Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. November 2003

Die Seele zwischen Ideal und Wirklichkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Ein jeder hochgemute Geist spürt den Zwiespalt zwischen seinen idealen Vorstellungen und der Wirklichkeit. Je mehr ein Mensch sich der Heiligkeit nähert, oder je größer seine Begabung, ja seine Genialität ist, um so schmerzlicher spürt er diesen Zwiespalt, diese Tragik zwischen der hochgemuten Seelenstimmung und der umgebenden alltäglichen, banalen Wirklichkeit. Nun ist es ohne weiteres klar, daß eine solche Hochstimmung der Seele nicht jahrelang festgehalten werden kann. In jeder Seele gibt es Hochdruckstimmungen und Tiefdruckstimmungen. Ein jeder Mensch pendelt hin und her zwischen hochgemutem Sinn und Niedergeschlagenheit. Es wechseln also die Zustände ab. Dazu kommen noch die Einflüsse der Außenwelt, die auf den Menschen einwirken. Die hohe Stimmung, die Genialität, die Heiligkeit kommt ja zustande durch eine gewisse Einengung, indem man sich eben konzentriert auf bestimmte Bereiche der Wirklichkeit, auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Und eine solche Einengung, eine solche Ausschneidung läßt sich immer nur mühsam und auf kurze Zeit aufrechterhalten. Dann macht sich die übrige Wirklichkeit gebieterisch bemerkbar, also das, was uns täglich anfällt, die körperlichen Befindlichkeiten, die alltäglichen Dinge, die Nahrungsaufnahme, die Wohnung, die Kleidung und vor allem die menschliche Umwelt. Das alles macht sich unweigerlich geltend und wirkt auf die Seele ein und lenkt sie ab von ihrer hochgemuten Innenschau.

So kommt es, daß alle religiösen Gemüter sich beklagen über die Zerstreuung, über die Ernüchterung, über die Erkältung ihres Innenlebens. Es ist bekannt, daß auch die erhabenste Kommunionstsimmung, die glühendste Dankesgesinnung nach dem Empfang des Herrn bei Austritt aus dem Gotteshaus zertrümmert werden kann durch einen vergessenen Hausschlüssel oder ein verspätetes Frühstück.

Noch stärker ist die Ablenkung und die Enttäuschung, wenn der religiöse Mensch versucht, sein inneres  Leben in die Außenwelt zu tragen, wenn er es darauf anlegt, die Entschlüsse, die er in seinem Inneren gefaßt hat, in die Praxis und in die Lebensform überzuführen. Er erkennt sehr rasch, daß es bei dem Heraustreten der Innenwelt in die Außenwelt einer gewissen Anpassung und Umgestaltung bedarf, einer Erweiterung oder Dämpfung oder Milderung des Ideals. Das ist ja die Tragik,  meine lieben Freunde, das ist ja die Tragik aller Ideale, daß sie stets bei dem Versuch, sie zu verwirklichen, sich beträchtliche Abstriche gefallen lassen müssen. Sie werden aus ihrer Folgerichtigkeit abgelenkt, und das ist natürlich das große Leid eines Menschen, der solche Ideale in sich birgt. Er kann sich im äußeren Leben nicht so unbedingt und so radikal geben, wie seine innere Gesinnung es verlangt.

Wir haben die Beispiele der Heiligen vor uns. Der heilige Franz von Assisi versuchte die Ideale des Evangeliums buchstäblich zu erfüllen. Er meinte, daß die Anweisungen des Evangeliums so einfach und so klar und so einleuchtend seien, daß man sie in buchstäblicher Treue in die Wirklichkeit überführen könne. Aber die Menschen, auch die Menschen in der Kirche, die kirchlichen Oberen wollten das nicht dulden, und es ging ja auch wirklich nicht. Nichts besitzen, nur von Almosen leben, niemals mehr haben und behalten als der armseligste Bettler, auf alle äußeren Hilfsmittel und Sicherungen wie Wohnung, Kleidung und Nahrung verzichten, sich auch des geistigen Lebens, also der Bücher und der Veranstaltungen zu lernen entschlagen – das war praktisch unmöglich. Und so mußte auch Franziskus Anpassungen vornehmen, Zugeständnisse machen. Er mußte zusehen, wie Antonius studierte und ein Gelehrter wurde, und er selbst hat auch Konzessionen machen müssen. Er hat seinen Brüdern beispielsweise verboten, Empfehlungsschreiben von den Bischöfen entgegenzunehmen. Aber er selbst besaß ein Empfehlungsschreiben vom Sultan, das ihn bei den Muslimen empfehlen sollte, und er zeigte es vor und dazu das silberne Horn, das ihm der Sultan geschenkt hatte.

Der wichtigste Teil der Außenwelt ist das soziale Umfeld, also das sind die Menschen, unter denen wir leben, und die haben ihre eigenen Gesetze und Formen und Notwendigkeiten. Niemals kann der Mensch eines hochgestimmten Ideals seine Visionen ungetrübt den anderen Menschen aufprägen und übertragen. Er wird immer in Gegensatz zu den gesellschaftlichen Formen geraten und vielleicht versuchen, sie zu ändern, sie umzugestalten, sie anzugreifen. Aber ein jeder hat bisher erkennen müssen, daß er sich für lange Zeit, oft für immer an Einrichtungen halten mußte, die er innerlich verurteilte, unter denen seine Seele litt und die er vielleicht für schlecht und gottwidrig hielt. So hat auch unser Herr und Heiland Jesus Christus unter den sozialen Zuständen seiner Zeit gelitten, unter der Zerrissenheit des jüdischen Volkes, unter der Herrschaft der römischen Gewalthaber, unter den Leiden der Frauen und Kinder, unter der Heuchelei der Pharisäer. Und doch hat er nach außen keinen Schritt getan, um diese Weltzustände umzustürzen.  Er hat die Gesinnungen ändern wollen und über den Weg der Gesinnungen auch die Zustände. Alle übereifrigen Reformversuche, alle leidenschaftlichen Versuche, die Umstände zu ändern, führen in die Irre. Das hat es zur Zeit der Armutsbewegung des heiligen Franz auch schon gegeben. Andere neben ihm versuchten, die Armut zu leben, aber sie glitten ab in die Häresie, die Albigenser und die Waldenser. Sie verwarfen die Ehe, sie verurteilten den Eid, sie empörten sich gegen die Obrigkeit, die harte, gewiß auch ungerechte Obrigkeit. Aber all das war nicht der Weg, den der heilige Franziskus ging. Er mußte lernen, daß man hochgespannte Ideale nicht ohne demütige Anpassung an die Wirklichkeit und nicht ohne kluge Überleitung in die Wirklichkeit überführen kann. Selbst seine Armen, seine Gefolgsleute, haben erfahren müssen, daß das arme Volk einen harten Rechtszustand einem anarchischen Liebeswillen vorzieht. Selbst ein grausamer Rechtszustand ist besser als ein völlig anarchischer Liebeswille, der sich an keine Regeln hält. Und so ergibt sich mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes, daß ein ganz lauterer und gerader Wille nur im Innenleben seine Heimat haben kann. Nur die innerste Gesinnung, die kann dem Ideal nachleben. In der Gesinnung darf man das Ideal, soll man das Ideal rein und ungetrübt verwirklichen. Sobald es in die Außenwelt tritt, muß es sich an die Erfordernisse der Außenwelt anpassen.

Da könnte einer sagen: Ja, aber hat nicht der Herr seinen Jüngern bei der Aussendung gesagt, sie sollten keine zwei Röcke mitnehmen, keine Tasche und nicht einmal einen Stab? Ja, wie sollten sie dann ihre Sendung vollziehen? Ich bin überzeugt, daß man diese Worte nicht wörtlich, nicht buchstäblich verstehen darf. Der Herr wollte, daß sie ihre Sendung anträten in völliger innerer Losgelöstheit, daß sie sich nicht auf Besitz und auf irgendwelche irdischen Hilfsmittel versteifen sollten. So, meine ich, ist diese Anweisung des Herrn gemeint. Sie drückt die reine Selbstlosigkeit aus, in der die Jünger ihren Dienst versehen sollten. Ganz reife Geister haben auch immer verstanden, daß nicht in der radikalen Verwirklichung des Ideals die Lösung liegt, sondern in der weisen Anpassung, daß das Zeichen eines wirklich erleuchteten Geistes darin gelegen ist, daß er zur rechten Zeit Ausnahmen – und das heißt Anpassungen – vornehmen kann.

Auch die Psychiatrie zeigt uns, daß die buchstäbliche, die peinliche, sklavische Gewissenhaftigkeit, die jedes Gesetz und jede Regel erfüllen will, daß diese sklavische Gewissenhaftigkeit, der es an geistiger Elastizität gebricht, dazu führt, daß solche Menschen kleinlich und eng werden, daß sie auf Winzigkeiten bestehen und beharren, ja daß sie sogar böse und unduldsam werden, eben aus dieser pharisäerhaften, sklavischen Festhaftung an dem Buchstaben des Gesetzes. In der weisen und redlichen Anpassung liegt die größere Heiligkeit als in der brutalen und radikalen Durchsetzung des Prinzips. Nicht im Radikalismus des Prinzips zeigt sich die Bewährung der Heiligen, sondern im Radikalismus des liebenden und von der Liebe getragenen Selbstverzichtes.

Eine zweite unerschöpfliche Quelle des Mißverstehens, der Tragik, des Leidens eröffnet sich für Menschen hoher Ideale, wenn sie mit anderen Menschen, die ebenfalls hochgesinnt sind, zusammentreffen. Auch wenn gesinnungsgleiche oder gesinnungsähnliche Menschen sich begegnen, gibt es Leid und Kampf. Denn ihre Ideale erfahren dann eine Kränkung, eine Krümmung. Im Leben des heiligen Franz sind sich einmal zwei Heilige begegnet, nämlich Dominikus und Franziskus, und sie mußten erkennen, daß sie nicht zusammenfinden konnten. Sie mußten begreifen, daß sie getrennte Wege gehen mußten. Sie hatten verschiedene Ideale und verschiedene Wege zu diesen Idealen, und es zeigt ihre geistige Freiheit, daß sie auseinandergingen, daß sie eine je eigene Vorstellung von dem Leben in Armut und Christusnachfolge hatten. Aber auch Franziskus und seine eigenen Brüder haben sich nicht in jeder Hinsicht und immer und vollkommen verstanden. Es gab nur ganz wenige, die ihm bis ins Letzte treu sein wollten und vielleicht auch treu waren; viele andere konnten nicht mit ihm gehen, wenn er ganz tief in Gott hingegeben war. Und er selbst hat es begriffen. Er hat sich von ihnen zurückgezogen, er ist vor ihnen geflohen, weil er nicht den Mut hatte, sie anzugreifen.

Jede Innerlichkeit ist eben etwas Einmaliges, und sie läßt sich nicht auf einen anderen übertragen. Wegen dieser Einmaligkeit hat die Innerlichkeit auch ihre Perioden, ihr Auf- und Abwogen. Und deswegen gibt es Stunden, in denen selbst die Heiligen sich nicht verstehen. Auch unter Heiligen gibt es Konflikte. Und nicht nur das Innere der Menschen ist ja verschieden, sondern auch das Äußere. Wie einer spricht, wie einer geht, wie einer lacht, wie einer weint, wie er einen Stuhl rückt oder eine Tür zumacht, das sind lauter Quellen des Auseinanderstrebens. Das sind lauter Anlässe der gegenseitigen Entfernung und Entfremdung.

Das innere Gesetz der Liebe mag genügen, um Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenzufügen. Aber es genügt nicht, um daraus einen geschlossenen Verband zu machen. Dazu ist eine Regel notwendig, die das äußere Verhalten dieser seelisch verbundenen Menschen aufeinander abstimmt. Es bedarf der Ordnung, der Satzungen, der Übereinkünfte, es bedarf der Organisation. Selbst die Ehe,  meine lieben Freunde, die an sich von Liebe erfüllte und ungetrübte Gemeinschaft, bedarf zu ihrer praktischen Auswirkung und zu ihrem dauernden Bestand gewisser gegenseitiger Abmachungen, an die sich beide Teile halten. Kein Teil darf rücksichtslos den Eingebungen des eigenen Herzens folgen.

Franziskus, der Heilige von Assisi, hat versucht, eine solche Regel zu geben. Er hat sie mehrfach zu geben versucht, und seine Versuche sind immer gescheitert. Was er von sich gab, das waren ekstatische Ergüsse, aber es waren keine Normen, es war keine auf Organisation und Ordnung bedachte Regel. In seinem Orden freilich fanden sich die Männer, die fähig waren, dem Orden eine Regel zu geben. Aber Franziskus selbst war dazu unfähig, und seine Brüder klagten darüber, daß seine Regeln unbrauchbar seien. Sie haben sie zum Schluß gar nicht mehr gelesen.

Es muß also der hochgespannte Idealismus auch in harte und nüchterne Normen gefaßt werden. Die gotterfüllte Innerlichkeit kann sich nicht ohne weiteres in die Wirklichkeit umsetzen, in das äußere Verhalten. Die ungeminderte Auswirkung des Inneren würde zerstörend wirken. Und es bedarf deswegen der Normen, die das geregelte Zusammenleben der Gemeinschaft binden. Nur auf dem Wege der Normativität kann eine Gemeinschaft zur Genossenschaft werden. Es braucht einen Zweck, und es braucht eine Organisation, um die Gemeinschaft dauerhaft leben zu lassen. Diese äußeren Formen, diese äußeren Forderungen sind ja auch nicht nur hemmend. Auch das Genie bedarf ihrer. Das Genie wird durch diese äußere Wirklichkeit nicht bloß gehemmt, sondern auch gefördert. Ja, die äußere Ordnung ist so notwendig, daß in einem völlig anarchischen Bereich, in einer völlig anarchischen Welt auch das Genie keinen Platz, keine Möglichkeit der Entfaltung finden würde. Das ist auch der Grund dafür, weshalb die Kirche eine Rechtskirche sein muß. In dieser Rechtskirche kann sich das religiöse Leben entfalten, aber es wird gleichzeitig vor Formlosigkeit und Zuchtlosigkeit bewahrt. Wenn es heute Kräfte, Gruppierungen, Persönlichkeiten in der Kirche gibt, welche das Recht der Kirche und das Rechtsleben der Kirche beklagen, dann kann ich nur mit meinem Kollegen, meinem verstorbenen Kollegen Keßler in Münster sagen, der auf den Vorwurf, die Kirche sei ja eine Rechtskirche, geantwortet hat: „Ja, wäre sie es nur!“ Er hat es nicht bedauert, daß die Kirche eine Rechtskirche ist, er hat es heiß ersehnt. Denn zu oft hat er beobachten, daß das Recht mit Füßen getreten wird. Allenthalben treffen Sie diese Exzesse, diese Auswüchse, die sich vom Recht befreien wollen und dadurch zur Verwirrung führen. Selbst in der nordischen Diaspora kommen solche Fälle vor. In dem jüngsten Heft des Ansgarius-Werkes, das sich ja die Sorge um die nordische Diaspora zum Ziel gesetzt hat, wird berichtet von einem Pfarrer, der jahrelang völlig willkürlich den Gottesdienst gestaltete, bis endlich, endlich der Bischof eingriff und ihn abberief.

Nein,  meine lieben Freunde, hochgemutes Innenleben darf unangetastet bleiben. Aber sobald es nach außen tritt, muß es sich damit abfinden, daß es in Regeln gefaßt wird und daß diese Regeln unverbrüchlich gelten müssen, damit die Gemeinschaft auch zu einer Gesellschaft wird, damit aus dem gemeinsamen Geist auch ein gemeinsames Tun erwachsen kann. Gewiß, es werden immer Spannungen, vielleicht sogar unlösbare Spannungen zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen Körper und Geist, zwischen Einzelmensch und Gesellschaft, zwischen Wollen und Tun, zwischen Gedanken und Wirklichkeit bleiben. Und es sind gerade die großen Menschen, die genialen, die schöpferischen, die heiligen Menschen, die unter diesem Zwiespalt leiden. Jeder Mensch, der die Stigmata Jesu Christi in seiner Seele trägt, bekommt auch wunde Hände und wunde Füße, wenn er irdischen Boden betreten und irdische Dinge anrühren muß.

Amen.

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