Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
3. April 2005

Die Offenbarung weitertragen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vor dem Osterfest haben wir uns mit der Offenbarung Gottes beschäftigt. Wir unterschieden seine Offenbarung in eine Werkoffenbarung und eine Wortoffenbarung. Gott offenbart sich durch die Schöpfung. Man kann aus der geschaffenen Welt auf den Schöpfer schließen, und das ist ein zulässiger Schluß. Aber weil die Werkoffenbarung nicht genügt, hat Gott die Wortoffenbarung hinzugefügt. Er hat sich bestimmten Menschen zu bestimmten Zeiten in wechselnder Folge und in wachsender Intensität geoffenbart und ihnen sein Wesen und seinen Willen mitgeteilt. Gott wollte, dass die Offenbarung nicht untergeht; er wollte, dass sie weitergetragen wird, und er hat deswegen seinen Boten den Auftrag gegeben, das, was er ihnen anvertraut hat, zu verkündigen. „Verkünde nur, was ich dich heiße“, sprach er zum Propheten Jeremias. Den Aposteln gab der Herr den Auftrag: „Gehet hin in alle Welt und verkündet allen Geschöpfen das Evangelium!“

Die Botschaft Gottes an die Menschen wurde also zunächst mündlich verkündigt. Das ist sehr wichtig. Das ist sogar entscheidend. Die mündliche Verkündigung ist der schriftlichen Aufzeichnung vorgeordnet. Es gab eine Zeit, in der keine Zeile über Jesus und von Jesus geschrieben war. Jesus selbst konnte schreiben, aber er hat uns nichts Schriftliches hinterlassen. Gott sorgte dafür, dass durch mündliche Überlieferung die Offenbarung weitergetragen wurde, ungemindert und unverfälscht. Wozu hätte er sonst sprechen sollen, wenn er seine Offenbarung nicht behütet hätte? Wozu hätte er uns den Glauben anbefohlen, wenn wir uns nicht auf das verlassen können, was die Verkündiger uns vermitteln? So ist also Gottes Offenbarung zu uns gekommen: wahr und unverfälscht, vollkommen und zuverlässig. Und sie geht weiter von Mund zu Mund. Wir sind alle in gewisser Hinsicht Träger der Tradition, Mitteiler der Überlieferung. Immer wenn wir unseren Glauben bekennen und zumal wenn wir ihn anderen vermitteln wollen, stehen wir in der Traditionsreihe, die von Jesus ausgeht. Einer übermittelt es dem anderen, und alle zusammen leiten den Strom der Offenbarung weiter.

An erster Stelle sind die Eltern verantwortlich, dass der Glaube an die Kinder weitergegeben wird. Gläubige Eltern zeichnen ihren Kindern das Kreuzzeichen auf die Stirn und lehren sie sprechen: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Gläubige Eltern führen die Kinder zum Gottesdienst und zeigen ihnen, wie notwendig es ist, Gott anzubeten. Denn der Mensch verkommt, wenn er nicht anbetet! Gläubige Eltern vermitteln ihren Kindern die ersten Gebete, das Vaterunser und das Ave Maria und schließlich auch das Glaubensbekenntnis. Das alles sind Arten der Verkündigung, der Überlieferung; man nennt es private Weisen der Weitergabe, aber sie sind eigentlich nicht völlig privat, sie sind auch von einem Amt getragen, nämlich vom Amt der Firmung. Da hat Gott dem Einzelnen auferlegt, den Glauben weiterzugeben und anderen zu vermitteln.

Daneben freilich gibt es die hoheitliche Weitergabe des Glaubens durch die Kirche, durch die Hirten der Kirche, durch die Priester und durch die Bischöfe. Ihnen ist es auferlegt, das, was sie empfangen haben, weiterzugeben. Auf dem Grabe eines verstorbenen Bischofs, den Sie alle kennen, auf diesem Grabe stehen die schönen Worte: „Tradidi, quod accepi“ – Ich habe weitergegeben, was ich empfangen habe. Wahrhaftig, Schöneres kann ein Bischof nicht auf seinen Grabstein schreiben lassen: Ich habe weitergegeben, was ich empfangen habe, unverfälscht, ungemindert und ungetrübt.

Die Überlieferung ist also das erste. Sie geht der Heiligen Schrift voran. Ich wehre mich dagegen, wenn mir jemand bei einem religiösen Gegenstand sagt: Ja, wo steht das geschrieben? Es muss nicht geschrieben stehen, es kann auch aus der mündlichen Überlieferung stammen. Denn so sagt das Erste Vatikanische Konzil. Schrift und Überlieferung sind „pari pietatis affectu“ – mit gleicher Verehrung anzunehmen. Pari pietatis affectu. Freilich habe die Apostel und Jünger bald von den Anhängern Jesu die Bitte empfangen, sie möchten doch aufschreiben, was sie von Jesus gesehen und gehört haben, sie möchten doch das Leben und die Lehre und das Wirken Jesu niederlegen, damit es anderen, die nicht mehr unmittelbar Kontakt zu den Augenzeugen haben, vermittelt werden könne. Und so haben die Apostel und ihre Schüler zur Feder gegriffen. Sie haben ihre Schriften verfasst, Matthäus und Johannes, zwei Apostel, je ein Evangelium, Markus und Lukas, zwei Apostelschüler, je ein Evangelium und dann die vielen Briefe und anderen Schriften des Neuen Testamentes. Gott war an dieser Niederlegung der Offenbarung beteiligt. Er hat die Schriftsteller angeregt. Er hat ihnen geholfen, dass sie nichts Falsches schrieben und dass sie nichts anderes schrieben, als was die Wahrheit ist. Wir nennen diese Mitwirkung Gottes Inspiration, d.h. Eingebung. Die Bücher der Heiligen Schrift sind von Gott als dem ersten Verfasser hergestellt. Er lehrte die Jünger, dass sie alles richtig im Geiste erfassen, dass sie es in geeigneter Form ausdrücken und dass sie es getreulich niederschreiben.

Selbstverständlich bedient sich Gott bei der schriftstellerischen Tätigkeit auch der Eigenart des einzelnen Menschen. Deswegen unterscheiden sich die Schriften des Neuen Testamentes. Wir können aus den verschiedenen Schriften auf die Eigenart der Verfasser schließen. So hat etwa Johannes, der Lieblingsjünger, auch der Liebesjünger, die Liebe über alles emporgehoben, weil es der Wille des Herrn so war. Wir kennen die Eigenart des Evangelisten Lukas. Er war Arzt in Antiochien, und so ist in seinem Evangelium immer besonderes Gewicht auf die Kranken, auf die Krankenheilungen gelegt, auch auf die Sünder und ihre Bekehrung. Das ist die Eigenart der heiligen Schriftsteller. Aber kein Evangelium widerspricht dem anderen; kein Evangelium widerspricht einer sicheren Wahrheit. Wie – Gott sei es geklagt – viele Erklärer an die Heilige Schrift herangehen, scheint es ihr Bemühen zu sein, Widersprüche in der Heiligen Schrift aufzuweisen. Diese Widersprüche sind Erzeugnisse ungläubiger Exegeten. Die Heilige Schrift widerspricht sich nicht, und sie widerspricht nicht sicheren Erkenntnissen der menschlichen Vernunft. Denn Gott ist der Ursprung von beiden, von der Offenbarung und von der Erkenntnis durch die Vernunft.

Die Heilige Schrift ist die wertvollste Urkunde der Tradition. Aber sie ist nicht die älteste. Die ältesten Zeugnisse der Tradition sind die mündlichen Überlieferungen, die die Apostel empfangen und weitergegeben haben. Die Urzeugen geben das weiter, was sie gehört und gesehen haben. Aus der mündlichen Überlieferung kommt es unter Inspiration des Heiligen Geistes zum schriftlichen Niederschlag, zur Heiligen Schrift. Aber die Heilige Schrift erschöpft nicht die gesamte Offenbarung und genügt sich auch nicht selbst. Das ist der doppelte Irrtum des Protestantismus, wenn er sagt, die Schrift allein genügt, und die Schrift erklärt sich selbst. Nein, die Schrift allein genügt nicht, und die Schrift erklärt sich nicht selbst. Die mündliche Überlieferung ist nicht nur das Ältere, sie ist auch das funktionell Übergeordnete. Das heißt: Wir wissen nur aus der Überlieferung, was Heilige Schrift ist. Die Bücher sagen ja nicht von sich aus, dass sie Heilige Schrift sind, sondern das sagt uns die Überlieferung. Und die Überlieferung unterscheidet genau zwischen inspirierten Schriften und anderen frommen, aber eben nicht inspirierten Schriften. Die Kirche hat beispielsweise den Brief des Apostels Barnabas nicht in die Heiligen Schriften aufgenommen. Die Kirche hat auch nicht die sieben Briefe des heiligen Ignatius von Antiochien in die Heilige Schrift aufgenommen. Sie sind ehrwürdig, und sie sind uns wichtig, ja sie sind uns unentbehrlich, möchte ich sagen. Aber sie sind kein Teil der Heiligen Schrift. Das heißt: Die Kirche bestimmt den Kanon, das Verzeichnis der heiligen Schriften. Damit zeigt sie die Überordnung, die funktionelle Überordnung der Überlieferung über die Heilige Schrift.

Wir unterscheiden die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Bundes. Insgesamt handelt es sich dabei um 72 Einzelschriften, 45 im Alten Testament und 27 im Neuen Testament. In beiden Gruppen unterscheiden wir Geschichtswerke, Lehrschriften und prophetische Bücher. Im Alten Bunde gibt es 21 Geschichtsbücher, 7 Lehrbücher und 17 prophetische Bücher. Im Neuen Testament unterscheiden wir 5 Geschichtsbücher, nämlich die 4 Evangelien und die Apostelgeschichte, 21 Lehrbücher, das sind die 14 Briefe des Apostels Paulus und die 7 sogenannten katholischen Briefe, und 1 prophetisches Buch, nämlich die Apokalypse. Alle diese Schriften sind mit gleicher Ehrfurcht zu behandeln, denn sie sind vom Heiligen Geist eingegeben. „Durch den Heiligen Geist getrieben, sprachen die heiligen Gottesmänner“, schreibt der Apostel Petrus in seinem zweiten Briefe. Wir müssen also, wenn wir diese Schriften lesen, nicht auf den menschlichen Schreiber, sondern auf Gottes unfehlbares Wort schauen.

Nun sind freilich die Schriften, die die ersten Autoren verfasst haben, nicht im Urmanuskript auf uns gekommen. Die Urmanuskripte sind verloren. Wir haben nicht aus dem 1. oder 2. Jahrhundert Schriften der heiligen Verfasser. Sie wurden also abgeschrieben, und diese Abschreiber haben mit größter Treue die Abschriften vorgenommen. Es sollte kein Wort fehlen, es sollte keines hinzugenommen werden. Was hätte es auch für einen Wert gehabt, wenn Gott zu den Menschen gesprochen hat und dann nicht dafür gesorgt hätte, dass sein Wort irrtumsfrei zu den Menschen kommt. Wir haben etwa 4000 bis 5000, aus verschiedenen Zeitaltern stammende Manuskripte der Heiligen Schrift, auf Pergament oder auf Papier (Papyrus). Immer wieder werden neue gefunden. Der Wüstensand von Ägypten hat uns manchen Schatz aufbewahrt, der dort in Jahrhunderten verborgen war. Auch aus den Schriften der Kirchenschriftsteller können wir manche Texte entnehmen und vor allem aus Übersetzungen. Die Kirche wollte ja, dass die Offenbarung zu allen Völkern kommt. Sie musste also in den Sprachen dieser Völker reden. So hat man die Heilige Schrift übersetzt. Die ursprünglichen Schriften des Neuen Testamentes sind in Griechisch geschrieben. Aber sie wurden dann bald in die Amtssprache der damaligen Zeit übersetzt, ins Lateinische, und vom Lateinischen auch in die Volkssprachen. Wir wissen auch, dass es in Deutschland alte Übersetzungen der Heiligen Schrift gab. Viele von uns haben in der Schule vom „Heliand“ gehört oder selbst gelesen. Als dann die Druckkunst erfunden wurde, hat man die heiligen Schriften auch gedruckt. Johannes Gutenberg, unser Landsmann, hat als erstes großes Buch die Heilige Schrift gedruckt in den Jahren 1453 bis 1456. Wenige Jahre danach wurden auch deutsche Bibeln gedruckt. Bis zum Jahre 1520 gab es 17 deutsche Vollbibeln, 17 deutsche Bibeln, die dem Volke zur Verfügung standen. Es ist also unzutreffend, zu behaupten, Luther habe die Bibel als erster übersetzt. Er hat sie auch übersetzt, mit vielen Fehlern, aber er ist nicht der erste, und seine Übersetzung ist durch den Druck der protestantischen Obrigkeiten für viele Menschen verpflichtend geworden. Es ist auch nicht wahr, dass erst Luther die Bibel „unter der Bank hervorgezogen“ hat, wie man sagt, also für ihre Verbreitung gesorgt hat. Die Bibel war auch schon vor Luther den Menschen vertraut. Freilich konnten damals viele Menschen nicht lesen, und deswegen hatten sie kein Exemplar der Heiligen Schrift, das ja auch sehr teuer war, denn es musste abgeschrieben werden. Die Mönche haben manchmal ihr ganzes Leben damit zugebracht, Bibeln abzuschreiben. Infolgedessen waren die Bibeln sehr kostbar. Sie wurden an die Kette gelegt, damit man sie nicht stahl. Daraus ist der böse Verdacht geworden, die Kirche habe die Bibel an die Kette gelegt. Jawohl, damit sie nicht gestohlen wird, nicht, damit sie nicht unter die Menschen kommt. Gebildete Frauen haben auch im Mittelalter schon in der Bibel gelesen, vor allem im Psalter, und gebildete Bürger besaßen sogar eine eigene Bibel. Freilich konnten diese damals auch lateinisch und haben deswegen die Bibel in lateinischer Sprache gelesen.

Heute ist die Bibel in hunderte, viele hunderte Sprachen übersetzt und ist das meistgelesene Buch auf der ganzen Welt. Sie ist uns lieb und teuer, und ich möchte mit dem großen Regensburger Bischof Sailer sagen: „Leben möchte ich nicht mehr, wenn ich ihn nicht mehr reden hörte.“

Amen.

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