23. März 2014
Das fünfte Kreuzeswort
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das fünfte Wort Jesu am Kreuze lautet: „Mich dürstet!“ Dieses Wort wird vom Evangelisten Johannes überliefert. Aber Matthäus und Markus berichten, dass einer der Umstehenden einen Schwamm mit Essig an einen Rohrstab steckte und ihn an die Lippen Jesu führte. Also ergänzen sich die beiden Berichte. Was Matthäus und Markus schreiben, das fordert mit dem Bericht des Essigtrankes das fünfte Kreuzeswort und setzt es voraus. Ohne den Durstruf wäre die Essigtränkung unverständlich. Der Unglaube freilich weigert sich, auch dieses Wort zur Kenntnis zu nehmen. Der evangelische Theologe Hirsch schreibt: „Das Wort ist eine freie Umdeutung des vierten Evangelisten für das vierte Kreuzeswort.“ Der evangelische Theologe Bertram schreibt: „Das Wort ist eine Kultgemeinde-Konstruktion.“ Diese Behauptungen sind ohne jeden Beweis. Das fünfte Kreuzeswort ist genauso geschichtlich wie die übrigen. „Mich dürstet!“ Das Wort ist die Feststellung des persönlichen, physischen, leiblichen Durstes und der Durstqual des Heilands. Da diese Feststellung sinnvoll ist, muss sie die Forderung nach einem Trunk beinhalten. Dieses Kreuzeswort ist das einzige persönliche Wort, die einzige persönliche Klage Jesu am Kreuze. Der physische Durst Jesu muss ganz selten qualvoll gewesen sein. Denken wir, was er alles gelitten hat: Enthaltung von Speise und Trank seit dem Vorabend, Blutschweiß am Ölberg, Blutverlust bei der Geißelung und Dornenkrönung, auf dem Kreuzweg, bei der Kreuzigung, das lange Hängen am Kreuze, die brennende Sonne, die Einwirkung von Fliegen, das Wundfieber. Das waren die Gründe für die enorme Steigerung des Durstes Jesu. Aber einzigartig ist dieses Wort dennoch. Nämlich es wird als Einziges biblisch begründet: „Deshalb sagte er, damit die Schrift erfüllt werde: Mich dürstet!“ Die Erfüllung der Schrift war ja der Sinn des ganzen Lebens Jesu. In der Schrift aber sind Leben, Leiden und Sterben des Messias vorausgesagt. Welche Schriftstellen kommen hier in Frage? Nun, zunächst für den Durst der Psalm 21: „Wie eine Scherbe ist ausgedorrt meine Kraft, die Zunge klebt mir am Gaumen.“ Und für die Tränkung der Psalm 68: „Sie haben mir Galle als Speise gereicht, tränkten im Durst mich mit Essig.“ Die erste Stelle handelt von der Durstqual des Messias, die zweite von seiner Essigtränkung. Beide Psalmen galten als messianisch. Indem Jesus den Durstruf äußert, erfüllt er die eine Weissagung, und indem ein Mann ihm Essig reicht, wird die zweite Weissagung erfüllt. Die Erfüllung der Schrift ist das Hauptmotiv für das Sprechen des fünften Kreuzeswortes. Dieses Wort liefert auch den Beweis, dass der Gekreuzigte „voller“ Mensch war. Sein Durstleiden schließt jede Scheinleiblichkeit und jede Leidensunfähigkeit Jesu aus. „Sogleich lief einer hinzu, nahm einen essiggetränkten Schwamm und hielt ihn an seine Lippen.“ Der Trankspender war, aller Wahrscheinlichkeit nach, ein Soldat.
Nachdem Christus im vierten Kreuzeswort den Notruf zu Gott erhoben hat, ohne eine Erleichterung zu bekommen, ruft er jetzt zu den Menschen: „Mich dürstet!“ So weit ist es mit ihm gekommen. Jetzt verlangt er nicht mehr viel. Jetzt verlangt er keine seelische Gemeinschaft mehr, keine warme Hand mehr, kein teilnehmendes Wort, nur noch: „Mich dürstet!“ In dem Wort an Gott, in dem Notruf zu Gott, da war noch seine Seele, die Stimme seiner Seele zu hören. Aber sie war schon übertönt von der Stimme eines Weltleids, eines Menschheitsleids. In diesem letzten Wort der Not, das er zum Menschen spricht, sagt seine Seele überhaupt nichts mehr. Nur sein Leib, sein armer zermarterter Leib, erhebt noch die Stimme. Für seinen Leib fleht er um eine Erleichterung. Seine Seele verlangt nichts mehr. Wenn es noch eine Steigerung des Leids gab, eine Steigerung des Leids der Verlassenheit, dann war sie hier, wo er so anspruchslos geworden ist, dass er nur noch um einen Tropfen Flüssigkeit fleht. Und siehe, da ward ihm Erfüllung und Erhörung zuteil. Ein Soldat wurde von Mitleid gerührt und tauchte einen Schwamm in den essigsauren Wein und reichte ihm den Schwamm mit einem Stabe, und Jesus netzte seine Lippen mit dem Essigtrank. Es ward ihm eine Hilfe, und es ward Mitleid erregt im Herzen eines Menschen. In dem Herzen eines Mannes, in einem harten Soldatenherzen glühte ein Schimmer der Liebe auf. Sollte nicht das vielleicht der Grund gewesen sein, warum der Vater ihn nicht erhört hat? Warum der Himmel geschwiegen hat? Der Himmel wartet darauf, dass auf der Erde die Liebe erglüht! Dass auf der Erde ein Schimmer von Mitleid erwacht. Denn so will Gott den Menschen helfen: Durch die Menschen will er ihnen helfen, durch liebreiche, hilfreiche Menschen, durch opferwillige, selbstlose Menschen. So will Gott helfen, auf keine andere Weise in der gewohnten Heilsordnung. Das ist wohl der Grund, warum Gott zu so viel Leid immer noch schweigt. Weil immer noch nicht die Liebe wach geworden ist in unseren Herzen, weil wir immer noch nicht einen Schwamm tunken in erquickende Flüssigkeit, um unsere Mitmenschen zu laben; immer noch wartet Gott darauf. Und warum wohl? Können wir denn unsere Mitmenschen erquicken? Können wir denn die Not der Welt aufheben? Wir können doch nur so wenig tun. Was ist denn schon Großes an diesem essigsauren Getränk, das da an die Lippen des Heilandes gelangt? Ist es denn nicht eine ganz kleine, armselige Hilfe? Nun, was können wir selbst tun? Der Heiland scheint ja vorauszusetzen, dass wir nicht viel tun können: „Wer seinem Bruder nur einen Becher frischen Wassers reicht, dem wird der Lohn nicht fehlen.“ Es scheint, dass wir nicht viel mehr tun können, als unseren Brüdern und Schwestern eine kleine Erquickung zu reichen. Und doch wartet Gott darauf, dass wir es tun. Warum? Es ist etwas Großes um diese Liebe, die das tut. Und wenn sie auch nur einen Becher Wasser reicht, wenn sie auch nur einen Schwamm an den Mund eines Sterbenden drückt, es ist etwas Großes, wenn es die Liebe tut. Diese Liebe ist eigentlich die Erlösung der Welt. Denn das ist die größte Not, in der wir sind: nicht die Not der Ungeliebten, nicht die Not der Verstoßenen, nicht die Not der Enterbten, sondern die Not der Lieblosen. Die Menschen, die keine Liebe haben, die sind wahrhaftig in Not. Die Menschheit, die keine Liebe hat, ist verdammt, ist unrettbar. Darum muss alles aufgeboten werden, um die Liebe aufzuwecken in der liebeleeren Menschenseele. Wenn es gelingt, auch nur in einem Plätzchen, in einer Seele, in einem harten Soldatenherzen, in einem rauen Henkerherzen, einen Schimmer von Liebe aufzuwecken, dann kann Gott ruhig zusehen, dass sein eigener Sohn sich zu Tode ruft. Das ist nicht zu teuer erkauft. Es ist der Mühe wert, dass Gottes Sohn in Not kommt, wenn nur in einem Herzen ein Fünklein Liebe erwacht, auch für diesen Menschen selbst, denn so wird er selbst gerettet. Wir hören nichts weiter aus der Heiligen Schrift von diesem Soldaten, aber ich glaube, seine Liebestat hat ihm selbst die Rettung gebracht. Der rechte Schächer, der nur ein Wort zugunsten des Herrn sprach, bekam das Paradies noch in dieser Stunde. Dieser Henker hat mehr getan. Vielleicht unter dem Spott und gegen den Widerstand seiner Kameraden hat er den Sterbenden getränkt. Sollte er nicht auch das Himmelreich bekommen haben? Es war ja schon in seiner Seele ein Anfang des Himmelreiches, es war schon ein Aufblühen Gottes. Ihm ist das Leiden wahrhaftig zur Brücke geworden, auf der Gott zu ihm kam an diesem Karfreitagsabend. So möchten wir denken. Das ist der Weg, der einzige Weg, auf dem das Leid der Erde aufgehoben wird. Dass es hineindringt in die Seelen und dort die Liebe weckt, von der Liebe getragen, von Liebe umfangen wird, von Liebe betreut wird. Dann wird diese Liebe selbst zum Himmelreich. Gott selbst steigt nieder auf der Brücke der Not in die dienende Liebe der Seelen.
Es war ein echter Durst, an dem der Heiland gelitten hat. Aber unter dem physischen Durst verbarg sich auch ein geistiger Durst. Und der heilige Johannes, der ja am Fuße des Kreuzes stand, gibt die Erklärung: „Er sprach, damit die Schrift erfüllt werde.“ Wir haben die Worte der Psalmen, die erfüllt wurden, aber vielleicht auch das andere Wort: „Ich war durstig, und ihr habt mich getränkt.“ Es war also ein Durst, nach dem man dürsten musste, ein Durst nach der Rettung der Seelen. Unsere größten Theologen haben das Wort des Herrn so verstanden. Der hl. Augustinus sagt: „Dieser Durst drückte auch die Sehnsucht Jesu nach Menschen, nach Seelen, nach der Rettung von Menschen aus.“ Der hl. Bernhard deutete den Durst Jesu als „das glühende Verlangen nach dem Heil der Menschen“. Der Hirte suchte immer noch nach den Schafen, auch dann, als er sein Leben für seine Herde dahingab. Mir ist, als hörte ich dies Wort noch heute: „Mich dürstet!“: Ich verlange nach Seelen, welche wahrhaft in meine Nachfolge eintreten, die mein Gesetz in ihr Inneres aufnehmen, die nicht zählen und rechnen, wenn es darum geht, in meinem Dienste Beschwerlichkeiten und Strapazen auf sich zu nehmen. Ich meine, Christus dürstet nach hochgemuten Jugendlichen, die in die Arbeit der Seelen eintreten als Schwestern oder Brüder oder Priester, die hinausgehen in die Savannen Afrikas und in die Wüste Asiens, um die Menschen zum allein wahren König der Erde und der ganzen Welt zu bekehren. Ich meine, Jesus dürstet nach Jugendlichen, die sich in Reinheit und keuscher Zucht ihm weihen, die ihm eine fleckenlose Jugend darbringen. Jesus dürstet nach Männern und Frauen, die ihre Ehe als Bund mit Christus verstehen und aus ihrer Familie eine Zelle des Gottesreiches machen. Jesus dürstet nach Ehepaaren, die der Kirche und ihrem Volke eine zahlreiche Kinderschar schenken. Ja, der Herr dürstet nach großmütigen Seelen, die danach verlangen, Christus als den König des Weltalls, als den Gebieter ihres Lebens und als den Herrn aller Menschen verehrt zu sehen. Er dürstet nach Menschen, die die Kargheit und Dürftigkeit ihres primitiven religiösen Lebens durchbrechen und großzügig in seine Nachfolge eintreten. Christus, so meine ich, dürstet nach Bekennern. Nach Christen, die mit Paulus sprechen: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Gotteskraft für jeden, der glaubt“ und die danach handeln. Christus dürstet nach mutigen Kämpfern. Duckmäuser und Leisetreter haben wir genug in unserer Kirche! Aber an Aposteln und an Zeugen fehlt es. In der Religion gibt es keinen Platz für Personen ohne Rückgrat mit einem Gummischlauch. „Ich kenne deine Werke. Ich weiß, du bist weder kalt noch warm. Weil du aber lau bist, will ich dich ausspucken aus meinem Munde“, so hat der Apokalyptiker Johannes Christus sprechen hören. Die Kohorten des Satans sind heute mit mehr Eifer bei der Ausbreitung des Bösen tätig als viele Kinder Gottes beim Dienst für das Reich Gottes. Einst hat Prometheus, nach der Sage, das Feuer vom Himmel gestohlen; uns hat man das Pfingstfeuer von den Altären gestohlen! Aus Seelsorgern und aus Aposteln sind Bürokraten geworden, die Papiere verfassen und versenden! Christus dürstet nach Priestern. Nach Priestern, die sich das Wort des Apostels Paulus zu eigen machen: „Die Liebe Christi drängt uns.“ „Gern will ich Geld und Gut zum Opfer bringen, ja, mich selbst ganz und gar“, schreibt Paulus an die Korinther, „wenn es um eure Seelen geht.“ Jesus dürstet nach Priestern, die um seinetwillen auf hohe menschliche Erfüllungen verzichten. Er dürstet nach Priestern, die jeden Tag am Opferaltar ihre liebste Leidenschaft schlachten! Vom polnischen Kardinal Wyszynski stammt das Wort: „Die Erde dürstet nach Priesterblut.“ Das will sagen: Solange diese Weltzeit läuft, muss es Martyrer, Blutzeugen geben, und unter diesen dürfen die Diener des Wortes, dürfen die Diener des Opfers, dürfen die Priester nicht fehlen. Jesus dürstet nach Bischöfen, die, gelegen oder ungelegen, die Wahrheit der Welt verkünden, die nicht aus Angst vor den Medien schweigen oder sich dem liberalistischen Trend anpassen! Die die Gebote Gottes umdeuten und verkehren! Jesus dürstet nach denen, die den Glauben verloren haben. Die Stellung des abgefallenen Katholiken ist einmalig. Sein Fall ist so tief, weil er so hoch stand. Er reagiert auf die Kirche entweder mit Hass oder mit Argumenten. In beiden Fällen bezeugt er die Göttlichkeit der Kirche. Sein Hass ist der eitle Versuch zu verachten. Sein Gewissen lässt ihm keine Ruhe, deswegen lässt er auch der Kirche keine Ruhe. Und doch gilt auch für ihn, dass er auf der Suche nach Gott ist, sonst würde er nicht so viel daran denken. Einer dieser Unglücklichen hat seine Not in die Welt hinausgerufen:
„Noch einmal, ehe ich weiterziehe
und meine Blicke vorwärts sende
heb ich vereinsamt meine Hände
zu dir empor, zu dem ich fliehe
dem ich aus tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht,
dass allezeit
mich deine Stimme wieder riefe.
Darauf erglüht tief eingeschrieben
das Wort: Dem unbekannten Gotte.
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
auch bis zur Stunde bin geblieben:
Sein bin ich – und ich fühl die Schlingen,
die mich im Kampf darniederziehen
und mag ich fliehen,
mich doch zu seinem Dienste zwingen.
Ich will dich kennen, Unbekannter,
du tief in meine Seele Greifender,
mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
du Unfassbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.“
Amen.