden. Es gibt protestantische Theologen – und in der neuen Zeit auch sogenannte katholische –, die sagen: Der ganze Mensch geht im Tode zugrunde. Es bleibt nichts übrig, was lebendig ist, auch keine Seele. Es wird alles im Tode zerstört, und der Mensch lebt nur im Gedächtnis Gottes weiter. Bei der Auferstehung wird dann der Mensch neu geschaffen. Diese Lehre widerspricht der gesamten christlichen Tradition, und sie widerspricht auch der Heiligen Schrift. Wie sagt doch der Herr zu dem Manne, der neben ihm am Kreuze hing: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!“ Heute noch, nicht am jüngsten Tage, nicht bei der Auferstehung der Toten. Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein! Und wie sagt der Apostel Paulus: „Ich wünsche aufgelöst zu werden und mit Christus zu sein.“ Also sogleich nach der Auflösung ist er bei Christus, nicht in unabsehbarer Ferne, sondern jetzt. Jetzt, wenn er aufgelöst wird, kommt er zu Christus. Die Ganztod-Hypothese ist also eine falsche, eine Irrlehre, die wir abweisen müssen, weil sie an das besondere Gericht, wie es Gott uns geoffenbart hat, nicht glaubt.

Dieses Gericht, meine lieben Freunde, wird den Menschen zeigen, wie er in Wirklichkeit ist. Da wird nicht mehr gefragt nach Nutzen oder nach Vorteil. Da wird nicht nach utilitaristischen oder nach ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt. Da wird manches, was uns hier auf Erden belanglos erschien, wichtig werden, und vieles, was uns auf Erden bedeutsam vorkam, wird sich als belanglos erweisen. In diesem Sinne bringt tatsächlich das besondere Gericht eine Umwertung aller Werte. Auf dieses Gericht hin müssen wir leben. Wenn man die Mahnung an die Menschen richtet: Gedenke an den Tod, und du wirst in Ewigkeit nicht sündigen, dann ist damit nicht so sehr der Zerfall des Leibes gemeint oder die Trennung der Seele vom Leib, sondern das auf den Tod folgende besondere Gericht. Denke an das Gericht, und du wirst in Ewigkeit nicht sündigen.

Der Kardinal Mazarin, der erste Minister des französischen Königs Ludwig XIII. und dessen Nachfolgers, lag im Sterben. Er hatte ein reiches, vielleicht ein erfülltes Leben hinter sich. Er hatte seinem König mit Treue gedient, aber freilich auch mit der ganzen Skrupellosigkeit, die ihm eigen war. Im Tode denkt der Mensch häufig anders über seine Taten als im Leben. Und so ist überliefert, daß eine seiner letzten Äußerungen vor seinem Sterben war: „Meine arme Seele, wohin gehst du?“ Ja, meine Christen, meine arme Seele, wohin gehst du? Das muß ein jeder von uns sich in seiner Todesstunde fragen. Du gehst zum Gericht, und vom Gericht entweder in die ewige Erfüllung oder in die ewige Zerrissenheit.

Amen.

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