Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Dezember 2015

Der erste Blutzeuge des Krippenkindes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Botschaft des zweiten Weihnachtstages ist die ernsteste des ganzen Kirchenjahres. Sie ist dem 23. Kapitel des Matthäusevangeliums entnommen. Jesus rechnet darin in einer erschreckenden Weise mit seinen Feinden ab, mit seinen Widersachern: den Schriftgelehrten und Pharisäern. Nicht weniger als acht Mal ruft der Herr ihnen „Wehe. Wehe euch!“ zu. „Blinde Führer und Heuchler“ nennt er sie, „sie sitzen auf dem Stuhl des Moses, sie machen ihre Gebetsriemen breit und ihre Quasten lang, bei den Gastmählern und in den Synagogen nehmen sie die ersten Plätze ein, auf dem Markte lassen sie sich grüßen und von den Leuten Meister nennen.“ Am Schluss steigert der Herr seine Anklage zur Klage und ruft über die Stadt Jerusalem aus: „Jerusalem, Jerusalem, du mordest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich dich sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt, du aber hast nicht gewollt!“ In der Epistel aus der Apostelgeschichte wird uns einer vorgestellt, den sie ermordet haben, nämlich Stephanus, der Diakon der jungen Kirche. Stephanus wirkte voll Kraft und Heiligen Geistes große Wunder und Zeichen inmitten des Volkes. Er ragt unter den sieben Diakonen hervor. Stephanus – wie der Name schon sagt – war ein Diasporajude, also hellenistisch gebildet. Er disputiert mit seinen früheren Gesinnungsgenossen von den verschiedenen Synagogen rund um das Mittelmeer. Der zentrale Punkt der Auseinandersetzung ist, dass Jesus Christus die Offenbarung des Alten Testamentes erfüllt und überboten hat. Die Rede des Stephanus rekapituliert die Geschichte Israels, und zwar dergestalt, dass zwei Dinge heraustreten. Einmal wird der Glaube an den lebendigen Gott akzentuiert, der von Abraham bis zu Moses und von Josue bis zu David ohne Tempelkult und ohne Opfersicherung ausgekommen ist. Und anderseits wird das permanente Schwanken der Volksmasse zwischen Glaubensgehorsam und Götzendienst hervorgehoben. Denn die Anklage der Gegner, die den Stephanus dem Hohen Rat überliefert, lautet auf Gotteslästerung: „Er hat den Tempel (die Stätte Gottes) und die Thora (das Gesetz Gottes) gelästert. Der Mann hat sich gegen die heilige Stätte verfehlt und gegen die heilige Thora. Er hat behauptet, Jesus von Nazareth werde den Tempel zerstören und das Gesetz verwandeln.“ Wenn wir genau hinschauen, dann beobachten wir, dass sich im Prozess des Stephanus der Prozess Jesu wiederholt. In beiden Fällen geht es um die gottverfügte Umwandlung des alten, vergangenen in das neue und immerwährende Testament. Vorgebildet sind beide Prozesse im Schicksal und Geschick der Propheten. Sie haben die wankelmütige Masse des Volkes zu Gott zu führen versucht und sind gescheitert.

Die Rede des Stephanus muss auf die Zuhörer einen gewaltigen Eindruck gemacht haben. Er stellt die junge Christengemeinde als Repräsentantin des wahren Israels dar, als Vollmachtvollstreckerin des Moses und der Propheten. Und da bricht der Tumult los. Als sie dies hörten, wurden sie aufs Äußerste erregt und knirschten mit den Zähnen, schrien mit lauter Stimme, hielten sich die Ohren zu und drangen auf ihn ein. Es kommt also nicht zu dem amtlichen, offiziellen Gerichtsverfahren, das anscheinend beabsichtigt war, nein, es kommt zu einer kurzschlüssigen Erledigung des Falles. „Sie schleppten ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn.“ Aber nicht so sehr die Einzelheiten des Prozesses und seines tödlichen Ausganges werden in der Apostelgeschichte hervorgehoben, sondern mehr die Gestalt und die Haltung des Zeugen. „Stephanus war voll des Heiligen Geistes“, sagt unser Bericht, und die hohen Beamten des Judentums, die dabei waren, sahen sein Gesicht wie das eines Engels an. Er richtet seine Augen zum Himmel empor und erblickt die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen. Der Himmel ist geöffnet. Jesus, der ja sonst zur Rechten Gottes sitzt, hat sich erhoben. Was heißt das? Das heißt, dass der Himmel bereit ist, ihn aufzunehmen, und dass Jesus ihm entgegengeht. „Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn stehen zur Rechten Gottes.“ Und wie es dann allmählich mit ihm zu Ende geht, betet er: „Herr, nimm meinen Geist auf!“ So hatte schon einmal einer gebetet, als er am Kreuze hing: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.“ Der erste Zeuge des weihnachtlichen Geheimnisses verkündet mit erhobener Stimme, dass Jesus, der Verurteilte, der Ausgestoßene im Glorienlicht Gottes steht in der Herrlichkeit des allmächtigen Vaters. Mehr noch, dieser einzige Sohn des himmlischen Vaters ließ sich in die Krippe legen, um die Menschen zurückzureißen vom Abgrund, um sie heimzubringen in Gottes Umarmung. Denn das Gebet des sterbenden Herrn „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ wird ja im Gebet des Nachfolgers wiederholt: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Als er dies gesprochen hatte, entschlief er.

Meine lieben Freunde, gestern feierten wir die zeitliche Geburt unseres ewigen Königs; heute feiern wir das siegreiche Leiden seines tapferen Soldaten. Gestern trat unser König, mit dem Fleisch der Menschen bekleidet, aus dem Schoß der Jungfrau und würdigte sich, die Welt zu besuchen; heute bricht sein Soldat aus dem körperlichen Zelt aus und wandert als Sieger in den Himmel. Jener nahm Fleisch an und trat als Kämpfer in das Schlachtfeld dieser Zeitlichkeit ein; dieser legte das vergängliche Gewand seines Körpers ab und stieg zum Himmel empor in das ewige Leben, in die Seligkeit des Vaters. Jener stieg herab, in Fleisch gehüllt, dieser stieg hinauf, gekrönt mit seinem Blute. Er stieg hinauf unter dem Steinhagel der Juden, jener kam herab unter dem Freudengesang der Engel. „Ehre ist Gott in der Höhe“, so jauchzten gestern die Engel; heute nahmen sie den jubelnden Stephanus in ihre Gemeinschaft auf. Gestern verließ der Herr den Schoß der Jungfrau; heute trat sein Soldat aus dem Kerker des Fleisches aus. Gestern war Christus für uns in Windeln gewickelt; heute wurde Stephanus von ihm mit dem Kleid der Unsterblichkeit bekleidet. Gestern trug die Enge der Krippe das Jesuskind; heute nahm die Unermesslichkeit des Himmels den heiligen Stephanus auf. Das ist die Botschaft des zweiten Weihnachtstages.

Es ist die Erfüllung dessen, was wir gestern im Evangelium der dritten Weihnachtsmesse gehört haben: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinigen nahmen ihn nicht auf.“ Wie seine Botschaft so traf die Erscheinung des heimlichen Königs auf Widerspruch, nicht nur auf die Neutralität der Abseitsstehenden, sondern auf die Leidenschaft der Ärgernisnehmenden. Der weise Simeon hatte es im Tempel vorhergesagt: „Dieser ist gesetzt zum Falle und zur Auferstehung vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird.“ Es ist schrecklich, es ist entsetzlich, dass die verleiblichte Menschenliebe Gottes mehr Ablehnung als Annahme erfährt. Gott hat seinen Sohn doch nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn selig werde. Nun aber wird Gottes Absicht durchkreuzt vom Nein der Menschen. Das ist das Gericht, dass die Menschen die Finsternis mehr lieben als das Licht. „Denn ihre Werke waren böse.“ Ja, so ist es. Der Böse kommt nicht ins Licht, damit nicht seine Werke offenbar werden. „Der Böse hasst das Licht; er kommt nicht ans Licht, damit nicht seine Werke aufgedeckt werden“, sagt Jesus. So ist es, meine lieben Freunde, und ich fürchte, so wird es weitergehen und immer bleiben. Das Heilsangebot Gottes steht, das Licht des Glaubens leuchtet, aber dem Menschen – jedem Menschen! – ist überlassen, ob er das Angebot annimmt oder ob er es unbeachtet lässt. Der Mensch – jeder Mensch! – bereitet sich das Heil oder das Unheil selbst. Stellen wir uns, meine lieben Freunde, an die Seite des Stephanus. Halten wir dem Krippenkind die Treue, lassen wir uns nicht irremachen durch falsche Stimmen. Einer ist unser Meister: Jesus Christus.

Amen.     

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt